Sommer 1987: Andrea Büchler hält ihr Maturzeugnis in der Hand und verspürt Lust auf Neuland. Das Tessin, in dem sie aufwuchs, ist ihr zu eng geworden. Die damals 18-jährige Frau begibt sich auf eine lange Reise.
Bis 1990 unterrichtet Büchler an Privatschulen in Zentralamerika, Nepal, Thailand und Hongkong. Später ist sie vom islamischen Raum fasziniert, von Ägypten, Syrien, Iran, den Maghreb-Staaten und dem Libanon.
«Wir sind immer noch an vielen Orten zu Hause», sagt die heute 48-jährige Büchler. Ihr Leben findet heute zwischen Zürich, dem Tessin, Kalifornien und Indien statt. Ihr Partner lebte bis vor drei Jahren in Kalifornien. Der gebürtige Inder war Professor für Kognitionswissenschaften an der Uni Berkeley in Kalifornien. Er arbeitet heute bei Google in Zürich.
Mit 21 Jahren wurde Andrea Büchler zum ersten Mal Mutter, als 26-Jährige zog sie 1996 als jüngste Parlamentarierin für das Grüne Bündnis in den Basler Grossen Rat ein. Aus der Politik zog sie sich 2002 zurück. Heute gehört Büchler keiner Partei mehr an. Sie sei aber nach wie vor «ein sehr politischer Mensch», betont sie im Gespräch. Seit 2002 ist Büchler an der Universität Zürich Professorin für Privatrecht und Rechtsvergleichung.
Warum hat sie das Studium der Rechte gewählt? Büchler sagt: «Dass ich studieren wollte, war klar, die Fachrichtung aber offen – und dann war ich schwanger.» In dieser Situation bot das Jus-Studium praktische Vorteile, musste man damals doch noch nicht zwingend Vorlesungen besuchen. «Ich musste erst vier Jahre später ans Lizentiat und Prüfungen schreiben.»
Heute wäre dies wohl wesentlich schwieriger, sagt Büchler. «Die Studierenden müssen im Semestertakt Prüfungen ablegen.» Die Bologna-Reform habe das Studium modularisiert. «So gehen manchmal die grossen Zusammenhänge verloren», sagt die Professorin.
Als Delegierte für Aussenbeziehungen der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich sieht sie jedoch auch viele positive Veränderungen. Die Studenten könnten heute aus einem grossen Angebot an Freifächern wählen. Auch bestünden zahlreiche internationale Kooperationen mit anderen Universitäten. Die Uni Zürich biete zum Beispiel sieben «Double- degree-Masterprogramme» an, unter anderem mit dem King’s College in London und der University of Hong Kong. Büchler: «Es studieren mehr Leute aus dem Ausland bei uns als früher. Das tut dem Betrieb gut.»
Professorin mit mehreren Fachgebieten
Die Juristin hat selbst mehrere Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte hinter sich, etwa in Berlin, Bangalore, Kairo, Berkeley oder in New York. Als Professorin hat sie in verschiedenen Rechtsgebieten gelehrt. Sie publizierte im Personenrecht und Familienrecht, aber auch zum islamischen Recht und dem Recht der arabischen Staaten. Büchler gründete auch das renommierte Center for Islamic and Middle Eastern Legal Studies, kurz danach folgte die Gründung des Electronic Journal of Islamic and Middle Eastern Law.
Auf die Frage, warum man in den wissenschaftlichen Debatten nichts über Minarette und Burkas findet, antwortet sie: «Wir machen hier wahrscheinlich zu wenig. Wir versuchen aber, die Verbindung zu aktuellen politischen Debatten aufzunehmen. So haben wir viel zum Thema islamisches Recht in Europa gemacht.» Trotzdem fehle noch die Brücke zwischen den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und den tagesaktuellen Themen.
Aktuell publiziert und forscht die mittlerweile zweifache Mutter im Medizinrecht und der Bioethik. Sie geht Fragen nach wie: Gibt es ein Recht auf Abtreibung? Oder ein Recht auf ein bestimmtes Kind? Der Bundesrat ernannte die fleissige Forscherin zur Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. Dem Gremium gehören 14 weitere Fachleute aus den Bereichen Medizin, Recht, Theologie oder Ethik an. Büchler: «Ich sehe diese Pluralität als Chance und will ihr viel Raum bieten.»
Als Präsidentin ist ihr etwas Weiteres wichtig: «Die Kommission hat auch die Aufgabe, öffentliche Diskussionen zu den Entwicklungen im Bereich der Biomedizin anzuregen, zu begleiten und zu diesen beizutragen.» Dadurch solle das Gremium eine Orientierungsfunktion wahrnehmen, auch wenn in vielen grundlegenden Fragen kein Konsens erzielt werden könne. «Es ist ein Privileg, den ethischen Diskurs zu wichtigen Fragen im Bereich der Humanmedizin moderieren zu dürfen», sagt die Juristin.
“Das Familienrecht ist eine Baustelle”
Die Fortpflanzungsmedizin hat gemäss Büchler die Konzepte von Mutterschaft, Vaterschaft, Elternschaft, Fortpflanzung, Natur, Familie usw. grundlegend verändert, «ja erschüttert». Es lohne sich, über diese Veränderungen vertieft nachzudenken. Büchler selbst hat das getan. Entstanden ist ein Grundlagenwerk, das kürzlich erschienen ist: «Reproduktive Autonomie und Selbstbestimmung.»
Weniger begeistert ist die Professorin von den permanenten Revisionen im Familienrecht. Sie spricht von einer «grossen Baustelle». Das Familienrecht brauche eine gesamthafte Reform. Die vielen kleinen Revisionen seien gefährlich, es entstünde ein Puzzle, bei dem nicht alle Teile zusammenpassen. Die Konsequenzen empfindet Büchler auch im Vorlesungssaal: «Beim Unterrichten fällt es mir immer schwerer, den Studenten zehn Grundsätze zu nennen, die das Familienrecht tragen und zusammenhalten.»
Seit dem 1. Januar gilt das neue Kinderunterhaltsrecht. Für die Juristin ist diese Revision gesetzgeberisch ungenügend. «Beim Betreuungsunterhalt wurde nichts gründlich geregelt.» Der Gesetzgeber sei auf Fragen wie: «Wie lang ist Betreuungsunterhalt geschuldet, wie soll dieser berechnet werden oder wie hoch soll er überhaupt sein?», nicht eingegangen. Deshalb herrsche grosse Rechtsunsicherheit. Das habe Rechtsungleichheit zur Folge, «weil die Gerichte das Gesetz unterschiedlich anwenden».
Das Problem sieht Büchler beim Gesetzgebungsprozess: «Heute setzt man keine Expertenkommissionen mehr ein, die eine Revision vorbereiten. Heute kommen die Entwürfe aus der Bundesverwaltung. Ab einer gewissen Komplexität lohnt es sich aber, Experten zusammenarbeiten zu lassen.»
Was will Büchler in Zukunft anpacken? Sie will offen bleiben für das, was noch kommen mag. Grenzen überschreiten möchte sie aber weiterhin. «Grenzen sind Orte der Begegnung», sagt sie.