Der Bundesrat präsentierte im Sommer den Entwurf zur Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes (E-VVG). Darin findet sich ein neuer Artikel 35. Dieser soll die Versicherungen ermächtigen, die allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) einseitig zu ändern. Einzige Voraussetzung: Der Versicherer muss darüber «frühzeitig» informieren und dem Kunden das Recht geben, zu kündigen.
Bereits heute nehmen sich Versicherungen das Recht, die Prämien an veränderte Risiken anzupassen. Entsprechende Bestimmungen finden sich in den meisten Verträgen. Das Bundesgericht hat in mehreren Entscheiden die Voraussetzungen und Grenzen solcher Prämienanpassungsklauseln geregelt. Geht es nach dem Bundesrat, dürfen die Versicherungen neu zudem die Vertragsbedingungen nach Belieben ändern.
Stephan Fuhrer, Titularprofessor für Privatversicherungsrecht an der Universität Freiburg, hält die Idee, einseitige AVB-Anpassungen zuzulassen, wenn der Kunde ein Kündigungsrecht hat, für krass stossend: «Meines Erachtens ist dies die problematischste Bestimmung der ganzen Vorlage.» Fuhrer befürchtet, dass dies dazu führen würde, dass die Versicherten namentlich bei Personenversicherungen solche Vertragsänderungen oft akzeptieren müssen. Beispiel: Bei fortgeschrittenem Alter sei es einem Konsumenten oft unmöglich, den Versicherer zu wechseln. «Ein Kündigungsrecht nützt ihm dann nichts», erläutert Fuhrer.
Unlautere Vertragsanpassung
Heikel ist der Gesetzesentwurf auch aus konzeptioneller Sicht. Ein undefiniertes Gestaltungsrecht zur nachträglichen «einseitigen Abänderung vertraglicher Leistungen» sei nach obligationsrechtlichen Grundregeln ungültig, schreibt Thomas Probst, Professor für Privatrecht an der Universität Freiburg in Stämpflis Handkommentar zu Artikel 8 des Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbebwerb, UWG (N 321 ff. mit Verweis auf BGE 135 III 1, E. 2.5). Grund: die Rechte und Pflichten der Parteien seien so nicht bestimmbar. «Carte blanche»-Klauseln seien ungültig.
Selbst wenn die AVB zu den Vertragsänderungen hinreichend bestimmt wären, können sie dennoch unlauter sein. Artikel 8 UWG untersagt es Unternehmen, Konsumenten mittels allgemeiner Geschäftsbedingungen auf treuwidrige Weise erheblich und ungerechtfertigt zu benachteiligen. Das ist gemäss Probst umso eher der Fall, je bedeutender die Vertragsänderung zum Nachteil des Konsumenten ausfalle. Zwar könne der Versicherer einen Nachteil des Konsumenten mit konkreten Vorteilen kompensieren. Ein blosses Kündigungsrecht sei für den Kunden jedoch kein Vorteil, sondern ein weiterer Nachteil. Er hat dann zusätzlichen Aufwand und das Risiko, keinen passenden neuen Vertragspartner zu finden.
Indem Artikel 35 E-VVG eine AVB-Änderung lediglich von einer vorgängigen Mitteilung der Versicherung und einem Kündigungsrecht abhängig macht, ist ein Konflikt mit Artikel 8 UWG programmiert. Probst: «Falls der Entwurf Gesetz werden sollte, dürfte sich früher oder später das Bundesgericht mit dem Verhältnis zu Artikel 8 UWG beschäftigen.» Artikel 8 UWG bedürfe keiner Umsetzung durch das VVG.
Der Artikel 35 E-VVG hätte laut Probst nur dann einen normativen Sinn, wenn er Anpassungsklauseln, die nach UWG unlauter wären, bei Privatversicherungen zulassen wolle. Sonst wäre er inhaltslos und müsste ersatzlos gestrichen werden. «In der schweizerischen Gesetzgebung beansprucht die Versicherungsbranche seit jeher Sonderregeln. Diese Tradition gedenkt der Gesetzgeber mit Art. 35 E-VVG offenbar fortzusetzen, sei es bewusst oder unbewusst.»
Äusserst langwierige Revision
Die VVG-Revision zieht sich bereits über Jahrzehnte dahin. Eine erste Teilrevision erfolgte 2006. Nach erfolgreicher Lobbyarbeit der Privatversicherer vereitelte die bürgerliche Parlamentsmehrheit 2013 ein modernes Gesetz mit Konsumentenschutzbestimmungen (plädoyer 1/13). Der Bundesrat erhielt den Auftrag, zu ausgewählten Punkten eine Teilrevision auszuarbeiten. Der Vernehmlassungsentwurf des Bundesrates von 2016 sah noch ein striktes Verbot von einseitigen AVB-Änderungen vor. Die Versicherungslobby, insbesondere der Schweizerische Versicherungsverband, wehrte sich vehement dagegen. Sie pocht auf das hehre Prinzip der Vertragsfreiheit – und hatte beim Bundesrat offensichtlich Erfolg.
Den Versicherten bleibt die Hoffnung, dass das Parlament die Bestimmung wieder aus dem Gesetz kippt.
Anpassung der Versicherungsbedingungen
So lautet der neue Artikel 35 im Entwurf des Bundesrats:
Absatz 1 Soweit es sich nicht um Versicherungen von beruflichen oder gewerblichen Risiken handelt, ist eine Vertragsbestimmung, wonach das Versicherungsunternehmen die allgemeinen Versicherungsbedingungen
einseitig anpassen kann, nur dann zulässig, wenn sie:
a vorsieht, dass die Anpassung dem Versicherungsnehmer frühzeitig angezeigt werden muss; und
b dem Versicherungsnehmer ein Kündigungsrecht auf den Zeitpunkt der Anpassung hin einräumt.
Abs. 2 Vorbehalten bleibt das vertraglich vereinbarte Recht des Versicherungsunternehmens, die Prämie anzupassen.