Die Psychiatrie hat sich in Fehlentwicklungen einspannen lassen und die emotionalen Ansprüche der Öffentlichkeit ausgiebig bedient. Dies zeigt sich etwa in den zahlreichen Medienauftritten von Psychiatern und Psychiaterinnen, die als Experten zu laufenden Verfahren ferndiagnostisch und mit voreiligen kriminalpsychologischen Analysen und Deutungen Stellung nehmen, anstatt auf die bevorstehenden oder laufenden gründlichen Abklärungen zu verweisen. Ein Psychiater sollte aber nie oder nur mit grösster Zurückhaltung in der Öffentlichkeit Aussagen machen. Entweder kennt er die Details nicht, dann ist er nicht kompetent genug. Oder er kennt alle Details, dann ist er an das Berufsgeheimnis gebunden.
Die forensische Psychiatrie hat ebenso wie die Rechtsprechung den Willen einer demokratischen Öffentlichkeit zu respektieren. Das entbindet sie aber nicht von der Pflicht, sich an die Gebote von Sachgerechtigkeit und an die Maximen der Ethik zu halten. Nach meiner Beobachtung und Erfahrung hat die forensische Psychiatrie im letzten Vierteljahrhundert wissenschaftliche und ethische Maximen zunehmend verletzt. Die konkreten Missstände:
Persönlichkeitsschutz und Berufsgeheimnis werden nicht mehr oder nur ungenügend eingehalten. Deren Missachtung wurde zum Teil institutionalisiert und gehört zum courant normal.
Die Einbindung der Psychiatrie in die Führungsstrukturen des Straf- und Massnahmenvollzugs hebt die Unabhängigkeit der psychiatrisch-ärztlichen Tätigkeit auf. Diese enge Zusammenarbeit ist die Grundlage für die häufige Missachtung des Persönlichkeitsschutzes und des Arztgeheimnisses.
Die nötige Trennung zwischen forensisch-urteilender und psychotherapeutischer Tätigkeit wird nicht eingehalten. Das führt dazu, dass der Therapeut über Freiheit und Freiheitsentzug massgeblich und eigenmächtig mitbestimmt. Die Art und Dauer von Massnahmen wird durch ihn statt durch das Gericht bestimmt.
Nach meiner Beobachtung werden in Schweizer Strafanstalten Massnahmepatienten in psychiatrieethisch inakzeptabler Weise drangsaliert, bedroht, herabgewürdigt und in ihrer Integrität verletzt. Es herrscht ein sektiererisch-repressives Angst- und Drohklima.
Die Qualität der Prognoseinstrumente wird massiv überschätzt. Es wird eine Exaktheit und Treffsicherheit vorgetäuscht, die unrealistisch ist. Diese Instrumente sind bei der routinierten flächendeckenden Anwendung auch rechtsstaatlich fragwürdig, weil die Dauer des Freiheitsentzugs nicht nach dem persönlichen Verschulden des Täters, sondern nach einer statistisch ermittelten Gefährlichkeitsziffer bemessen wird. Der verurteilte Delinquent wird nicht für seine Tat, sondern für seine Persönlichkeit weggesperrt. Das Prinzip der individualpräventiven Wirkung der Strafe und des dem Verschulden angemessenen Strafmasses wird ausgehebelt.
Auf die beiden wichtigsten Kritikpunkte gehe ich im Folgenden ausführlicher ein, nämlich erstens auf die Prognoseinstrumente und zweitens auf die psychotherapeutischen Massnahmen.
Zuerst zu den Prognoseinstrumenten: Die Zuständigkeit der Psychiatrie im Rahmen eines juristischen Verfahrens sollte sich auf die Erläuterung und Beurteilung psychiatrischer Krankheiten respektive psychischer Störungen beziehen und beschränken. Es handelt sich um Störungen wie Schizophrenie, manisch-depressives Kranksein (auch Affektpsychosen genannt), hirnorganische Krankheiten, Intelligenzschwäche, Suchtkrankheiten, Neurosen (wie Zwangsneurose, Hysterie etc.) und schwere Persönlichkeitsstörungen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Psychiatrie mit Billigung der Justiz und Politik zu Übergriffen in den Zuständigkeitsbereich der Rechtsprechung hinreissen lassen, indem sie ausgiebig Kriminalistik betrieb, also nicht mehr Krankheiten untersuchte, sondern die Verbrecherpersönlichkeit als solche. Die Prognoseinstrumente, die sie entwickelt hat (etwa das Forensisch operationalisierte Therapie- und Risiko-Evaluations-System, kurz Fotress, VRAG und einige andere), sind nicht dazu da, Krankheitsverläufe vorauszusagen, sondern die Deliktneigung ganz allgemein. Dies aufgrund von Daten über Biografie, soziale Verhältnisse, Verhaltensmerkmale etc.
Es ist nichts dagegen einzuwenden, ja wünschenswert, dass statistische Untersuchungen allgemeine Informationen liefern über Verläufe von deliquentem Verhalten und auch prädiktive Faktoren ermitteln. Es ist aber nicht zulässig, diese an Kollektiven erhobenen Befunde im Sinne eines Tests auf eine Einzelperson anzuwenden und für deren Rückfallwahrscheinlichkeit einen exakten Prozentwert bis zu zwei Stellen nach dem Komma zu berechnen – wie dies heute zur Gewohnheit geworden ist. Dies ist etwa so absurd und abwegig, wie wenn man aufgrund von Maturanoten, Sozialstatus der Eltern, Anzahl Tore im Fussball und Handball pro Jahr, Alter beim ersten Geschlechtsverkehr und Konfessionszugehörigkeit das mutmassliche Einkommen im Alter von 40, 50 oder von 60 Jahren prognostizieren würde. Oder so absurd wie die Aussage: Wenn ein Mensch einen Schweizer Pass hat, weniger als 1,60 Meter gross ist, mehr als 2 Liter Bier pro Tag trinkt, katholisch ist und eine überdurchschnittlich laute Stimme hat, ist er mit 85,25 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Appenzell-Innerrhoder.
Der Violence Risk Appraisal Guide zur Einschätzung des Gewaltrisikos (abgekürzt VRAG) enthält, um hier ein Beispiel anzuführen, nur zwölf Punkte, in denen unter anderem nach Ärger in der Schule (keiner/wenig/viel), Anwesenheit der Eltern im Kindesalter (ja/nein), Zustand des Opfers (tot/im Krankenhaus/aus der Behandlung entlassen/unverwundet) gefragt wird. Dies ist ein sehr oberflächlicher Raster.
Das British Medical Journal publizierte eine umfassende Metaanalyse, welche den häufig angewendeten kriminalprognostischen Instrumenten nur eine minimale Aussagekraft attestiert. Das internationale Forscherteam um den forensischen Psychiater Seena Fazel der Universität von Oxford analysierte Daten aus 68 Studien, in denen die Aussagekraft von neun der regelmässig verwendeten Prognoseinstrumente untersucht worden war. An den Studien hatten rund 25 000 Leute aus zwölf europäischen Ländern und den USA partizipiert. Im durchschnittlichen Beobachtungszeitraum von 50 Monaten wurden 5879 der Studienteilnehmer wieder rückfällig. Beim Vergleich mit den ursprünglich erstellten Risikoprognosen ergaben sich nur mittelmässige Trefferraten. Vor allem fiel der hohe Anteil von ungünstigen Prognosen auf. Nur 41 Prozent der Gewalttäter, denen ein mittleres bis hohes Risiko zugeschrieben worden war, wurden rückfällig – und nur 23 Prozent der Sexualstraftäter.
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Prognoseinstrumente den Anspruch auf objektive Aussagen von vornherein nicht erfüllen, weil die Punktezuteilung nach einer subjektiven Einschätzung des Gutachters erfolgt. Bei den Scores handelt es sich meistens um Fragebogen mit einer Punkteskala. Bei der weltweit verwendeten Psychopathie-Checkliste nach Hare wird eine Person anhand von 20 Merkmalen wie etwa «übersteigertes Selbstwertgefühl», «pathologisches Lügen» oder «oberflächlicher Charme» hin abgeklopft. Wer mehr als 30 Punkte erreicht, wird als Psychopath diagnostiziert. Die Bewertungen sind aber meistens nicht transparent, unterliegen einer erheblichen Willkür und sind für die rechtsanwendende Instanz nicht überprüfbar. Gemäss Urteil 6B_424/2015 des Bundesgerichtes vom 4. Dezember 2015 hat der Sachverständige im Gutachten darzulegen, von welcher Begriffsbestimmung er bezüglich eines Merkmals ausgeht, an welchen Sachverhalt er im beurteilten Einzelfall konkret anknüpft und weshalb er das zu beurteilende Item wie bewertet. Nur unter diesen Voraussetzungen sind die Anwendung und das Ergebnis eines Prognoseinstrumentes als Teil der Risikoeinschätzung nachvollzieh- und überprüfbar.
Beim in der Schweiz gebräuchlichen Fotres wird der Anschein wissenschaftlicher Redlichkeit dadurch erweckt, dass die Aussagekraft des Instruments durch neuere in die Studie einbezogene Fälle immer wieder abgeändert wurde. Doch gerade diese Methode der nachträglichen Korrektur der Basis der Untersuchung mindert deren Qualität und die des Tests, weil bei einer Langzeit-Verlaufsstudie die Ausgangspopulation nicht mehr abgeändert werden darf.
Die Befürworter von auf Algorithmen beruhender Beurteilung entgegnen kritischen Einwänden, dass diese Beurteilung nur als Vorabklärung für eine individuelle Einschätzung zu verwenden sei. Die Gefahr, dass sie eine hohe Treffsicherheit suggerieren und dass wesentliche prognoserelevante Faktoren aus dem lebensnahen Alltag unterbewertet werden, bleibt aber bestehen.
Die digitale Verbrechensprognose bewirkt auch eine persönlichkeitsverletzende Entpersonifizierung des Beurteilten, dem kein Zentrum eigener Willensbildung und Verantwortlichkeit zugebilligt wird. Das eigenverantwortliche Individuum wird durch ein quantifizierendes Risiko-Datenprofil ersetzt. Kategorisierung und Typisierung bewirken eine Entmündigung, die dem Täter das Gefühl verleiht, für sein Tun keine Verantwortung zu tragen. Das übersteigerte Sicherheitsverlangen der Gesellschaft ruft Methoden auf den Plan, die zu einer Entmenschlichung der Verbrechensbekämpfung führen. Hirnforschung und Genforschung bieten neue Techniken an, um kriminelle Neigungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu durchleuchten.
Die algorithmischen Prognosebestimmungen sind ebenso mit Fehlern und Unsicherheit behaftet wie klinische und intuitive Methoden. Es besteht die Gefahr, zur Überzeugung zu gelangen, dass die Wissenschaft mit Hilfe von Big Data, künstlicher Intelligenz und hochkomplexen, für den Normalbürger nicht mehr verständlichen Algorithmen die einzige wirkliche Wahrheit verkündet.
Das übersteigerte Sicherheitsdenken und die Angst der Psychiater und Richter, für prognostische Fehlbeurteilungen zur Rechenschaft gezogen zu werden, trüben das Bewusstsein dafür, dass die Überprüfung nur in eine Richtung erfolgen kann. Während der Rückfall eines aufgrund günstiger Prognoseeinschätzung entlassenen Häftlings erkennbar ist, ist die Nichtrückfälligkeit eines aufgrund ungünstiger Prognose Dauerinhaftierten nicht überprüfbar.
Ein rigoroses Eliminations- und Entsorgungsverfahren aufgrund von Anzeichen einer möglichen zukünftigen schädlichen Wirkung wird bei belanglosen Dingen oder Lebewesen, denen ein geringes Recht auf Würde oder eine geringe Empfindlichkeit und damit kein Schutzanspruch zugesprochen wird, wie Pflanzen und Tiere, als ethisch mehr oder weniger unbedenklich eingestuft und geduldet – wie etwa beim Pilzesammeln, wo im Zweifel auch der gesunde Pilz auf den Abfallhaufen fliegt. Wo aber das Gut der Freiheit auf dem Spiel steht, wie im Strafrecht, ist eine höhere Umsicht geboten. Und bei jeder freiheitseinschränkenden Massnahme ist die Verhältnismässigkeit zu wahren. Die Aufgabe des Rechtsstaats ist es, Täter, Opfer und Bürger vor ungerechtfertigten Strafen zu schützen – und vor allem auch sich selber vor einer Erosion und Verluderung zu schützen. Der Preis dafür ist das Restrisiko, das man nicht umgehen kann.
Zweitens zu den therapeutische Massnahmen: Die Verhärtung der Rechtsprechung hat zu einer Erosion über Jahre gewachsener psychotherapeutischer Kultur und Ethik geführt, die buchstäblich über Bord geworfen wurden. Ich spreche hier wohlverstanden nicht von der Psychiatrie, sondern von der Psychotherapie. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Psychiatrie auch ordnungspolitische Funktionen übernehmen muss, was ja im Institut der fürsorgerischen Unterbringung respektive des Erwachsenenschutzrechts realisiert ist. Im Bestreben, den Sicherheitserwartungen einer der Nulltoleranz huldigenden Öffentlichkeit entgegenzukommen, haben forensische Psychiater und Psychologen eine ordnungspolitische Psychotherapie installiert. Sie haben quasi die Aufgabe übernommen, die ihr anvertrauten Delinquenten deliktfrei zu machen.
Die Psychotherapie hat im Strafvollzug nach meinen persönlichen Beobachtungen persönlichkeitsverletzende, repressive, sadistische, damit insgesamt totalitäre Züge angenommen. Es ist eine jedermann bekannte und für jedermann nachvollziehbare Tatsache, dass eine Psychotherapie, in der das Gefühlsleben aufgearbeitet und intime Themen, auch scham- und schuldbesetzte, besprochen werden, nur in einem Klima des Vertrauens und des Verständnisses erfolgen kann, in dem auch das Berufsgeheimnis voll gewahrt ist. Sie hat ferner bei einem vom Patienten respektierten und ihm genehmen Therapeuten zu erfolgen und auch nach einer Methode, die ihm zuspricht. Ebenfalls soll sie auf freiwilliger Basis und ohne Androhung von negativen, strafverschärfenden Konsequenzen durchgeführt werden.
Eine Nötigung zu einer Behandlung, die den Delinquenten in einem psychotherapeutischen Gemurkse zur Deliktfreiheit zurechtbiegen will, ist nicht statthaft. Die Psychotherapie darf also keinen Strafcharakter haben und nicht eine vom Behandelten als seelische Folter erlebte Massnahme sein. Die Anordnung einer sogenannt kleinen Verwahrung gegen den Willen des Angeklagten, die heute schon fast routinemässig praktiziert wird, ist nichts als eine seelische Misshandlung. Und in Einzelfällen vielleicht sogar das grössere Verbrechen als jenes, das der Delinquent begangen hat.
Die Zentrale Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMV) hat Empfehlungen zur verbesserten Umsetzung der ethischen Prinzipien im Straf- und Massnahmenvollzug formuliert:
Erstens eine Gleichwertigkeit der medizinischen Versorgung: Inhaftierte Personen haben Anrecht auf eine Behandlung, die medizinisch jener der Allgemeinbevölkerung gleichwertig ist (SAMW-Richtlinien Ziff. 5).
Gestützt auf das Prinzip der gleichwertigen Behandlung (Äquivalenzprinzip), das im nationalen Recht wie auch in internationalen Richtlinien und Empfehlungen verankert ist, stehen inhaftierten Personen dieselben Rechte zu wie jedem anderen Patienten. Sie haben Anrecht auf präventive, diagnostische, therapeutische oder pflegerische Massnahmen, die dem medizinischen Standard entsprechen. Das Recht auf eine gleichwertige medizinische Versorgung beschränkt sich jedoch nicht auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung und deren Umfang, sondern beinhaltet auch einen Anspruch auf Beachtung der Patientenrechte, wie etwa das Recht auf Selbstbestimmung und Information sowie den Anspruch auf Wahrung der Vertraulichkeit.
Zweitens die Gewährleistung der Unabhängigkeit: Unabhängig von den Anstellungsverhältnissen muss sich der Arzt gegenüber den polizeilichen oder den Strafvollzugsbehörden stets auf volle Unabhängigkeit berufen können. Seine klinischen Entscheidungen sowie alle anderen Einschätzungen des Gesundheitszustandes von inhaftierten Personen stützen sich ausschliesslich auf rein medizinische Kriterien. Um die Unabhängigkeit der Ärzte zu wahren, muss jegliche hierarchische Abhängigkeit oder sogar direkte vertragliche Beziehung zwischen den Letzteren und der Leitung der Anstalt vermieden werden (SAMW-Richtlinien, Ziff. 12).
Ein Gefängnis ist eine repressive Einrichtung. Psychotherapie darf aber nie repressiv sein. Sie darf nur eine Hilfe für Patienten sein, sonst nichts. Der Nutzen für die Opfer ist selbstverständlich ein wünschenswerter und oft erzielter Nebengewinn, rechtfertigt es aber nicht, ethische Maximen ausser Kraft zu setzen. Sie darf nicht verletzend sein, keine Psychofolter. Psychotherapie darf nicht zu Mitteln der Drangsalierung greifen, sie muss den Persönlichkeitsschutz garantieren, die Würde und die Integrität des Patienten respektieren, auch wenn er Häftling ist. Sie darf nicht von einer Strafe instrumentalisiert werden. Sie darf keine Zusatzstrafe sein. Sie darf für die Justiz auch keinen Spionageauftrag erfüllen. Sie ist keine Seelenpolizei und kein Seelendetektiv, der für die Justiz kriminalistische Ermittlungsarbeit leistet. Sie muss das Arztgeheimnis weitgehend wahren, darf das Abhängigkeitsverhältnis nicht ausbeuten.
Über die Wirksamkeit von Psychotherapien bei Persönlichkeitsstörungen gibt es keine verlässlichen Untersuchungsbefunde. Deren Erhebung ist mit schwer erfüllbaren methodischen Ansprüchen verbunden. Es ist insbesondere schwierig zu sagen, in welchem Ausmasse Psychotherapie die Deliktprognose verbessert und wie erzwungene Therapien im Vergleich zu freiwilligen abschneiden. Thomas Noll schrieb bereits vor einigen Jahren («Neue Zürcher Zeitung» vom 13. Mai 2009), dass eine gross angelegte Studie mit 451 Teilnehmern im psychiatrisch-psychologischen Dienst des Amts für Justizvollzug Zürich gezeigt habe, dass die Rückfall-rate bei unbehandelten Tätern bei 10 Prozent und bei deliktorientiert behandelten bei 5 Prozent lag. Die Differenz zwischen behandelten und nicht behandelten Tätern bezüglich ihrer Rückfallgefährdung ist bemerkenswert gering. Sie rechtfertigt nicht, dass Psychotherapien durchgeführt werden, die ethische Standards opfern und Psychotherapie und Strafjustiz in Verruf geraten lassen.
Aus diesen kritischen Anmerkungen sind aus meiner Sicht die folgenden Schlussfolgerungen zu ziehen und Empfehlungen an die forensische Psychiatrie zu richten:
Die forensische Psychiatrie soll sich auf die Beurteilung klinisch relevanter Fälle beschränken, wie Schizophrenie, andere Formen der Psychosen, Suchtkrankheiten, hirnorganische Störungen. Sie soll sich kriminalistischer Analysen und Stellungnahmen enthalten. Die Beurteilung gewöhnlicher Straftäter unter dem psychiatrischen Etikett «dissoziale Störung» oder «akzentuierte Persönlichkeitsmerkmale» gehört nicht in ihre Zuständigkeit.
Die Statistiken zur Verlaufsprognose sind nur als Hintergrundinformationen, aber nicht als Prognosetests für den Einzelfall anzuwenden.
Die forensische Psychiatrie soll auf breiter Basis Therapien anbieten, aber keine ordnungspolitischen Psychotherapien durchführen. Das Berufsgeheimnis und die Intimsphäre der Behandelten sind zu garantieren.
Die Gesellschaft muss zur Sicherstellung rechtsstaatlicher, humanitärer und medizinethischer Gebote ein Restrisiko akzeptieren. Sie hat sich damit abzufinden, dass Psychotherapien im Strafvollzug nur beschränkte Erfolge zeitigen.
Leicht gekürzter Vortrag des Autors, gehalten an der Jahrestagung der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie am Bundesstrafgericht in Bellinzona vom 22. und 23. Juni 2017