1. Strafrecht (StGB)
1.1 Allgemeine Bestimmungen
Art. 2 Abs. 2 StGB («lex mitior»): Die «lex mitior»-Regel ist auch auf Übertretungen anwendbar (Art. 104 StGB). Bei Verwaltungsstrafnormen gilt der Grundsatz aber nicht allgemein. Das Bundesgericht bestätigt seine Rechtsprechung, wonach der Grundsatz der «lex mitior» nur dann greift, wenn in der neuen Regelung eine mildere ethische Wertung zum Ausdruck kommt, nicht jedoch bei Änderungen aus Gründen der Zweckmässigkeit.1
- Art. 12 Abs. 2 StGB (eventualvorsätzliche Tötung resp. Körperverletzung): Das Bundesgericht bestätigt, dass bei Unfällen im Strassenverkehr nicht ohne Weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden kann, da der Fahrzeuglenker durch sein gewagtes Fahrverhalten meistens selbst zum Opfer zu werden droht. Deshalb darf nicht angenommen werden, er habe sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden und nicht im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut. Eventualvorsatz in Bezug auf Verletzungs- und Todesfolgen ist bei Unfällen im Strassenverkehr nur mit Zurückhaltung und in krassen Fällen anzunehmen.2
In einem weiteren Fall wurde dem Verurteilten vorgeworfen, er habe dem sichtbar beduselten Opfer unvermittelt einen derart wuchtigen Faustschlag ins Gesicht gegeben, dass es ungebremst mit dem Kopf auf dem Asphaltboden aufprallte. Das Opfer wurde schwer verletzt und ist invalid. Das Bundesgericht bejaht den Eventualvorsatz bezüglich der schweren Körperverletzung, welche «nicht bloss Folge eines äusserst unglücklichen Tatverlaufs» war. Der Täter habe lebensgefährliche Verletzungen und bleibende Schäden in Kauf genommen.3
- Art. 20 StGB (Zweifel an der Schuldfähigkeit): Die verminderte Schuldfähigkeit ist ein Zustand des Täters. In welchem Zustand sich der Täter zur Tatzeit befand, ist eine Tatfrage, die das Bundesgericht nur überprüft, wenn sie willkürlich ist. Damit würde aber für die Zweifel an der Schuldfähigkeit des Täters der Grundsatz «in dubio pro reo» gelten. Dennoch hat das Bundesgericht die Verweigerung eines Gutachtens durch die Vorinstanzen geschützt.4
- Art. 24 Abs. 2 StGB (versuchte Anstiftung zu Mord): Die Tötung einer Frau wegen der Familienehre ist nach der Rechtsprechung als Mord zu qualifizieren.5 Im vorliegenden Fall hat die verurteilte Schwiegermutter Verwandte der Schwiegertochter dazu aufgerufen, «ihre Ehre zu reinigen». Die erfolglos gebliebenen Machenschaften der Schwiegermutter sind laut Bundesgericht vom Obergericht zu Recht als versuchte Anstiftung zu Mord qualifiziert worden.6
- Art. 25 i.V.m. Art. 11 StGB (eventualvorsätzliche Gehilfenschaft durch Unterlassen): Eine Mutter von Kindern, die vom Lebenspartner missbraucht werden, kann sich als Gehilfin strafbar machen. Die Beschwerdeführerin hatte eine Garantenpflicht für ihre Töchter. Indem sie die sexuellen Übergriffe weder verhinderte noch ihnen nachging, blieb sie pflichtwidrig untätig. Ein solches Verhalten ist als Begehen durch Unterlassen strafbar und im vorliegenden Fall als Gehilfenschaft zu qualifizieren. Als Hilfeleistung gilt jeder kausale Beitrag, der eine Tat fördert, also auch die psychische Hilfe.7
- Art. 34 Abs. 2 StGB (Bemessung der Höhe des Tagessatzes): Die Höhe des Tagessatzes ist um 10 bis 30 Prozent zu reduzieren, wenn die Geldstrafe mehr als 90 Tagessätze beträgt und der Täter über kein Vermögen verfügt.8
- Art. 42 StGB (bedingter Vollzug einer Geldstrafe): Im Zusammenhang mit der Verurteilung wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand fordert das Bundesgericht eine Gesamtwürdigung sämtlicher Prognosekriterien eines einschlägig vorbestraften Angeklagten. Im vorliegenden Fall hat das Obergericht den «Rückfall» zu stark gewichtet und die übrigen Kriterien bei der Beurteilung der Legalprognose vernachlässigt.9
- Art. 46 StGB (Gesamtstrafenbildung beim Widerruf einer Vorstrafe): Es sei an die apodiktische Rechtsprechung des Bundesgerichts erinnert, wonach Art. 46 Abs. 1 StGB es verbietet, eine rechtskräftige Vorstrafe zulasten des Verurteilten zu ändern. Insbesondere wiegt die Geldstrafe als Vermögenssanktion prinzipiell weniger schwer als ein Eingriff in die persönliche Freiheit, und zwar unabhängig von deren Höhe.10
- Art. 47 und 50 StGB (Strafzumessung/Begründungspflicht): Das Bundesgericht verlangt für eine Erhöhung der Einsatzstrafe aufgrund von Vorstrafen des Beschuldigten eine ausführliche Begründung. Stützt sich das Gericht auf Vergleichsurteile, muss es diese benennen und sich mit den Argumenten auseinandersetzen.11
Weist ein Täter Vorstrafen auf, wird dies grundsätzlich straferhöhend gewichtet. Das Sachgericht muss jedoch bei jedem einzelnen Fall prüfen, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen Vorstrafen Anlass zu einer Straferhöhung geben. Das Sachgericht darf die Vorstrafen nicht wie «eigenständige Delikte» würdigen und im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung in die Strafzumessung einfliessen lassen. Dies liefe auf eine Doppelbestrafung hinaus und würde aus dem täterbezogenen Strafzumessungskriterium des Vorlebens ein tatbezogenes machen und somit das Einzeltatschuldprinzip unterlaufen.12 Eine angebliche «Gefährlichkeit» des Täters ist im Rahmen der Strafzumessung nach Art. 47 StGB ein sachfremdes Kriterium.13
- Art. 53 StGB (Wiedergutmachung): Das Bundesgericht verweigert einem Beschuldigten die Anwendung von Art. 53 StGB, weil er «die Normverletzung nicht anerkannt hat».14
Wenn sich ein Beschuldigter bei der Privatklägerin entschuldigt und wiederholt angeboten hat, den Schaden zu ersetzen, dann sind die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung wegen Wiedergutmachung zu prüfen.15
- Art. 56 Abs. 5 StGB (geeignete Einrichtung für den Vollzug einer therapeutischen Massnahme): Geschlossene Strafanstalten oder geschlossene Abteilungen offen geführter Strafanstalten im Sinne von Art. 76 Abs. 2 StGB sind gemäss Art. 59 Abs. 3 StGB nur dann als für den Vollzug einer stationären therapeutischen Massnahme geeignete Einrichtung anzusehen, «sofern die nötige therapeutische Behandlung durch Fachpersonal gewährleistet ist». Stationäre Behandlungen nach Art. 59 StGB müssen bei der Stundenfrequenz und Konfrontationsdichte tendenziell eine hohe Intensität aufweisen. Dabei gilt eine Therapiestunde pro Woche mittelfristig für ein stationäres Therapieangebot nicht als ausreichend.16
- Art. 59 Abs. 1 und 2 StGB (stationäre Massnahme): Auch bei einer Anlasstat, die an der Grenze der Tatbestandsmässigkeit sexueller Handlungen mit Kindern liegt (Onanieren vor laufender Kamera), ist die Anordnung einer stationären Massnahme aufgrund der angeblichen Sozialgefährlichkeit des Täters verhältnismässig.17
Therapeuten und Therapieberichte im Rahmen der Anordnung einer therapeutischen Massnahme gelten nach ständiger Praxis wegen ihrer Nähe zum Betroffenen als befangen und Therapieberichte können ein umfassendes Gutachten grundsätzlich nicht entkräften.18
- Art. 62d StGB (Prüfung der Entlassung durch die Verwaltungsbehörde): Für das Bundesgericht ist es weder konventions- noch verfassungswidrig (Art. 31 Abs. 4 BV; Art. 5 Ziff. 4 EMRK), wenn eine Verwaltungsbehörde zur Prüfung nach Art. 62d StGB zuständig erklärt wird. Dies gilt selbst dann, wenn vor dem Gang an ein Gericht noch eine zweite Verwaltungsbehörde dazwischengeschaltet wird.19
- Art. 64 StGB (Verwahrung): Für das Bundesgericht ist die schwere Beeinträchtigung des Opfers keine Voraus-setzung für die Anordnung der Verwahrung, solange man annehmen darf, der Täter habe die Integrität des Opfers schwer beeinträchtigen wollen. Bei der Beurteilung der schweren Beeinträchtigung ist die besondere individuelle Empfindlichkeit des Opfers nicht ausschlaggebend.20
- Art 64a StGB (bedingte Entlassung aus der Verwahrung): Das Bundesgericht kassiert ein Urteil, in welchem die Vorinstanz einem 76-jährigen Sexualdelinquenten die Entlassung aus der Verwahrung nach einem Freiheitsentzug von über 20 Jahren verweigert hatte. Dies, obschon das Gericht eine günstige Legalprognose verneint hat. Es erachtet die Aufrechterhaltung der Verwahrung als unverhältnismässig und stellt zudem eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest. 21
- Art. 65 Abs. 1 i.V.m. Art. 59 StGB (nachträgliche Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme): Wann ist der Wechsel von Strafe zu Massnahme noch konventionskonform (Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK, «sufficient causal connection»)? Mit der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten wird auf das ursprüngliche Urteil zurückgekommen und die nachträgliche Anordnung der Massnahme nach Art. 59 i.V.m. Art. 65 Abs. 1 StGB daran angebunden. Das ursprüngliche Urteil bildet mithin den Rechtsgrund für die spätere Freiheitsentziehung, weil die Gründe für die erneute Inhaftierung nicht erst nachträglich während des Strafvollzugs entstanden, sondern bereits zum Zeitpunkt der Tatbegehung und der Verurteilung vorlagen. Das urteilende Sachgericht hätte eine solche Massnahme angeordnet, wenn es um die tatsächlichen Umstände des Geisteszustandes des Beschwerdeführers und seiner daraus resultierenden Gefährlichkeit gewusst hätte. Damit ist die vom EGMR geforderte «sufficient causal connection» zwischen dem Ausgangsurteil und der nachträglichen Anordnung einer Massnahme gegeben.22
- Art. 97 Abs. 3 StGB (Verfolgungsverjährung): Das Bundesgericht ändert seine in BGE 134 IV 328 begründete Rechtsprechung, wonach die Verjährung nicht mehr eintritt, wenn vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist. Unter erstinstanzlichen Urteilen im Sinne dieser Bestimmung sind neu nicht nur verurteilende, sondern auch freisprechende Erkenntnisse zu verstehen. Der Strafbefehl ist aber kein erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB.23
1.2 Besondere Bestimmungen
Art. 112 StGB (versuchter Mord): Das Bundesgericht beurteilte das mehrfache massiv gewaltsame Einwirken auf einen Säugling und die Zufügung von grossen Schmerzen bei einer Gesamtwürdigung der Umstände als skrupellos im Sinne von Art. 112 StGB. Ein (versuchter) Mord kann auch eventualvorsätzlich begangen werden. Dass der Täter den Tod des Opfers «nur» in Kauf nimmt, schliesst mithin nicht aus, dass die hinter der Tötung bzw. dem Tötungsversuch stehenden Beweggründe und der Zweck der Tat einer besonders krassen Geringschätzung menschlichen Lebens entspringen und besonders verwerflich sein können.24
- Art. 122 StGB (HIV-Infektion und schwere Körperverletzung): Die Infektion mit HIV gilt nicht mehr als lebensgefährliche Körperverletzung. Das Bundesgericht hat seine strenge Rechtsprechung mit Blick auf den medizinischen Fortschritt gelockert. Künftig kann die Übertragung des Aids-Virus je nach den Umständen als (nicht lebensgefährliche) schwere oder auch nur als einfache Körperverletzung geahndet werden.25
- Art. 129 StGB (Gefährdung des Lebens): Eine Tatbestandserfüllung gemäss Art. 129 StGB erfordert direkten Vorsatz bezüglich der unmittelbaren Lebensgefahr. Obwohl der Täter das Opfer würgte, wurde er vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens freigesprochen, da er eine Methode der Strangulation aus dem Judo anwendete.26
Die Drohung mit einer geladenen Schusswaffe kann selbst dann als Gefährdung des Lebens strafbar sein, wenn der Täter seinen Finger nicht am Abzug hält.27
- Art. 133 StGB (Raufhandel): Des Raufhandels strafbar machen kann sich auch, wer erst nach der Verursachung der objektiven Strafbarkeitsbedingung (Tod oder Körperverletzung) an der Auseinandersetzung teilnimmt. Dass es zu einer Tötung oder Verletzung kommt, ist lediglich Voraussetzung dafür, dass überhaupt ein strafbarer Raufhandel vorliegt. Jeder, der an einem solchen Raufhandel teilnimmt, macht sich strafbar, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt er in den Streit eingreift.28
- Art. 146 StGB (Betrug): Das Bundesgericht kassiert einen Freispruch, der im Zusammenhang mit einem angeblichen Darlehensbetrug die arglistige Täuschung zu Unrecht verneint haben soll. Das Bundesgericht legt dar, dass man durch Liebesbeteuerungen täuschen kann und dass solche auch arglistig sein können. Zu prüfen ist aber immer auch der Kausalzusammenhang zwischen Täuschung und Vermögensverfügung.29
In einem weiteren Urteil hat sich das Bundesgericht zum Begriff des Vermögensschadens im Zusammenhang mit einem Aktienkauf und dem entsprechenden Kapitalschutz befasst.30
Opfermitverantwortung beim Versicherungsbetrug: Das Bundesgericht bestätigt einen kantonalen Freispruch mangels Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der Arglist, weil das Vorgehen des vermeintlichen Täters (fingierter Einbruchdiebstahl) für eine Versicherungsgesellschaft durchschaubar sein musste. Besondere Fachkenntnis und Geschäftserfahrung des Opfers sind bei der Beurteilung der Arglist in Rechnung zu stellen. Eine geltend gemachte Schadenssumme von Fr. 170 000 begründet eine Überprüfungspflicht der Versicherung.31
Andererseits bestätigte das Bundesgericht einen Schuldspruch gegen einen Versicherungsbetrüger, der nach einer Verletzung der Halswirbelsäule eine erhebliche Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht hatte. Der Mann war im Auftrag der von ihm belangten Haftpflichtversicherung observiert worden, ohne dass es Anzeichen für Bewegungseinschränkungen oder Schmerzen gab. Das Bundesgericht räumt ein, dass es grundsätzlich Sache des Arztes und nicht des Patienten ist, das Krankheitsbild zu zeichnen und gestützt darauf die Arbeitsunfähigkeit zu ermitteln. Die Mediziner seien indes bei der Feststellung des Grades der Arbeitsunfähigkeit in hohem Masse auf das Ergebnis der Befragung des Patienten zu seinen Beschwerden und Einschränkungen angewiesen. Indem der Verurteilte seine Aktivitäten als Rockmusiker verschwieg und eine erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung vorgab, hat er die Ärzte und mittels deren Bescheinigungen die Versicherung arglistig getäuscht.32
- Art. 183/ Art. 312 StGB (Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch bei missbräuchlicher Personenkontrolle): Das Bundesgericht bestätigt die Verurteilung eines Polizeibeamten wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauchs. Opfer wurde ein Pfarrer, der sich in die polizeiliche Kontrolle eines Drogenkonsumenten eingemischt hat. Dafür wurde er festgenommen. Das Bundesgericht stuft die Arretierung mit Leibesvisitation des Pfarrers als unverhältnismässig ein.33
Während dreier Jahre hat ein Täter seine Lebenspartnerin faktisch zur Gefangenen in der gemeinsamen Wohnung gemacht. Das Bundesgericht hat bestätigt, dass sein andauerndes Zwangsregime für eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung ausreicht.34
- Art. 186 StGB (Hausfriedensbruch und Mietverhältnis): Dass ein Mieter die Mietsache nach Vetragsablauf nicht freiwillig verlässt, gehört zu den normalen Geschäftsrisiken des Vermieters. Solche Streitigkeiten sind zivilrechtlicher Natur und dementsprechend vorab mit zivilrechtlichen Mitteln zu lösen. Insofern hält das Bundesgericht an BGE 112 IV 31 fest, wonach dem Vermieter zur Ausweisung die Mittel des Strafrechts nicht zur Verfügung stehen.35
- Art. 251 Abs. 1 i.V.m. Art. 110 Abs. 4 StGB (das E-Mail als Beweisurkunde): Auch ein E-Mail ohne elektronische Signatur ist grundsätzlich eine Urkunde, und unzulässige Manipulationen daran können als Urkundenfälschung strafbar sein. Dass ein vollständig ausgedrucktes E-Mail eine Urkunde ist, steht für das Bundesgericht ausser Frage. Laut dem Leitentscheid kommt auch dem noch nicht ausgedruckten E-Mail der Charakter einer (Computer-)Urkunde zu. Im Übrigen erfüllen unrichtige Lohnausweise laut konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts den Tatbestand der Falschbeurkundung nicht. Auch eine Differenzierung zwischen Lohnausweisen und Lohnabrechnungen würde zu keinem anderen Ergebnis führen.37
- Art. 293 StGB (Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen): Das Bundesgericht bestätigt die Verurteilung eines Journalisten, der in einem Artikel aus nicht öffentlichen Sitzungsprotokollen einer Subkommission der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates zitiert hat. Im Übrigen hält das höchste Gericht an seiner umstrittenen Praxis fest, wonach in solchen Fällen von einem formellen Geheimnisbegriff auszugehen sei. Doch selbst wenn von einem materiellen Geheimnisbegriff ausgegangen würde und somit geprüft werden müsste, ob überhaupt ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse bestehe, hätte das Bundesgericht eine strafbare Veröffentlichung amtlich geheimer Verhandlungen bejaht.38
- Art. 305bis Ziff. 1 StGB (Geldwäscherei): Wer von einer Unbekannten Fr. 15 000 entgegennimmt, das Geld gleichentags auf drei Banken wechselt und dann gegen Entschädigung von Fr. 100 zurückgibt, macht sich der Geldwäscherei strafbar. Im zu beurteilenden Fall war erwiesen, dass es sich bei den Fr. 15 000 um Drogengeld handelte, was der Beschwerdeführer zwar nicht wusste. Nach Ansicht des Bundesgerichts reicht es für die Erfüllung des Tatbestands aber, dass die Transaktion aussergewöhnlich ist und Misstrauen erwecken musste.39
2. Nebenstrafrecht
2.1 Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer
- Art. 186 Abs. 1 DBG (privat genutztes Geschäftsfahrzeug und Steuerbetrug): Dient ein Fahrzeug sowohl geschäftlichen als auch privaten Zwecken, liegt eine inhaltlich unwahre Urkunde vor, wenn die Kosten für die Anschaffung des Fahrzeugs in der Erfolgsrechnung im vollen Umfang als Geschäftsaufwand verbucht werden. Auch bei einer teilweisen privaten Nutzung muss buchhalterisch zwingend ein Privatanteil ausgeschieden werden. Für den Tatbestand des Steuerbetrugs – im Vergleich zur blossen Steuerhinterziehung – muss der Gebrauch des Geschäftsfahrzeugs für private Zwecke von einer gewissen Erheblichkeit sein, ansonsten nicht von einer Falschaussage in der Jahresrechnung gesprochen werden kann.40
Das Bundesgericht stellt klar, dass sich die Steuerhinterziehungsabsicht nicht auf die laufende Steuerperiode beziehen muss. § 261 Abs. 1 StG/ZH und Art. 186 Abs. 1 DBG setzen nicht voraus, dass eine Steuerhinterziehung in derselben Steuerperiode angestrebt war. Angesichts der Möglichkeit des Verlustvortrags auf kommende Steuerjahre kann die Steuerhinterziehungsabsicht auch gegeben sein, wenn die Gesellschaft in der betreffenden Steuererklärung Verluste ausweist.41
2.2 Strassenverkehrsgesetz
- Art. 90a Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 263 Abs. 1 lit. d StPO (Beschlagnahme eines Raserwagens): Das Bundesgericht bestätigt die Beschlagnahme eines Fahrzeugs, mit dem ein Deutscher die Verkehrsregeln in der Schweiz qualifiziert verletzt hat. Der ausländische Autolenker muss damit rechnen, dass sein Fahrzeug im Hinblick auf eine spätere Einziehung einstweilen beschlagnahmt wird. Im Fall eines Halters ohne Wohnsitz in der Schweiz bejaht das Bundesgericht auch die Verhältnismässigkeit der Zwangsmassnahme, erachtet diese allerdings nur als «gerade noch vertretbar». Die Behörden müssen in solchen Fällen das Verfahren zügig durchführen.42
- Art. 2 Abs. 3 lit. b der Verordnung vom 22. Mai 2008 des ASTRA zur Strassenverkehrskontrollverordnung (VSKV-ASTRA; wer darf Strassenverkehrskontrollen durchführen?): Nach Art. 2 Abs. 3 lit. b VSKA-ASTRA muss das Personal, das Strassenverkehrskontrollen durchführt, «durch die zuständige Behörde zur Durchführung der Kontroll- und Auswertungstätigkeiten ermächtigt sein». Diese ASTRA-Vorschrift bedeutet aber nicht, dass jeder einzelnen Kontrolle eine separate Ermächtigung vorausgehen muss.43
2.3 Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördenmitglieder und Beamten
- Art. 15 VG (Ermächtigung): Das Bundesgericht kassiert die ohne rechtzeitige Ermächtigung erfolgte Verurteilung eines Bundespolizisten wegen angeblichen Betrugs. Gemäss Art. 15 Abs. 2 VG hätte unverzüglich nach der Strafanzeige des Fedpols um Ermächtigung nachgesucht werden müssen. Wird das Ermächtigungsverfahren erst zu einem späteren Zeitpunkt und nach (umfangreichen) Untersuchungshandlungen eingeleitet, wird die Schutzfunktion von Art. 15 VG unterlaufen. Im konkreten Fall führte der Verfahrensfehler zur Nichtigkeit des vorinstanzlichen Schuldspruchs.44
2.4 Bundesgesetz über die Ausländer (AuG)
- Art. 115 AuG (rechtswidriger Aufenthalt): Eine wegen rechtswidrigen Aufenthalts verurteilte Person hat bis vor Bundesgericht geltend gemacht, ihre Verurteilung verstosse gegen die Rechtsprechung des EU-Gerichtshofs, wonach Rückführungsmassnahmen strafrechtlichen Sanktionen vorgehen. Unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung hält das Bundesgericht fest, eine Verurteilung wegen rechtswidrigen Aufenthalts komme nur in Frage, wenn die Ausreise objektiv möglich ist45 und zuvor ein administratives Rückführungsverfahren in die Wege geleitet worden ist oder sich von vornherein als undurchführbar erweist.46
2.5 Jugendstrafrecht
- Art. 26 Abs. 3 und 34 Abs. 5 JStPO: Ist die Anklage beim Jugendgericht hängig, ist dieses und nicht das Zwangsmassnahmengericht zuständig für die Anordnung von Sicherheitshaft. Die Haftprüfung durch den Sachrichter ist im Jugendstrafverfahren zulässig. Anschliessend steht die Beschwerde ans Zwangsmassnahmengericht offen, danach diejenige an die kantonale Beschwerdeinstanz.47
3. Strafverfahren
3.1 Allgemein
- Art. 6 Ziff. 2 EMRK («in dubio pro reo»): Indem die Vorinstanz in einer Betäubungsmittelstrafsache den Anklagesachverhalt einzig gestützt auf eine unsichere Zeugenbefragung im Vorverfahren – ohne eigene Befragung des Hauptbelastungszeugen – als erwiesen betrachtet, hat sie gegen den Grundsatz «in dubio pro reo» verstossen und eine willkürliche Beweiswürdigung vorgenommen.48
- Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK (Konfrontationsrecht): Die Formulierung von Fragen der Verteidigung an den Belastungszeugen darf nicht mittels antizipierter Beweiswürdigung für nicht notwendig erklärt werden. Dies gilt auch, wenn das streitige Zeugnis nicht den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt. Unerheblich ist, dass die belastende Aussage lediglich eines von mehreren Gliedern einer Indizienkette bildet. Die Verteidigung verstösst nicht gegen Treu und Glauben, wenn sie nach Erhalt der Anklageschrift die Konfrontation mit Belastungszeugen verlangt. Ein Antrag auf Konfrontationseinvernahmen ist nach Praxis des Bundesgerichts verspätet, wenn der Antrag nicht bis zum Abschluss der erstinstanzlichen Hauptverhandlung erfolgt, sofern die Verteidigung bis dahin nach Treu und Glauben zur Antragstellung Anlass gehabt hätte.49
An der Konfrontationseinvernahme wurde die befragte Person auf Art. 180 Abs. 1 StPO hingewiesen, wonach sie als Auskunftsperson nicht zur Aussage verpflichtet ist. Obwohl der Verteidigung ermöglicht wurde, Ergänzungsfragen zu stellen, konnte sie ihr Fragerecht nicht wirksam ausüben, weil die befragte Person in der direkten Gegenüberstellung die Aussage verweigerte. Insofern konnte die Verteidigung ihre früheren Angaben nicht durch weitergehende Fragen auf ihren Beweiswert hin überprüfen und Widersprüche aufzeigen. Nach Ansicht des Bundesgerichts lag es vorliegend aber nicht in der Verantwortung der Behörden, dass die Verteidigung ihr Fragerecht nicht wahrnehmen konnte, und es erachtete die Verwertung der belastenden Aussagen trotz verletzten Konfrontationsanspruchs für zulässig.50
Setzt ein strafrechtlicher Tatbestand eine Beeinträchtigung des Verletzten voraus (in casu Art. 179septies StGB), darf auf dessen Befragung und auf die Klärung des subjektiven Empfindens des Empfängers nicht verzichtet werden, wenn der Beschuldigte einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Dies kann er jetzt offenbar auch wieder erstmals im Berufungsverfahren.51
Laut Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Angeklagte das Recht, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten. Nach Auffassung des Bundesgerichts ist dieses Recht relativer Natur. Das Gericht hat nur solchen Beweisanträgen zu folgen, die nach seiner Würdigung rechts- und entscheidungserheblich sind. Im vorliegenden Fall ist der Entlastungzeuge nur zur Aussage über die Glaubwürdigkeit der Anzeigestellerin angerufen worden. Der Glaubwürdigkeit einer Person kommt indes nur untergeordnete Bedeutung zu, da sie keine Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussagen erlaubt. Das Bundesgericht schützt die antizipierte Beweiswürdigung der Vorinstanz als nicht willkürlich.52
Ein Schuldspruch verletzt das Konfrontationsrecht, wenn er sich auf Aussagen eines Belastungszeugen stützt, der erstmals an der Hauptverhandlung konfrontiert wird, sich nicht mehr an die Ereignisse erinnert und nach entsprechendem Vorhalt lediglich seine früheren belastenden Aussagen bestätigt. Im Übrigen weist das Bundesgericht die kantonale Instanz darauf hin, dass unverwertbare Beweismittel auch nicht als Indiz für die Schuld des Angeklagten verwendet werden dürfen.53
- Art. 29 Abs. 2 BV (Anspruch auf rechtliches Gehör): Es entspricht einem aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör abgeleiteten Grundsatz, dass entscheidrelevante Tatsachen und Ergebnisse schriftlich festzuhalten sind (Protokollführungspflicht). Die Plädoyers der Verteidigung und/oder eingereichten Plädoyernotizen müssen laut Bundesgericht jedoch nicht protokolliert oder zu den Akten genommen werden.54
Zudem muss ein Betroffener im Rahmen der Beurteilung durch die konkordatliche Fachkommission zur Beurteilung von gemeingefährlichen Straftätern (KoFako) nicht persönlich angehört werden. Es genügt, wenn er im Rahmen des Entscheids der Vollzugsbehörden zur Empfehlung der KoFako Stellung beziehen kann.55
In Ausstandsverfahren steht das Replikrecht dem Gesuchsteller auch zu Stellungnahmen der Personen zu, deren Ausstand er beantragt hat, und es ist ihm genügend Zeit für die Einreichung der Stellungnahme einzuräumen. Vor Ablauf von 10 Tagen kann nicht von einem Verzicht auf das Replikrecht ausgegangen werden. Das Replikrecht hängt nicht von der Entscheidrelevanz der Eingaben ab.56
3.2 Schweizerische Strafprozessordnung
- Art. 5 StPO (Beschleunigungsgebot): Für das Bundesgericht ist es bedenklich, wenn eine kantonale Beschwerdeinstanz in einem Haftfall fast ein halbes Jahr benötigt, um einen Nichteintretensentscheid zu fällen. Ob das Beschleunigungsgebot verletzt sei, hat dannzumal aber der Sachrichter «unter der gebotenen Gesamtwürdigung» zu beurteilen.57
Ein Beschuldigter wurde zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Auf das erstinstanzliche Urteil wartete er sechs Jahre, was wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots zu einer Strafreduktion von 50 Prozent führte. Der Umfang der Reduktion wurde gemäss Bundesgericht zu Recht davon abhängig gemacht, wie schwer der Beschwerdeführer durch die Verfahrensverzögerung beeinträchtigt wurde.58
Das Bundesgericht stellt in einem Verfahren mit neun Monate dauernder Untätigkeit der Strafbehörden eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest, belässt den Untersuchungshäftling aber in Haft.59
- Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 325 StPO (Akkusationsprinzip): Das Bundesgericht kassiert ein Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau wegen Verletzung des Akkusationsprinzips im Zusammenhang mit dem Straftatbestand der Misswirtschaft (Art. 165 StGB).60 Auch wenn die Vorwürfe in der Anklageschrift sowohl zeitlich als auch mengenmässig vage erscheinen, erachtet das Bundesgericht das Akkusationsprinzip dennoch als nicht verletzt, da sich aus den Verweisen auf diverse Aktenstellen die angeklagten Taten näher eingrenzen liessen.61
Auch im Fall einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung hat das Bundesgericht eine Verletzung des Anklagegrundsatzes trotz bloss summarischer Sachverhaltsumschreibung und Verweis auf eine ärztliche «Handlungsanweisung» verneint.62 Obwohl ihm die Tat in der Anklageschrift nicht direkt vorgeworfen wurde, wurde ein Beschuldigter wegen mittäterschaftlich begangener mehrfach versuchter schwerer und einfacher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3,5 Jahren verurteilt. Das Bundesgericht hat eine Verletzung des Immutabilitätsgrundsatzes verneint.63
Andererseits bejaht das Bundesgericht eine Verletzung des Immutabilitätsgrundsatzes in einem Urteil zur Umschreibung des Tatbestandsmerkmals der unrechtmässigen Bereicherungsabsicht gemäss Art. 146 StGB.64
- Art. 56 lit. f StPO (Ausstand): Der Beschwerdeführer machte geltend, die das Strafverfahren leitende Staatsanwältin arbeite in der gleichen Abteilung wie der an der tätlichen Auseinandersetzung beteiligte Staatsanwalt, welcher sich im Strafverfahren als Privatkläger konstituiert habe. Deshalb sei die Unabhängigkeit der Staatsanwältin infrage zu stellen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab und verneint den Anschein der Befangenheit, da neben der beruflichen Beziehung zwischen der in der Strafbehörde tätigen Person und einer Verfahrenspartei eine über das Arbeitsverhältnis hinausgehende freundschaftliche Beziehung nicht nachgewiesen sei.65
Gemäss Bundesgericht verliert der Sachrichter seine Unabhängigkeit nicht, wenn er selbst als Verfahrensleiter dem Zwangsmassnahmengericht die Verlängerung der Sicherheitshaft beantragt. Zudem qualifiziert das Bundesgericht ein Ausstandsbegehren, welches erst einen Monat nach dem Hafterstreckungsgesuch eingereicht wurde, als verspätet.66
Der persönliche Konflikt zwischen einem Anwalt und einem Obergerichtspräsidenten kann einen Ausstandsgrund darstellen.67
- Art. 69 StPO (Öffentlichkeitsprinzip): Der Ausschluss der Öffentlichkeit muss verhältnismässig sein. Zudem muss ein angemessenes Verhältnis zwischen den Gründen für den Ausschluss der Öffentlichkeit und dem Interesse an der öffentlichen Verhandlung bestehen. Ein grundsätzlicher Ausschluss der Publikumsöffentlichkeit verletzt Art. 6 Ziff. 1 EMRK.68
- Art. 100 StPO (Aktenführungs- und Dokumentationspflicht): Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Strafprozessrechts, dass sämtliche im Rahmen des Verfahrens vorgenommenen Erhebungen aktenkundig gemacht werden. Das Akteneinsichtsrecht verblasst in seiner Substanz, wenn die zur Einsicht stehenden Akten lückenhaft sind. Demnach müssen alle prozessual relevanten Vorgänge von den Behörden in geeigneter Form festgehalten und die entsprechenden Aufzeichnungen in die Strafakten integriert werden. Aus den Akten muss ersichtlich sein, wer sie erstellt hat und wie sie zustande gekommen sind. Die Dokumentationspflicht hat unter anderem Garantiefunktion, da später festgestellt werden kann, ob die prozessualen Regeln und Formen eingehalten wurden. Die Akten ermöglichen den Parteien die Kontrolle, ob korrekt ermittelt wurde. Das Akteneinsichtsrecht soll sicherstellen, dass der Angeklagte als Verfahrenspartei von den Entscheidgrundlagen Kenntnis nehmen und sich wirksam und sachbezogen verteidigen kann. In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass die Beweismittel, jedenfalls soweit sie nicht unmittelbar an der gerichtlichen Hauptverhandlung erhoben werden, in den Untersuchungsakten vorhanden sein müssen und dass belegt sein muss, wie sie produziert wurden, damit der Angeklagte prüfen kann, ob sie inhaltliche oder formale Mängel aufweisen, und gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertung erheben kann. Die Anklagebehörde muss dem Gericht alles Material zuleiten, das mit der Tat als Gegenstand eines gegen eine bestimmte Person erhobenen Vorwurfs in thematischem Zusammenhang steht. Sie muss sämtliche Spurenvorgänge zur Kenntnis bringen, die im Verfahren Bedeutung erlangen können. Die Dokumentationspflicht gilt auf allen Verfahrensstufen, also auch bereits im polizeilichen Ermittlungsverfahren.69
Im selbständigen Einziehungsverfahren steht die Akteneinsicht auch jener Person zu, die einen direkten Zusammenhang zwischen der Anlasstat und seiner Geschädigtenstellung dartun kann.70
- Art. 117 Abs. 3 StPO (Stellung der Angehörigen des Opfers): Angehörige des bei einer Bluttat getöteten Opfers, die als Privatkläger Zivilansprüche geltend machen, müssen informiert werden, wenn der mutmassliche Täter aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft ist der Privatkläger aber nicht berechtigt, Haftentlassungsentscheide des Zwangsmassnahmengerichts anzufechten. Befürchten Angehörige des Opfers neue Straftaten, weil sie die mit der Haftentlassung angeordneten Ersatzmassnahmen nicht für ausreichend halten, können sie sich an die Staatsanwaltschaft wenden.71
Im Unterschied zur geschädigten Person und zum Opfer kann sich der Angehörige des Opfers als Privatklägerschaft nur konstituieren, wenn er im Strafverfahren eigene Zivilansprüche geltend macht. Es genügt nicht, dass er frei erfundene Zivilansprüche ohne jede Grundlage einbringt. Die Zivilansprüche müssen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit begründet sein. Ein strikter Nachweis ist aber nicht erforderlich. Dies ist Gegenstand des Prozesses.72
- Art. 121 Abs. 2 StPO (Rechtsnachfolge): Die Stiftung Sicherheitsfonds BVG, welche infolge der Liquidation der Vorsorgestiftung Insolvenzleistungen ausrichten musste, kann sich im Strafverfahren – obschon nur mittelbar geschädigt – als gesetzliche Rechtsnachfolgerin als Privatklägerin konstituieren.73
- Art. 127 u. Art. 129 StPO (Mehrfachverteidigung): Der freien Wahl der Verteidigung kann das Anwaltsrecht, das Strafprozessrecht und sogar die Parteirechte der übrigen Verfahrensbeteiligten entgegenstehen. Bei Mehrfach-Verteidigungsmandaten desselben Rechtsvertreters für verschiedene Mitbeschuldigte besteht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts grundsätzlich ein Interessenkonflikt, der gestützt auf das Anwaltsberufs- und Strafprozessrecht einen Verfahrensausschluss eines erbetenen privaten Verteidigers durch die Verfahrensleitung rechtfertigen kann. Von besonderen Ausnahmefällen abgesehen, dürfen Anwälte keine Mehrfachverteidigungen von Mitbeschuldigten ausüben.74
- Art. 129 StPO (Wahlverteidigung): Das Bundesgericht erachtet es als bundesrechtswidrig, ein zwei Wochen vor der Hauptverhandlung gestelltes Gesuch eines neu mandatierten Verteidigers auf Akteneinsicht und Terminverschiebung abzuweisen und das Verfahren zufolge Rückzugs der Einsprache abzuschreiben.75
- Art. 132 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 133 Abs. 2 StPO (von der erbetenen zur amtlichen Verteidigung): Bei notwendiger Verteidigung setzt die Bestellung eines Offizialverteidigers, dessen Kosten vom Staat zu bevorschussen sind, keinen Nachweis der finanziellen Bedürftigkeit des Beschuldigten voraus. Wenn der Beschuldigte seine finanzielle Bedürftigkeit (noch) nicht ausreichend dargelegt hat, kann dies zwar dazu führen, dass ihm am Ende des Verfahrens die Kosten der Offizialverteidigung auferlegt werden könnten (Art. 135 Abs. 2 i.V.m Abs. 4 lit. a StPO). Er verliert damit jedoch nicht sein gesetzlich gewährleistetes Vorschlagsrecht zur Person des Offizialverteidigers bei notwendiger Verteidigung. Dass die Vorinstanz das gesetzliche Vorschlagsrecht des Beschuldigten bei der Ernennung des Offizialverteidigers davon abhängig macht, dass der Beschuldigte der Staatsanwaltschaft seine finanziellen Verhältnisse offenlegen und der erbetene Verteidiger ihn dazu aktiv anhalten müsse, hält vor dem Bundesrecht nicht stand und verletzt überdies das strafprozessuale Verbot des Selbstbelastungszwangs (Art. 113 Abs. 1 StPO). Die Vorinstanz verkennt die gesetzliche Unterscheidung zwischen amtlicher Verteidigung bei notwendiger Verteidigung (Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO) und den übrigen Fällen der (unentgeltlichen) amtlichen Verteidigung mit den entsprechenden Substantiierungsobliegenheiten (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO).76
Dass die Sekretärin eines Anwaltes als Schwester des Beschuldigten in einen Interessen- oder Loyalitätskonflikt geraten könnte, ist kein Grund zur Ablehnung des Vorschlags des Beschuldigten im Rahmen der Anordnung einer amtlichen Verteidigung.77
Das Bundesgericht stellt einem Beschuldigten einen amtlichen Verteidiger zur Seite, um seine Entschädigungen nach Freisprüchen – in einem selbständigen Nachverfahren nach Art. 363 ff. StPO – geltend machen zu können.78 Das Vorschlagsrecht der beschuldigten Person ist aber unmissverständlich und frühzeitig (vor Einsetzung des Pikettanwaltes als amtlichen Verteidiger) auszuüben.79
- Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO (unentgeltliche amtliche Verteidigung): Auch der geständige Beschuldigte hat gemäss dem Prinzip der Waffengleichheit Anspruch auf Bewilligung einer amtlichen Verteidigung, sofern er mittellos ist.80
- Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO (unentgeltliche amtliche Verteidigung): Die psychische Belastung des Beschuldigten, innerfamiliäre Loyalitätskonflikte sowie der Grundsatz der Waffengleichheit (Hauptbeschuldigter und Opfer sind amtlich verbeiständet) sind Gründe, die eine Strafuntersuchung nicht mehr als Bagatellfall erscheinen lassen.81
- Art. 134 StPO (Widerruf der amtlichen Verteidigung): Ein rückwirkender Widerruf der amtlichen Verteidigung ist sowohl in formeller Hinsicht (Widerruf einer formell in Rechtskraft erwachsenen Verfügung) als auch in materieller Hinsicht (die Interessenabwägung schliesst die rückwirkende Aufhebung der amtlichen Verteidigung aus) bundesrechtswidrig.82
- Art. 135 Abs. 2 und 3 StPO (Anfechtung der Höhe der Entschädigung für die amtliche Verteidigung): Die Festsetzung der Entschädigung des amtlichen Verteidigers ist Gegenstand des Urteils und damit durch die Parteien – so auch durch die Staatsanwaltschaft – mittels Berufung anfechtbar. Der amtliche Verteidiger dagegen muss Beschwerde führen.83
- Art. 136 StPO (unentgeltliche Rechtspflege für die Privatklägerschaft): Einem Betroffenen, der nicht adhäsionsweise privatrechtliche Ansprüche geltend machen will oder kann, ist ausnahmsweise direkt auf Art. 29 Abs. 3 BV die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Dies gilt auch für die beschwerdeweise Anfechtung eines Einstellungsbeschlusses gegen die Beschuldigten.84
- Art. 144 StPO (telefonische Zeugenbefragungen): Nach Ansicht des Bundesgerichts sind telefonische Befragungen oder Einvernahmen von Geschädigten durch schweizerische Strafbehörden sowohl in der alten zürcherischen StPO als auch in der schweizerischen StPO nicht vorgesehen. Eine telefonisch durchgeführte Befragung ist als Beweismittel nicht verwertbar.85
Art. 147 StPO (Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen): Das Bundesgericht spricht sich im Grundsatz für die Parteiöffentlichkeit der Untersuchung und für die Teilnahmerechte der beschuldigten Person oder deren Verteidigung an Einvernahmen von Mitbeschuldigten aus. Die Teilnahmerechte der beschuldigten Person und der Verteidigung können aber aus wichtigen Gründen mittels anfechtbarer Verfügung eingeschränkt werden (analoge Anwendung von Art. 101 und Art. 108 StPO).86
- Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO («nemo tenetur se ipsum accusare»): Das Aussageverweigerungsrecht kann seinen Zweck letztlich nur erreichen, wenn das Schweigen des Beschuldigten grundsätzlich neutral registriert wird. Wer damit rechnen müsse, dass sein Schweigen als Schuldindiz oder in anderer Weise zu seinem Nachteil interpretiert werde, könne faktisch nicht mehr frei entscheiden, ob er aussagen wolle oder nicht. Ebenso darf das zeitweise (insbesondere vorgerichtliche) Schweigen grundsätzlich nicht als Schuldindiz gewertet werden. Nach Auffassung des Bundesgerichts erscheint es als heikel, dass das Teilschweigen des Beschuldigten in die Beweiswürdigung eingeflossen ist.87
- Art. 198 i.V.m. Art. 241 StPO; Art. 246 und Art. 141 StPO (Durchsuchungsbefehl als blosse Ordnungsvorschrift): Die Polizei darf eine Person anhalten, um ihre Identität festzustellen, sie kurz zu befragen und abzuklären, ob sie eine Straftat begangen hat oder ob sich in ihrem Gewahrsam Gegenstände befinden, nach denen gefahndet wird (Art. 215 StPO). Dafür bedarf es keiner vorgängigen Anordnung oder Bewilligung der Staatsanwaltschaft. Eine Durchsuchung von Unterlagen – ob auf Papier oder elektronisch gespeichert – sprengt indes laut Bundesgericht den Rahmen einer blossen Anhaltung. Das Konsultieren des Adressbuches in einem iPhone ist daher weder eine blosse Effektenkontrolle noch eine Sicherheitsuntersuchung, sondern eine Durchsuchung von Aufzeichnungen, die grundsätzlich vom Staatsanwalt oder vom Richter angeordnet werden muss (Art. 198 i.V.m. Art. 241 StPO). Da im beurteilten Fall auch keine Situation von «Gefahr im Verzug» vorlag, war das eigenmächtige Vorgehen der Polizei «regelwidrig». Verletzt sei allerdings lediglich eine Ordnungsvorschrift, weshalb der durch den unstatthaften Blick ins iPhone-Adressbuch gefundene Zeuge trotzdem vor Gericht habe aussagen dürfen.88
- Art. 212 Abs. 3 StPO (Überhaft): Auch eine zu erwartende therapeutische Massnahme rechtfertigt die Anordnung von Präventivhaft. Zudem sind auch auf Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Massnahmevollzug hin die Haftvoraussetzungen zu prüfen.89 In einem anderen Fall wird der Beschuldigte in einem Verfahren wegen Verdachts der Begünstigung nach über sieben Monaten vom Bundesgericht direkt aus der Haft entlassen.90
- Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO (Haft wegen Fluchtgefahr): Ein Beschuldigter ist erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von 6 ¼ Jahren verurteilt worden. Dieses erstinstanzliche Sachurteil ist gemäss Bundesgericht geeignet, bisher nicht bestehende Fluchtgefahr – der Beschwerdeführer war mehrmals im Ausland und hat nie Anstalten zur Flucht getroffen – zu begründen. Gemäss Bundesgericht muss er seit dem erstinstanzlichen Urteil mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als zuvor mit einer langjährigen Freiheitsstrafe rechnen.91
Eine mögliche Flucht eines Beschuldigten nach Deutschland ist für die schweizerische Justiz – trotz den diversen staatsvertraglichen Übereinkommen – ein derart grosses Problem, dass ihm nur durch die einschneidende Zwangsmassnahme der Untersuchungshaft entgegnet werden kann.92
- Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO (Haft wegen Kollusionsgefahr): Obwohl das Bundesgericht grundsätzlich konkrete Indizien für drohende Kollusionshandlungen fordert, lässt es im konkreten Fall eine rein theoretisch denkbare Kollusionsgefahr genügen. Es reicht nun offenbar, dass Kollusionshandlungen nicht ausgeschlossen werden können.93
Zudem liegt bei Untersuchungshaft bei häuslicher Gewalt gemäss Bundesgericht regelmässig Kollusionsgefahr vor, jedenfalls zu Beginn der Untersuchung.94
- Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO (Haft wegen Wiederholungsgefahr): Das Bundesgericht wirft den kantonalen Behörden eine Verletzung des Beschleunigungsgebots vor und ordnet die sofortige Haftentlassung an, falls innert drei Tagen kein psychiatrisches Kurzgutachten vorliegt, in dem eine erhebliche Rückfalls- bzw. Ausführungsgefahr des Beschuldigten für schwerwiegende Delikte klar bejaht wird.95
Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde in einer Haftsache wegen Wiederholungsgefahr gut. Der Beschuldigte wird verdächtigt, seinen neugeborenen Sohn mehrfach massiv misshandelt zu haben. Obwohl der Sohn inzwischen fremdplatziert ist, befindet sich der Beschuldigte seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Das Bundesgericht ist der Meinung, dass dies nicht mehr verhältnismässig ist.96
- Art. 224 Abs. 2 StPO (Haftantrag der Staatsanwaltschaft): Nach Art. 224 Abs. 2 StPO reicht die Staatsanwaltschaft ihren Haftantrag schriftlich ein. Ein E-Mail erfüllt die Schriftform für das Bundesgericht auch im Haftverfahren ebenso wenig wie ein Fax.97
- Art. 228 i.V.m. Art. 90 StPO (Haftentlassungsgesuch): Das Bundesgericht hält fest, dass Faxeingaben nicht fristauslösend sind, und kommt unter Hinweis auf Art. 90 StPO zum Schluss, dass die Fristen nach Art. 228 Abs. 2 StPO grundsätzlich nicht nach Kalendertagen, sondern nach Arbeitstagen zu berechnen sind.98
- Art. 231 StPO (Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil): Auch die nach Art. 231 StPO angeordnete Sicherheitshaft ist zu befristen. Die Regeln von BGE 137 IV 180 sind damit auch bei der Sicherheitshaft nach erstinstanzlichem Urteil anwendbar.99 Im Berufungsverfahren soll es keine automatische periodische Überprüfung der Sicherheitshaft geben.100 Klar ist aber, dass die Untersuchungshaft mit dem erstinstanzlichen Urteil endet.101
Laut BGE 138 IV 81 ist die Haftanordnung im Rahmen eines Berufungsentscheids als separate schriftliche Verfügung mit zumindest kurzer Begründung auszufertigen und innert kürzester Frist zu eröffnen. Diese Regeln gelten gemäss einem neuen Urteil auch im erstinstanzlichen Verfahren.102
In einem Strafverfahren wurde ein Beschuldigter in Sicherheitshaft genommen, ohne dass er dazu angehört worden war. Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass die Gehörsverletzung im kantonalen Beschwerdeverfahren geheilt wurde, auch weil gegen den Beschwerdeführer in einem anderen, neuen Verfahren (Gewalt und Drohung gegen Beamte) Untersuchungshaft angeordnet worden war.103
In einem Haftbeschwerdeverfahren hat die kantonale Beschwerdeinstanz unter anderem festgestellt, dass der dringende Tatverdacht im Verfahren vor Zwangsmassnahmengericht ungenügend belegt war. Im Beschwerdeverfahren konnte dieser Mangel unter Wahrung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers behoben werden. Gemäss Bundesgericht führt dies aber weder zur Haftentlassung noch zur Feststellung, dass der Beschwerdeführer bis zum Entscheid der Beschwerdeinstanz zu Unrecht inhaftiert war. Immerhin muss im Urteilsdispositiv die Gehörsverletzung festgestellt werden.104
- Art. 232 StPO (Sicherheitshaft während eines Verfahrens vor dem Berufungsgericht): Entscheidet der Präsident des Berufungsgerichts während der Berufungsverhandlung, die in Haft zu setzende Person vorführen zu lassen, muss er deswegen für den Sachentscheid nicht in den Ausstand treten.105
Wenn das erstinstanzliche Gericht es versäumt, über die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft des Verurteilten zu befinden, ist es angebracht, in Anlehnung an die Regelung von Art. 232 StPO die Zuständigkeit der Verfahrensleitung der Berufungsinstanz für die Behebung dieses Mangels anzuerkennen. Das Fehlen eines gültigen Inhaftierungstitels während einer gewissen Zeitspanne führt nicht alleine dazu, den Beschuldigten wieder auf freien Fuss zu setzen. Ungeachtet der formellen Unregelmässigkeit ist eine solche Massnahme nicht in Betracht zu ziehen, wenn die materiellen Voraussetzungen eines Fortbestehens der Haft erfüllt sind.106
- Art. 236 StPO (Vorzeitiger Straf- und Massnahmevollzug): Kollusionsgefahr schliesst vorzeitigen Strafvollzug nicht aus. Für den vorzeitigen Strafvollzug ist, auch wenn er in einer Strafanstalt erfolgt, grundsätzlich das Haftregime der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft massgebend. Die für den ordentlichen Strafvollzug geltenden Vollzugserleichterungen können nach Massgabe der Erfordernisse des Verfahrenszwecks und gemäss den Notwendigkeiten, die sich aus der Kollusionsgefahr ergeben, beschränkt werden (Art. 236 Abs. 4 StPO).107
Im vorzeitigen Strafvollzug ist keine automatische periodische Haftprüfung durchzuführen.108
- Art. 241 StPO (Anforderungen an den Inhalt eines Durchsuchungsbefehls): Das Bundesgericht beschreibt die hohen Anforderungen an den Inhalt eines Durchsuchungsbefehls: Gemäss Art. 241 Abs. 2 StPO bezeichnet ein Durchsuchungsbefehl die zu durchsuchenden Personen, Räumlichkeiten, Gegenstände oder Aufzeichnungen (lit. a), den Zweck der Massnahme (lit. b) und die mit der Durchführung beauftragten Behörden oder Personen (lit. c). Die Notwendigkeit inhaltlicher Mindestangaben erlaubt es, den Umfang der Zwangsmassnahme zu definieren. Sie bezweckt, eine Beweisausforschung (sog. «fishing expedition») zu verhindern. Gemäss Art. 241 Abs. 2 lit. b StPO ist deshalb insbesondere der Zweck der Massnahme anzugeben, was neben dem eigentlichen Legalzweck auch die Bezeichnung der verfolgten Straftat umfasst. Der Detaillierungsgrad der Angaben definiert sich nach der beschriebenen Begrenzungsfunktion und muss eine nachträgliche Überprüfung der Zwangsmassnahme erlauben.109
- Art. 248 StPO (Siegelung): Das Bundesgericht beantwortet wichtige Fragen rund um das nachträgliche Siegelungsbegehren, insbesondere im Zusammenhang mit der rechtsgenüglichen Rechtsbelehrung durch die Untersuchungsbehörden. Hat die Untersuchungsbehörde rechtzeitige Information versäumt, muss dem betroffenen Laien grundsätzlich das Recht zustehen, die Siegelung auch nachträglich zu verlangen.110 Ein Siegelungsantrag kann auch verspätet erfolgen.111
Unklar ist weiterhin, ob der gesetzlich vorgeschriebene Ausschluss der StPO-Beschwerde in Entsiegelungsangelegenheiten gilt oder aufgrund des «double instance- Prinzips» (zuerst) Beschwerde an die kantonale Beschwerdeinstanz ergriffen werden muss.112
Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass auch andere Verfahrensbeteiligte im Entsiegelungsverfahren mitwirken können, wenn sie in ihren Rechten unmittelbar betroffen sind (Art. 105 Abs. 2 StPO).113 Manchmal heisst das Bundesgericht das vom Zwangsmassnahmengericht mangels hinreichenden Tatverdachts abgewiesene Entsiegelungsgesuch gleich reformatorisch gut.114
Zudem besteht – je nach den Umständen – ein vorsorglicher Rechtsschutz in Siegelungsverfahren.115
Das Berufsgeheimnis eines Anwalts, der im untersuchten Sachzusammenhang selber beschuldigt ist, steht einer Entsiegelung bzw. Beschlagnahme einschlägiger Unterlagen nicht entgegen (vgl. Art. 264 Abs. 1 lit. c i.V.m. Abs. 3 StPO). Auch das Bankkundengeheimnis (Art. 47 BankG) kann gesetzeskonformen Untersuchungsmassnahmen zur Aufklärung von Straftaten nicht entgegengehalten werden. Soweit der Beschwerdeführer Geheimnisschutzinteressen von Dritten (insbesondere seiner Klientschaft) anruft, ist er zudem nicht legitimiert, deren Interessen im eigenen Namen wahrzunehmen (vgl. Art. 81 BGG i.V.m. Art. 248 Abs. 1 StPO).116
Im Verwaltungsstrafverfahren muss ein Gesuch um Entsiegelung nicht unbedingt innert 20 Tagen gestellt werden, wie das in der Strafprozessordnung vorgesehen ist. Diese Bestimmung gilt laut einem neuen Leitentscheid des Bundesgerichts nur für gerichtliche Verfahren. Allerdings hat die untersuchende Verwaltungsbehörde selbstverständlich dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen ausreichend Rechnung zu tragen.117
- Art. 264 Abs. 1 lit. c StPO (Beschlagnahme einer Krankengeschichte): Das Bundesgericht erachtet die Entsiegelung einer durch die Staatsanwaltschaft beim behandelnden Therapeuten beschlagnahmten psychiatrischen Krankengeschichte einer beschuldigten Person als bundesrechtswidrig. Es stellt das Arztgeheimnis über die Strafverfolgungsinteressen der Staatsanwaltschaft.118
- Art. 270 lit. b StPO (Telefonische Überwachung von Drittpersonen): Die Staatsanwaltschaft darf auch den Telefonanschluss einer unbescholtenen und unverdächtigen Drittperson überwachen lassen, wenn zu erwarten ist, dass ein gesuchter mutmasslicher Straftäter dort anrufen wird. Dies gilt allerdings nur, bis der Verdächtige anruft. Danach müssen die Telefonate über seinen Anschluss abgehört werden.119
- Art. 273 Abs. 3 StPO/ Art. 14 Abs. 4 BÜPF (rückwirkende Internet-Teilnehmeridentifikation): Bei einer über das Internet begangenen Straftat kommt Art. 14 Abs. 4 BÜPF zur Anwendung. Diese Bestimmung geht Art. 273 Abs. 3 StPO als «lex specialis» vor. Art. 14 Abs. 4 BÜPF sieht keine zeitliche Befristung für die rückwirkende Erhebung von Daten vor.120 Bei einer rückwirkenden Randdatenerhebung im Rahmen einer Telefonüberwachung können Auskünfte streng nach dem Wortlaut des Gesetzes (Art. 273 Abs. 3 StPO) nur sechs Monate rückwirkend verlangt werden.121
- Art. 310 Abs. 1 lit. a StPO (Nichtanhandnahme eines Strafverfahrens): Der Grundsatz in «dubio pro duriore» gilt auch für die Frage einer schweizerischen Gerichtsbarkeit im Zusammenhang mit einem Betrugsverdacht. Wenn die Frage, ob der Ort der Vermögensdisposition als Erfolgsort gilt, höchstrichterlich noch nicht entschieden ist und im Schrifttum zudem beachtliche Gründe für eine derartige Auffassung vorgebracht werden, lässt sich nicht ernsthaft annehmen, die Zuständigkeit der Schweizer Behörden zur Strafverfolgung sei offensichtlich nicht gegeben. Nach Rechtsprechung kann der Umstand, dass Präjudizien zur Anwendung des materiellen Strafrechts fehlen, denn auch ein Kriterium darstellen, das im Zweifel für eine Anklageerhebung spricht.122
- Art. 331 Abs. 2 StPO (Beweisantragsrecht der Verteidigung): Einem Entscheid des Bundesgerichts ist zu entnehmen, wie man argumentieren müsste, um die neuerliche Befragung einer bereits unter Gewährung der Teilnahmerechte einvernommenen Person durchzusetzen: «Dass er sein Fragerecht im Verfahren vor erster Instanz generell nicht ausüben konnte, macht der Beschwerdeführer vor Bundesgericht nicht geltend. Er bringt auch nicht vor, er habe einzelne Fragen stellen wollen, die nicht zugelassen wurden. Ebenso wenig beruft er sich darauf, eine nochmalige Befragung vor Vorinstanz wäre aufgrund neuer relevanter Tatsachen unerlässlich gewesen. Er legt mithin nicht dar, weshalb es zur effektiven Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte notwendig gewesen wäre, dass ihm vor der Vorinstanz erneut die Möglichkeit zur Befragung von X. hätte eingeräumt werden müssen.»123
- Art. 355 Abs. 2 StPO (Rückzugsfiktion bei Einsprache gegen Strafbefehl): Die Staatsanwaltschaft verletzt den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn sie eine ihr bekannte Auslandabwesenheit einer beschuldigten Person dazu «nutzte», nicht auf eine Einsprache einzutreten.124
Werden die Bestimmungen der Strafprozessordnung verfassungskonform ausgelegt, darf ein konkludenter Rückzug der Einsprache gegen den Strafbefehl nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen ergibt, er verzichte bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz. Der vom Gesetz an das unentschuldigte Fernbleiben geknüpfte (fingierte) Rückzug der Einsprache setzt deshalb voraus, dass sich der Beschuldigte der Konsequenzen seiner Unterlassung bewusst ist und er in Kenntnis der massgebenden Rechtslage auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet.125
Die Bezahlung von Busse und Kosten während des hängigen Einspracheverfahrens darf von den Strafbehörden nicht ohne Weiteres als konkludenter Rückzug der Einsprache gedeutet werden.126
Art. 363 StPO (Zuständigkeit bei selbständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts): Laut Bundesgericht kann die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme nachträglich auch vom Berufungsgericht angeordnet werden, obwohl dafür das erstinstanzliche Gericht zuständig ist. Beantragt hingegen die Vollzugsbehörde eine nachträgliche Anordnung der Verwahrung, ist nach Art. 65 Abs. 2 das Revisionsgericht zuständig (Art. 21 Abs. 1 lit. b StPO i.V.m. Art. 410 ff. StPO). Dies gilt auch im Rückweisungsverfahren.127
Wenn die Anträge der Vollzugsbehörden vom Gericht abgewiesen werden, erachtet es das Bundesgericht für bundesrechtswidrig, der verurteilten Person die Kosten des vollzugsrechtlichen Nachverfahrens aufzuerlegen.128
- Art 382 Abs. 1 i.V.m. Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO (Legitimation zur Berufung): Auch der Privatkläger, der sich nur als Strafkläger beteiligt, ist legitimiert zur Berufung gegen einen Freispruch.129 Ficht die Privatklägerschaft einen Freispruch oder einen als unrichtig beurteilten Schuldspruch an, kann sie entgegen einer in der Doktrin vertretenen Meinung auch eine damit korrespondierende Änderung des Strafmasses beantragen.130
- Art. 398 Abs. 2 StPO (Novenrecht): Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass Noven im kantonalen Beschwerdeverfahren zulässig sind.131
- Art. 399 Abs. 3 lit. c StPO (Beweisanträge im Berufungsverfahren): Laut Bundesgericht ist es nicht zulässig, Beweisanträge, die in der Berufungserklärung gestellt werden, als verspätet und damit als verwirkt abzuweisen.132
- Art. 404 Abs. 2 StPO (Umfang der Überprüfung): Die Vorinstanz hat das Verfahren nach Art. 406 Abs. 1 lit. e StPO ausschliesslich auf die Beurteilung von Rechtsfragen beschränkt. Macht sie in diesen Fällen von Art. 404 Abs. 2 StPO Gebrauch, bleibt ihre Überprüfungskompetenz ebenfalls auf Rechtsfragen beschränkt. Mit der Ausdehnung des Berufungsverfahrens auf Sachfragen waren die Voraussetzungen zur Durchführung des schriftlichen Verfahrens vorliegend nicht mehr gegeben, und die Vorinstanz hätte ins mündliche Verfahren wechseln müssen. Daran ändert auch das Einverständnis des Beschwerdeführers (und des Beschwerdegegners) nichts, denn dies bezog sich nur auf die Durchführung des schriftlichen Verfahrens gemäss Art. 406 Abs. 1 lit. a StPO. Indem die Vorinstanz die Parteien nicht über die Änderung des Prozessgegenstandes informiert und ihnen keine Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt hat, verletzt sie entsprechende Verfahrensvorschriften.133
- Art. 426 Abs. 2/ 430 Abs. 1 lit. a StPO (Kostenauflage bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens): Die Vorinstanz begründet die Kostenauflage mit «allgemeinen Verhaltensnormen» im Strassenverkehr und erwähnt insbesondere Art. 31 SVG (Beherrschen des Fahrzeugs), Art. 3 Abs. 1 VRV (Bedienung des Fahrzeugs) sowie Art. 4 Abs. 1 VRV (angemessene Geschwindigkeit). Diese Vorschriften mögen allgemeine Verhaltensnormen sein, sie stellen jedoch gleichzeitig Verkehrsregeln dar, deren Verletzung durch Art. 90 SVG strafrechtlich zu ahnden ist. Kommt die Vorinstanz zum Schluss, das Verfahren sei rechtmässig nach Art. 319 lit. e StPO i.V.m. Art. 52 StGB eingestellt worden, kann sie dieselben Strafnormen, die zu keiner Verurteilung geführt haben, nicht zur Begründung einer Sorgfaltspflichtsverletzung des Beschuldigten heranziehen.134
Art. 426 StPO ist aber bei Einsprache gegen einen Strafbefehl und teilweisem Freispruch im gerichtlichen Verfahren nicht analog der Kostenregelung im Rechtsmittelverfahren auszulegen, wonach die Parteien die Kosten nach Massgabe ihres Obsiegens oder Unterliegens zu tragen haben (Art. 428 StPO).135
Auch wenn eine präzise Aufteilung der auf zwei verschiedene Anklagesachverhalte entfallenden Aufwendungen nicht möglich ist, muss eine Ausscheidung der Kosten und damit auch die Zusprechung einer Parteientschädigung nach Ermessen vorgenommen werden. Kriterien bei der Kostenaufteilung sind unter anderem die Anzahl und die Bedeutung der einzelnen Anklagepunkte, der darauf entfallene Aufwand, das Verhältnis zwischen den beantragten und den ausgesprochenen Sanktionen oder Nebenfolgen.136
- Art. 429 StPO (Anspruch der beschuldigten Person auf Entschädigung und Genugtuung): Entscheide über die in Art. 429 Abs. 1 StPO vorgesehenen Ansprüche auf Entschä