plädoyer: Soll die Schweiz eine Sammelklage im Sinn der US-«class action» einführen?
Eric Stupp: Nein. Es ist gefährlich, wenn man einzelne Institute einfach in eine andere Rechtsordnung mit einer ganz anderen Tradition hineinpflanzt. Zu diesem Schluss kam auch der Gesetzgeber bei der Schaffung der neuen schweizerischen Zivilprozessordnung. Auch das Bundesgericht ist der Meinung, dass wir keine amerikanischen Zustände wollen.
Daniel Fischer: Genau da liegt das zentrale Problem: Das US-System beherrscht unsere Vorstellungen von Gruppenklagen. Von diesem Bild müssen wir uns lösen, dann verschwindet auch viel Angstpotenzial.
plädoyer: Was stört Sie am US-Modell der Sammelklage?
Fischer: Zum Beispiel die «punitive damages», also Strafzahlungen, die über den eigentliche Ersatz eines konkreten Schadens hinausgehen. Ich plädiere für Gruppenklagen ohne «punitive damages» und ohne die weitgehenden Offenlegungspflichten wie im amerikanischen Recht. Wir haben in der Schweiz zudem auch keine Geschworenengerichte, wie sie die USA kennt. Ist das Ding erst «entamerikanisiert», sinkt die Angst.
Stupp: Auch entschärft können Sammelklagen gegen Unternehmen unerwünschte Effekte haben. Die Kosten fallen auf die Konsumenten zurück. Sammelklagen sind in der Schweiz unnötig, weil wir hier einen anderen, nämlich
einen institutionellen Ansatz haben: Im Unterschied zu den USA ist unser Verwaltungsstaat stark genug, um Missstände auszugleichen. In der Pharmabranche bietet unsere Heilmittelkontrolle ein starkes Korsett. Wenn ein falsches Medikament auf den Markt kommt, könnte es viele Geschädigte geben. Die Heilmittelkontrolle sorgt dafür, dass möglichst kein solches Produkt auf den Markt kommt. Aber auch die Banken und Versicherungen stehen unter Aufsicht der Behörden.
plädoyer: Das verhindert weder höchst einseitige Allgemeinen Versicherungsbedingungen noch Falschberatung durch Banken.
Stupp: Das System mag nicht perfekt sein, aber der Ansatz über die Sammelklagen ist es eben auch nicht. Auch ausserrechtliche Kräfte wie der freie Wettbewerb und die Gefahr eines Reputationsverlustes wirken zudem regulierend.
Fischer: Regulierung als Gesamtinteresse ist zu unterscheiden von Individualschäden. Regulierung ist Prävention. Die Sammelklage greift erst dann ein, wenn etwas passiert ist. Bei kleinen Schadensummen und einem grossen Kreis von Betroffenen fehlen heute der Zugang zum Recht und ein einfaches Verfahren. Deshalb brauchen wir ein effizientes Verfahren, damit sich Gruppen zusammentun und klagen können. Davon könnten Arme und Reiche profitieren. Die Sammelklage muss entpolitisiert werden - siehe das Beispiel der Bank Lehman, die auch in der Schweiz zahlreiche Anleger geschädigt hat. Den Betroffenen fehlt praktisch die Möglichkeit zu klagen, weil die Gerichtskosten prohibitiv sind und Prozessfinanzierer weitgehend fehlen. Die Kostenfrage ist heute einseitig zugunsten der Beklagten geregelt. Das führt zu einer Apathie der Opfer, letztlich zu einer Art Gerichtsverdrossenheit.
Stupp: Wenn wir eine Sammelklage einführen, besteht die Gefahr, dass die Kläger die falschen Themen auf- und die falschen Firmen angreifen. Eine Behörde hingegen muss sich genau überlegen, wo sie intervenieren will. Das ist unter dem Strich effizienter und damit kostengünstiger. «Class actions» sind meist gezielt gegen Grossfirmen gerichtet, die viel Wert auf korrektes Vorgehen legen. Bei ihnen bauen die Kläger über die Public-Relations-Schiene Druck auf, um den Disput dann via Vergleich beizulegen.
plädoyer: Was können Kläger dafür, dass es oft Grossunternehmen sind, die einen grossen Schaden verursachen - wie beispielsweise UBS, CS oder BP?
Fischer: Gegen BP laufen zurzeit 155 «class actions». Ohne Sammelklage wäre dieser Fall nicht justiziabel. Nach der Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko kann man wohl nicht im Ernst behaupten, das Grossunternehmen sei unfair über die PR-Schiene attackiert worden. Zumal die PR-Schiene auch ohne Sammelklagen möglich wäre.
Stupp: Das Beispiel BP zeigt ja genau, dass das amerikanische Verfahren mit den «class actions» nicht greift. Trotz Sammelklagen musste die Politik von höchster Stelle her eingreifen. Als die Regierung drohte, künftig Förderrechte zu verweigern, stellte BP in Windeseile einen Entschädigungsfonds bereit. Die hängigen «class actions» in Sachen BP haben hingegen noch keinen einzigen Entschädigungsdollar bewirkt.
plädoyer: Hat eine Sammelklage nicht auch Vorteile für die Unternehmen?
Fischer: Gewiss, ein Fall ist schneller und ein für allemal erledigt. Eine Gruppenklage ohne die überrissenen «punitive damages» ist nicht a priori ein unternehmensfeindliches Instrument - sonst wäre ich nie und nimmer dafür. Ich bin wirtschaftsfreundlich, Banken sind unser Bodenschatz und nicht ein Bodensatz. Es geht mir einzig um die Optimierung des Verfahrens.
Stupp: Die Nachteile überwiegen. Wenn die Schweiz solche Klagemöglichkeiten importiert, entstehen nicht nur zusätzliche Kosten. Die Schweiz würde sich auch einen erheblichen Standortnachteil einhandeln. Bei Neuansiedlungen sehen sich die Firmen auch die Rechtssicherheit eines Landes an. Aus Sicht der Unternehmen würde die Attraktivität der Schweiz sinken, wenn wir ein solches Institut einführen.
plädoyer: Könnte eine Klagemöglichkeit in der Schweiz den Vorteil haben, dass die Kläger seltener den Weg vor ein US-Gericht suchen?
Stupp: Nein, die Kläger würden weiterhin wenn immer möglich US-Gerichte bevorzugen. Wenn sie dort einen Schaden von zwanzig Millionen nachweisen können, gibt es noch den dreifachen Betrag an «punitive damages» obendrauf. Der Anwalt behält dann etwa dreissig Prozent davon, der Kläger den Rest. Das ist natürlich attraktiver. Zudem ist es einfach, in den USA eine Klage einzuleiten. Um eine Zehn-Milliarden-Klage einzureichen, genügt ein Schreiben von drei, vier Seiten.
Fischer: Genau wegen diesem Ausnützen von klägerfreundlichen Gerichtsständen in den USA wäre es doch auch für Unternehmen in der Schweiz von Vorteil, wenn wir ein eigenes attraktives Streitbeilegungsinstrument für Gruppen hätten - auch wirtschaftlich. Solange die Schweiz keine eigene Gruppenklage kennt, wird sich ein amerikanisches Gericht eher für zuständig erklären. Es ist mir unheimlich zuwider, dass US-Gerichte über diesen Weg unsere Rechtsprechung dominieren. Die Schweiz ist als vernünftiges Land in der Lage, eine eigene Form von Gruppenklage zu schaffen und so ihr Recht selbst zu schöpfen.
plädoyer: Am 1. Januar tritt die neue Zivilprozessordnung in Kraft. Weshalb fehlt darin die Möglichkeit einer Gruppenklage?
Fischer: Eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema Sammelklagen gab es nicht. Zudem fiel der Entscheid schon vor längerer Zeit. Heute, nach der Lehman-Pleite, nach Madoff und nach BP, kann ein vernünftiger Mensch den Nutzen einer Sammelklage nicht mehr verneinen.
Stupp: Es stellt sich die Frage: Was ist effizienter? Bei welchem System sind die Transaktionskosten geringer und wie erreicht man die besten Resultate? Diese Frage muss man aus der Makroperspektive beantworten. Eine Behörde hat eben auch eine gewisse Rechenschaftspflicht, was eine Sammelklagegruppe nicht hat. Ich glaube nicht, dass die Schweizer Bevölkerung eine klagewütige Gesellschaft will, die bei jeder erlittenen Unbill zuerst überlegt, wen man dafür verantwortlich machen kann.
plädoyer: Das Schweizer Recht kennt Verbandsklagen. Das Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb gibt in Artikel 10 zum Beispiel Konsumentenorganisationen die Möglichkeit zu klagen. Warum wird davon so selten Gebrauch gemacht?
Fischer: Ein Grund ist sicher, dass Verbandsklagen keine Leistungsklagen, sondern reine Feststellungsklagen sind. Konsumentenorganisationen können nicht auf Schadenersatz für die Kunden klagen, das ist im Gesetz ausdrücklich so geregelt.
Stupp: Es ist sehr aufwendig, eine Verletzung des Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb nachzuweisen. Konsumenten erreichen mehr über die Reputationsschiene - interessanterweise auch in den USA, trotz Sammelklagen. Deshalb wehre ich mich gegen deren Einführung.
plädoyer: Sie sagen, die Schweiz braucht keine Sammelklage. Was raten Sie jemandem, der durch fehlerhafte Beratung mit Lehman-Papieren Geld verloren hat?
Stupp: Jeder geschädigte Anleger kann gegen die Bank klagen. Bei Lehman gab es zudem auch den Behördenansatz: Die Finanzmarktaufsicht (Finma) hat sich Daten beschafft, die Verkaufsvorgänge untersucht und einen Bericht erstellt. Sie hat auch schon bei anderen Finanzinstituten interveniert, wenn sie der Meinung war, sie hätten einen ungerechtfertigten Gewinn erzielt. Dieses Vorgehen funktioniert ohne Lärm, es ist viel effizienter als eine Sammelklage.
Fischer: Die Finma hat im Bericht zur Lehman-Pleite ausdrücklich ausgeklammert, ob die geschädigten Anleger zivilrechtliche Ansprüche gegen Schweizer Banken haben. Klar ist: Ein Lehman-Opfer mit einem Schaden von 30 000 oder 40 000 Franken Vermögen ist machtlos, wenn es vor Gericht gegen eine Bank antreten muss. Die Realität ist, dass sehr viele Geschädigte aufgegeben haben. Unsere Kanzlei versuchte der Übermacht etwas entgegenzusetzen, indem wir mit den Geschädigten einen Klägerpool gebildet haben. Weil die Credit Suisse aussergerichtlich Vernunft gezeigt hat, haben schliesslich viele über einen Vergleich einen Teil des Geldes zurückerhalten. Sonst wären es Einzelprozesse geworden - mit prohibitiven Kosten. Verglichen mit Frankreich oder Italien hat die Schweiz prozentual die höchsten Gerichtskosten und keine Klägerindustrie. Prozessfinanzierer übernehmen a priori selten solche Prozesse. Man stelle sich zudem 5000 Einzelklagen vor - ein absolutes Unding bezüglich Prozessökonomie.
plädoyer: Bringt die neue eidgenössische Zivilprozessordnung überhaupt keine Verbesserungen beim kollektiven Rechtsschutz?
Fischer: Praktisch nicht. Artikel 27 schafft einen einheitlichen Massengerichtsstand, an dem man einen Prozess vorantreiben und die anderen sistieren kann. Artikel 91 bietet bei einer Streitgenossenschaft ein bisschen Abhilfe bei den Gerichtskosten, indem man nicht die absoluten Beträge zusammenzieht, sondern einen Grundbetrag angemessen erhöht. Das sind aber wahrlich keine grossen Würfe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Schweiz letztlich der einzige Staat in Europa sein wird, der keine Gruppenklage kennt.
plädoyer: Ein Hauptargument gegen die Einführung einer Gruppenklage in der neuen ZPO war die Bindewirkung für die anderen Betroffenen. Dieses Prinzip des «Opt out» sei nicht kompatibel mit dem Schweizer Recht.
Stupp: Das «Opt out» ist unter dem Aspekt des Datenschutzes problematisch. Damit Klägeranwälte und Gerichte wissen, wer zur betroffenen Gruppe gehört, müssen die beklagten Firmen Kundendaten offenlegen - ohne zu wissen, ob die Betroffenen die Wahrnehmung ihrer Interessen durch Klägeranwälte überhaupt wünschen.
Fischer: Diese Argumentation übersieht, dass wir in der Schweiz allgemeinverbindliche Arbeitsverträge oder Allgemeinverfügungen haben - völlig unbekannt ist die bindende Wirkung nicht. Ein Kompromiss beim «Opt out» könnte ein zweistufiges Vorgehen sein. Zuerst macht jeder, der sich nicht aktiv abmeldet, automatisch mit. In einer späteren Phase müsste sich ein Geschädigter dann aktiv dem Verfahren anschliessen.
Stupp: Ich glaube nicht, dass dieser rechtstechnische Einzelaspekt ausschlaggebend ist. Es geht vielmehr um den institutionellen Ansatz, den man als Land verfolgt: Ich glaube nicht, dass sich die Wohlfahrt in der Schweiz vergrössert, wenn wir mehr Zivilprozesse haben. Damit einhergehend müssten wir zwingend den Justizapparat erheblich ausbauen und den Gerichten Entscheidungen zumuten, die unter Umständen für Unternehmen existenzbedrohend sein könnten.
plädoyer: Wann wird die Schweiz die Möglichkeit einer Sammelklage einführen?
Fischer: Schneller als es die meisten erwarten.
Stupp: Das sehe ich anders. Das Instrument wurde in der neuen Zivilprozessordnung fallengelassen, weil es in der Vernehmlassung mehrheitlich abgelehnt wurde. Geben wir dieser Zivilprozessordnung doch einmal eine Chance, bevor wir über Änderungen diskutieren.
Ausführlich zum Thema: «Sammelklagen: Auch in der Schweiz sinnvoll?», plädoyer 6/08.
Daniel Fischer (57) ist Rechtsanwalt und Senior Partner im Advokaturbüro Fischer & Partner, Mediator SAV und Professor für internationales Wirtschaftsrecht in Berlin. Er hat unter anderem zahlreiche Anleger vertreten, die durch die Lehman-Pleite geschädigt wurden. Fischer publizierte verschiedentlich zu Wirtschaftskriminalität und Sammelklagen.
Eric Stupp (45) ist Rechtsanwalt und Partner bei Bär & Karrer. Zu seinem Mandantenstamm zählen zahlreiche international tätige Banken und Versicherungen. Eric Stupp ist zudem Vizepräsident des Verwaltungsrats von Goldman Sachs Bank AG, Zürich, und Verwaltungsratsmitglied von verschiedenen anderen Finanzinstituten und Industrieunternehmen.
Unterschiedliche Sammelklagen in Europa und den USA
In Österreich hat der Verein für Konsumenteninformation (VKI) gegen den Finanzdienstleister AWD - eine Tochter des grössten schweizerischen Lebensversicherers Swiss Life - fünf Sammelklagen mit einem Gesamtstreitwert von umgerechnet fast 53 Millionen Franken eingereicht. In vier Fällen haben die Gerichte die Sammelklagen zugelassen. Der VKI vertritt 2500 Geschädigte. Parallel dazu führt der VKI acht Musterprozesse, in denen die Praktiken des AWD exemplarisch abgehandelt werden. Der Verein wirft AWD «systematische Fehlberatung» von Kunden in Österreich vor. Rund 7000 Beschwerden waren beim VKI eingegangen.
In der Schweiz können Geschädigte von rechtlichen Möglichkeiten wie in Österreich nur träumen. Auch die Sammelklage nach US-Vorblid («class action») würde für Kläger Vorteile bringen. Dabei repräsentiert eine einzige klagende Partei die übrigen Be-troffenen. Auch diese sind an das Urteil gebunden. Sie sind automatisch Teil der Kläger-schaft, ausser sie bekunden aktiv ihren Austritt («Opt-out»-Verfahren).
Für eine «class action» schreibt das US-Gesetz im Wesentlichen vier Voraussetzungen vor: Die Zahl der Kläger muss so gross sein, dass ein Zusammenschluss zu einer Streitgenossenschaft äusserst schwierig wäre. Der geltend gemachte Anspruch muss zudem juristische und tatbeständliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Einzelklage des Repräsentanten muss typisch für die gemeinsame Problemstellung sein und die anwaltliche Vertretung hohen Qualitätsstandards entsprechen.