1. Strafrecht
1.1 Allgemeine Bestimmungen
Art. 30 StGB (Strafantrag): Wer sich im Rahmen eines Offizialdelikts (in casu: Brandstiftung) als Zivilkläger konstituiert, stellt bezüglich allfälliger Antragsdelikte (in casu: Sachbeschädigung) nicht rechtsgültig Strafantrag. Die adhäsionsweise Geltendmachung einer Zivilforderung allein genügt nicht, um als Verlautbarung des bedingungslosen Willens zur Strafverfolgung eines Täters auch bezüglich allfälliger Antragsdelikte zu gelten.2
Bei einem Einbruch in eine Waldhütte (Clubhaus) eines Vereins (Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, geringfügiger Diebstahl) ist ein normales Vereinsmitglied nicht berechtigt, Strafantrag zu stellen. Das Strafantragsrecht steht dem Vereinsvorstand respektive dem Präsidenten zu und die Vereinsmitglieder erleiden nur einen mittelbaren Schaden.3
Der Verletzte ist frei, durch entsprechende Umschreibung des Sachverhalts, den er zur Verfolgung stellt, den Strafantrag beliebig zu beschränken.4
Art. 46 StGB (Nichtbewährung): Eine bedingt oder teilbedingt aufgeschobene Freiheitsstrafe kann nicht bloss teilweise widerrufen werden.5
Art. 47 ff. StGB (Strafzumessung): Der Umstand, dass der Täter ein Ausländer oder ein Asylbewerber ist, kann keine Straferhöhung begründen. Ein allfälliger «Missbrauch des Gastrechts» darf nicht straferhöhend berücksichtigt werden. Im entsprechenden Fall hatte das Bundesstrafgericht die Straferhöhung damit begründet, dass der Beschuldigte in der Schweiz Aufnahme gefunden und durch medizinische Betreuung gesundheitliche Fortschritte erlebt, diese Umstände aber dazu missbraucht habe, sich an einer international tätigen hochgefährlichen terroristischen Organisation (ISIL) zu beteiligen.6
In einem lesenswerten Entscheid legt das Bundesgericht die massgebenden Regeln zur Strafzumessung im Rahmen eines Notwehrexzesses dar. Entscheidend ist dabei, ob ein sorgfältig beobachtender «Verteidiger» das vom Angeklagten an den Tag gelegte Verteidigungsverhalten aufgrund des konkreten Tatgeschehens für erforderlich gehalten hätte. Erforderlich ist diejenige Verteidigung, die aufgrund eines objektiven Ex-ante-Urteils geeignet erscheint, den Angriff endgültig zu beenden, und unter gleich geeigneten Mitteln dasjenige darstellt, das den Angreifer am wenigsten schädigt.7
Art. 59 StGB (Stationäre therapeutische Massnahme): Die Anordnung einer stationären Massnahme ist nur dann verhältnismässig, wenn die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich mit der Behandlung des Betroffenen während der Normaldauer von fünf Jahren eine tatsächliche Reduktion des Rückfallrisikos erreichen lässt. Erforderlich ist zudem eine vernünftige Zweck-Mittel-Relation und eine sorgfältige Analyse der schweren psychischen Störung, des Rückfallrisikos und der Freiheitsstrafe.8
Die Einweisung in eine bestimmte Institution im Rahmen des Vollzugs einer stationären Massnahme ist beschwerdefähig. Die Einweisung in eine bestimmte geschlossene Einrichtung im Sinne von Art. 59 Abs. 3 StGB ist eine Vollzugsfrage, die richtigerweise von der Vollzugsbehörde beurteilt werden muss. Sie betrifft nicht die Massnahme als solche und ist keine eigenständige stationäre therapeutische Massnahme.9
Zudem ist bei Anordnung einer stationären Massnahme eine schriftliche Begründung des Urteils zwingend.10
An die Behandlungsbereitschaft und die Behandlungswilligkeit im Rahmen einer stationären therapeutischen Massnahme stellt das Bundesgericht weiterhin keine hohen Anforderungen.11
Art. 63b Abs. 5 StGB (Nachträgliche Anordnung einer ambulanten Massnahme): Die mit BGE 134 IV 246 E. 3.4 begründeten Rechtsprechung, wonach nach Aufhebung einer ambulanten Massnahme kein Raum für eine andere ambulante Massnahme besteht, wird aufgegeben. Dass eine ambulante Therapie nicht die erhoffte Wirkung zeigt und als aussichtslos eingestuft wird, bedeutet nicht, dass auch eine andere ambulante Therapie nicht zielführend sein wird.12
Art. 64 StGB (Verwahrung): Eine Verurteilung wegen versuchter schwerer Körperverletzung (Tritte und Schläge gegen den Kopf) erfüllt die qualifizierten Anforderungen an eine Anlasstat gemäss Art. 64 Abs. 1 StGB nicht zwingend. Die blosse Erfüllung eines Anlasstatbestands genügt nicht. Für die Verwahrung kommen nur «schwere» Straftaten als Anlasstaten in Betracht.13
Art. 62c Abs. 4 StGB (Nachträgliche Verwahrung): Nicht alle sexuellen Handlungen mit Kindern, die den Tatbestand von Art. 187 StGB erfüllen, sind auch geeignet, die sexuelle und psychische Integrität des Opfers schwer zu beeinträchtigen. Die in casu vom Beschwerdeführer begangenen Übergriffe (Manipulationen an den Genitalien eines Knaben) erreichen, ohne sie verharmlosen zu wollen, innerhalb der Bandbreite möglicher sexueller Handlungen mit Kindern das hinsichtlich ihrer Schwere und Intensität erforderliche Mass nicht.
Damit fehlt es an einer relevanten Straftat und somit an einer zwingenden Voraussetzung von Art. 64 Abs. 1 StGB. Zudem werden in Konstellationen, in denen die Erheblichkeitsschwelle erreicht ist und eine schwerwiegende Integritätsverletzung bejaht werden muss, die Anforderungen an die Wahrung der Verhältnismässigkeit mit zunehmender Länge des Freiheitsentzugs strenger. Vermessen werden muss das Spannungsverhältnis zwischen Rückfallgefahr, Schwere der Delikte (Progredienz der Tatschwere) und Dauer des Freiheitsentzugs.14
Art. 63b Abs. 5 StGB (Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre Massnahme nach vollständiger Strafverbüssung): Das Bundesgericht erachtet eine Umwandlung einer gescheiterten ambulanten Behandlung in eine stationäre Massnahme gestützt auf Art. 63b Abs. 5 StGB auch nach vollständiger Strafverbüssung als zulässig. Vorausgesetzt ist eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und damit eine besondere Gefährlichkeit des Betroffenen (in casu bejaht). Zudem muss eine stationäre Behandlung im Vergleich zur (aufgehobenen) ambulanten Therapie einen legalprognostischen Mehrwert aufweisen (in casu verneint).15
Art. 97 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 1 Abs. 2 lit. j und Art. 36 JStG (Ende der Verfolgungsverjährung in Jugendstrafverfahren): Art. 97 Abs. 3 StGB hat entgegen dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 lit. j JStG auch im Jugendstrafrecht Gültigkeit. Auch in einem Jugendstrafverfahren tritt die Verjährung nicht mehr ein, wenn vor Ablauf der Verjährungsfrist nach Art. 36 JStG ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist.16
Art. 102 StGB (Strafbarkeit des Unternehmens): Voraussetzung für die Verantwortlichkeit des Unternehmens ist, dass die Straftat in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks begangen wurde. Die Bestimmung von Art. 102 StGB begründet keine Kausalhaftung.17
1.2 Besondere Bestimmungen
Art. 122 i.V.m. Art. 22 StGB (Versuchte schwere Körperverletzung): Das Bundesgericht erhöht die Voraussetzungen zur Annahme von Eventualvorsatz. Es erachtet es als unhaltbar, dass die Vorinstanz unter Berufung auf die Dissertation von Vera Mai, «Forensisch-Biomechanische Aspekte des Kopfstosses» (Diss. Institut für Rechtsmedizin München 2012), erwogen hat, es sei allgemein bekannt, dass Kopfstösse erhebliche Folgeschäden nach sich ziehen könnten und neben Knochenbrüchen auch dauerhafte Augenschäden, Schädel-Hirn-Traumen oder Hirnblutungen mit bleibenden Schäden eine häufig beobachtete Folge seien. Auch wenn als bekannt vorausgesetzt werden kann, dass der Kopf gegenüber Schlägen, Stössen und Tritten besonders sensibel ist und Kopfstösse zu Verletzungen wie Riss-Quetsch-Wunden, Nasenbluten und Nasenbeinbrüchen sowie unter besonderen Umständen zu Frakturen im Gesichtsbereich führen können, erweist sich der fälschlicherweise als Allgemeinwissen titulierte Erfahrungsschatz, ein Kopfstoss mit massiver Kraft habe regelmässig schwere und bleibende Schäden oder eine lebensgefährliche Verletzung zur Folge, als nicht haltbar und vermag schon unter tatsächlichen Gesichtspunkten keinen Eventualvorsatz hinsichtlich einer schweren resp. lebensgefährlichen Körperverletzung i.S.v. Art. 122 StGB begründen.
Dass eine Tathandlung abstrakt geeignet ist, eine schwere Körperverletzung i.S.v. Art. 122 StGB herbeizuführen, genügt für sich nicht ohne Weiteres, um (Eventual-)Vorsatz des Täters hinsichtlich einer der in Art. 122 StGB beschriebenen Folgen anzunehmen. Dies ergibt sich bereits aus dem Tatbestand der qualifiziert einfachen Körperverletzung gemäss Art. 123 Ziff. 2 Abs. 1 StGB, der gerade der besonderen Gefährlichkeit der Tathandlung Rechnung trägt.
Die Körperverletzung muss mit einem Tatmittel (Gift, Waffe oder ein gefährlicher Gegenstand) verübt werden, das ein hohes Risiko einer schweren Körperverletzung i.S.v. Art. 122 StGB bewirkt (vgl. BGE 111 IV 123). Gelten jedoch Körperteile wie Arme und Beine oder Schultern nach einhelliger Auffassung nicht als gefährliches Werkzeug i.S.v. Art. 123 Ziff. 2 Abs. 1 StGB, müssen bei abstrakt lebensgefährlichen Tathandlungen ohne Tatwerkzeuge weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall auf den Eintritt und die Inkaufnahme einer schweren Verletzung i.S.v. Art. 122 StGB schliessen lassen.18
Art. 138 StGB (Veruntreuung): Indem das Leasingfahrzeug dem Beschuldigten von der Garage überlassen wurde (nachdem er es vorgängig auswählte, die Verträge dem Geschäftsführer der GmbH als Leasingnehmerin unterbreitete, das Fahrzeug in Empfang nahm und das Übergabeprotokoll unterzeichnen liess), erhielt er Verfügungsmacht und das Fahrzeug wurde ihm anvertraut. Bei der Verfügungsmacht handelt es sich um ein faktisches (nicht rechtliches) Verhältnis. Unerheblich ist, dass der Beschuldigte nicht Vertragspartei des Leasingvertrags war.
Ob der Täter die Sache vom Verletzten selbst (Garage) oder von einem Dritten (GmbH) erhielt, ist für die strafrechtliche Beurteilung nicht wesentlich. Der Betroffene ist deshalb wegen Veruntreuung und nicht wegen unrechtmässiger Aneignung zu bestrafen.19
Art. 146 StGB (Betrug): Im Sozialversicherungsrecht ist ein Vermögensschaden gegeben, wenn der Versicherte auf die ausgezahlten Leistungen keinen Anspruch hatte. Ein solcher liegt demnach vor, wenn die Ärzte und Gutachter, hätten sie von den falschen Vorbringen des Beschuldigten und den von diesem verheimlichten Aktivitäten Kenntnis gehabt, zu einer anderen Beurteilung gelangt wären und im konkreten Fall die A. AG, die Invalidenversicherung und das Amt für Sozialbeiträge gestützt darauf zumindest eine volle Versicherungsleistung verweigert hätten. Dabei muss nicht eine effektive Arbeitstätigkeit über 30 Prozent nachgewiesen werden, sondern lediglich eine Arbeitsfähigkeit in diesem Umfang. Erforderlich sind Sachverhaltsfeststellungen zum Grad der Arbeitsfähigkeit der beschuldigten Person.20
Wer einen hohen Deliktsbetrag durch Betrug erhältlich macht, ist damit noch lange kein gewerbsmässiger Betrüger. Die Bereitschaft zur mehrfachen Tatbegehung genügte im vorliegenden Fall nicht als Nachweis der für die Gewerbsmässigkeit kennzeichnenden Absicht als innere Tatsache.21
Eine Bank, die bei der Kreditvergabe selbst primitivste Vorsichtsmassnahmen unterlässt, kann mangels Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der Arglist nicht betrogen werden.22
Art. 222 StGB (Fahrlässige Verursachung einer Feuersbrunst, Frage der Mittäterschaft): Zwei Personen hatten beschlossen, gemeinsam Feuerwerk abzufeuern. Eine Rakete flog auf einen fremden Balkon und setzte eine Sitzlounge in Brand. Wer die brandauslösende Rakete zündete, war nicht zu eruieren. Laut Bundesgericht ist eine gemeinsame Beschlussfassung einer sorgfaltspflichtwidrigen Handlung nicht nachgewiesen. Diese Beweislosigkeit kann nicht über eine wie auch immer begründete Mittäterschaft substituiert werden. Infolge des mangelhaft durchgeführten Beweisverfahrens sind beide Personen freizuprechen. Die in BGE 113IV 58 («rolling stones») begründete Rechtsprechung findet keine Anwendung.23
Art. 303 StGB (Falsche Anschuldigung): Wer als beschuldigte Person die Täterschaft eines andern ins Spiel bringt, macht sich – wenn er dann doch verurteilt wird – der falschen Anschuldigung strafbar.24
Art. 321 StGB (Verletzung des Berufsgeheimnisses): Der vom Arbeitgeber eingesetzte Vertrauensarzt ist dem Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB unterstellt. Ob und in welchem Umfang der Arzt dem Arbeitgeber berichten darf, hängt davon ab, ob er seitens des Arbeitnehmers vom Geheimnis entbunden ist. Der Arbeitgeber darf vom Vertrauensarzt nur Angaben erheben, welche die Eignung des Angestellten für das Arbeitsverhältnis betreffen oder zur Durchführung des Arbeitsverhältnisses erforderlich sind. Dazu gehören Tatsache, Dauer und Grad der Arbeitsunfähigkeit sowie die Antwort auf die Frage, ob es sich um eine Krankheit oder einen Unfall handelt.25
2. Nebenstrafrecht
2.1 Strassenverkehrsgesetz
Art. 117 StGB; Art. 35 SVG, Art. 42 Abs. 3 VRV; Art. 36 Abs. 1 SVG (Fahrlässige Tötung, Sorgfaltspflichtverletzung; Rechtsvorbeifahren an einer Motorfahrzeugkolonne, Einspuren): Nach Art. 42 Abs. 3 VRV dürfen Velofahrer an einer Motorfahrzeugkolonne vorbeifahren, wenn genügend freier Raum vorhanden ist. In einer sich bewegenden Kolonne ist das Rechtsvorbeifahren an einem Fahrzeug mit eingeschaltetem rechtem Blinker unzulässig. Nach Art. 36 Abs. 1 SVG hat sich an den rechten Strassenrand zu halten, wer rechts abbiegen will. Es ist nicht erforderlich, derart rechts zu fahren, dass ein Vorbeikommen an der rechten Seite unmöglich ist. Es genügt, wenn der Abstand derart ist, dass vernünftigerweise nicht mehr damit gerechnet werden muss, dass ein Velo vorbeifährt.26
Art. 6 OBG (Haftung des Fahrzeughalters nach OBG): Mit Bekanntgabe von Namen und Adresse der Fahrzeuglenkerin (und der Vorlage des Mietvertrages) hat der Autovermieter die Pflichten als Fahrzeughalter erfüllt. Er kann für die unbezahlte Busse der Lenkerin nicht belangt werden.27
2.2 Waffengesetz
Art. 33 Abs. 1 lit. a WG (Begriff des Erwerbs einer Waffe): Der Begriff des Erwerbs im Sinne des Waffengesetzes umfasst alle Formen der Eigentums- bzw. Besitzesübertragung wie Kauf, Tausch, Schenkung, Erbschaft, Miete und Gebrauchsleihe – mithin jede Form der rechtlichen oder tatsächlichen Übertragung von Waffen, unabhängig davon, ob sie nur vorübergehend erfolgt. Ein Polizist, der – für Dritte bestimmte – Waffen bei einer Lieferfirma für sich bzw. an die Adresse der Kantonspolizei bestellt, erlangt die tatsächliche Herrschaft über die Waffen. Er macht sich strafbar, da er nicht über einen Waffenschein verfügt.28
2.3 Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen Al-Qaida und Islamischer Staat sowie verwandter Organisationen
Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 lit. b Al-Qaida/IS-Gesetz (Förderung der Terrororganisation IS): X. wurde im April 2015 aufgrund eines Haftbefehls der Bundesanwaltschaft im Flughafen Zürich am Gate festgenommen, nachdem er bereits seine Bordkarte vorgezeigt hatte und im Begriff war, das Flugzeug nach Istanbul zu besteigen. Zuvor war X. von Moscheebesuchern intensiv verabschiedet worden. Ihm wird vorgeworfen, er habe nach Istanbul reisen wollen mit dem Ziel, sich dem Islamischen Staat (IS) in Syrien anzuschliessen und als Märtyrer zu sterben. Das Bundesgericht bestätigt den Schuldspruch des Bundesstrafgerichts wegen Förderung der Terrororganisation IS. Die Gerichte gingen davon aus, dass der IS in seinen verbrecherischen Tätigkeiten auch dann gefördert wird, wenn sich eine Einzelperson vom IS so beeinflussen lässt, dass sie dessen radikalisierende Propaganda in objektiv erkennbarer Weise bewusst weiterverbreitet oder sich in dem vom IS propagierten Sinn gezielt aktiv verhält. Die Reise nach Syrien, um in den Jihad aufzubrechen, habe eine erhebliche propagandistische Wirkung auf zurückgebliebene potenzielle Nachahmer.29
2.4 Jugendstrafrecht
Art. 24 lit. a JStPO (Notwendige Verteidigung eines Jugendlichen im Vorverfahren): Gemäss Bundesgericht liegt ein Fall von notwendiger Verteidigung nach Art. 24 lit. a JStPO nur dann vor, wenn ein unbedingter Freiheitsentzug droht.30
3. Strafverfahren
3.1 Schweizerische Strafprozessordnung:
Art. 3 StPO (Achtung der Menschenwürde): Durch das «Duzen» bei einer Polizeikontrolle wurde der betroffene Beschwerdeführer, verdächtigt eines Taschendiebstahls, als blosses Objekt des Verfahrens behandelt, was mit Art. 7 BV und Art. 3 Abs. 1 StPO unvereinbar ist. Im vorliegenden Fall erwies sich auch die Leibesvisitation mit Entkleidung als unverhältnismässig und damit unrechtmässig.31
Art. 5 StPO (Reduktion der Verfahrenskosten wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots): Auch bei einer krassen Verletzung des Beschleunigungsgebots erfolgt keine Reduktion der Verfahrenskosten.32 Das Bundesgericht heisst eine Rechtsverzögerungsbeschwerde eines Geschädigten gut, nachdem die Verfahrensleitung während sechs Monaten untätig geblieben war.33
Art. 29 StPO (Grundsatz der Verfahrenseinheit): Ist unklar, welcher Beschuldigte welchen Tatbeitrag geleistet hat, ist eine Verfahrenstrennung äusserst problematisch, da in Bezug auf die Sachverhaltsfeststellung, die rechtliche Würdigung und/oder die Strafzumessung die Gefahr sich widersprechender Entscheide besteht und die getrennte Führung von Strafverfahren gegen mutmassliche Mittäter und Teilnehmer (Gehilfen oder Anstifter) schwerwiegende prozessuale Einschränkungen der gesetzlich gewährleisteten Parteirechte nach sich zieht. Auch eine unterschiedliche Verfahrenserledigung ist in Fällen von Mittäterschaft und Teilnahme nur in Ausnahmefällen zulässig.34
Im Hauptverfahren – mindestens in aufwendigen Wirtschaftsprozessen mit mehreren Angeklagten – weicht das Bundesgericht seine relativ strenge Rechtsprechung stark auf.35 In Haftverfahren besteht bei sachlich konnexen Verfahren ein Anspruch auf Einsicht in die Akten des separat geführten Verfahrens.36
Art. 56 StPO (Ausstand): Macht der Referent des Spruchkörpers in den Akten seine Richterkollegen und die Gutachter mit kommentierten «Post-it»-Zetteln auf gewisse Stellen aufmerksam, begründet er damit keine Befangenheit.37
Ein Staatsanwalt, der einer Anwältin mit der Meldung an die Aufsichtsbehörde droht, weil er sich durch ein Ausstandsgesuch persönlich angegriffen fühlte, ist befangen.38
Eine Einzelrichterin, die eine Anklage einen Tag vor der Hauptverhandlung an das ihrer nach Meinung zuständige Kollegialgericht überweist (vgl. Art. 334 StPO), kann dieses wegen Befangenheit nicht mehr präsidieren.39
Als unproblematisch erachtet das Bundesgericht das Mitwirken eines Richters in einem Berufungsverfahren, der zuvor in einem konnexen Verwaltungsgerichtsverfahren tätig war. Nicht einmal ein in der Urteilsbegründung enthaltener Frontalangriff gegen den Betroffenen respektive seinen Rechtsvertreter im Verwaltungsverfahren bewirkte den Anschein der Befangenheit.40
Art. 59 StPO (Zuständigkeit für Entscheide über den Ausstand eines Mitglieds des Zwangsmassnahmengerichts): Die Beschwerdeinstanz im Sinne von Art. 20 StPO ist zuständig für den Entscheid über Ausstandsbegehren gegen ein Mitglied des Zwangsmassnahmengerichts.41
Art. 69 und 70 StPO (Ausschluss der Medien von der Berufungsverhandlung und Urteilseröffnung): Die rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung des Grundsatzes der Justizöffentlichkeit gebietet, einen Ausschluss des Publikums und der Medienschaffenden in gerichtlichen Strafverfahren nur sehr restriktiv, mithin bei überwiegenden entgegenstehenden Interessen, zuzulassen.42
Art. 84 Abs. 4 StPO (Begründung von Strafurteilen und Beschleunigungsgebot): Elf Monate für eine schriftliche Urteilsbegründung ist eindeutig zu lang und verstösst gegen das Beschleunigungsgebot, zumal die Sache nicht besonders komplex war.43
Urteile der kantonalen Rechtsmittelinstanz müssen so klar begründet sein, dass sie einer bundesgerichtlichen Überprüfung zugänglich sind.44
Art. 94 und Art. 130 StPO (Wiederherstellung einer aufgrund eines schwerwiegenden Fehlers des notwendigen Verteidigers verpassten Frist): Eine Verfehlung des Anwalts ist grundsätzlich seinem Mandanten zuzurechnen und stellt in der Regel keine unverschuldete Säumnis dar, die eine Fristwiederherstellung im Sinne von Art. 94 StPO rechtfertigt. In Fällen notwendiger Verteidigung kann jedoch das Recht der beschuldigten Person auf eine konkrete und wirksame Verteidigung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 lit. c EMRK, Art. 14 Ziff. 3 lit. d Uno-Pakt II und Art. 32 Abs. 2 BV ausnahmsweise der Zurechnung des schwerwiegenden Fehlers des Verteidigers entgegenstehen. Ein solcher Ausnahmefall liegt dann vor, wenn der beschuldigten Person aus der Säumnis – die Berufungserklärung wurde einen Tag nach Fristablauf eingereicht – ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen würde.45
Art. 130 und Art. 132 StPO (Notwendige und amtliche Verteidigung): Das Bundesgericht klärt in einem in der amtlichen Sammlung publizierten Entscheid den Anspruch auf notwendige Verteidigung im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Es verwirft dabei eine isolierte und rein theoretische Betrachtungsweise des Kriteriums der gesetzlich angedrohten Sanktion.
Die Bestellung eines amtlichen Rechtsbeistands ist grundsätzlich geboten, wenn dem Angeschuldigten eine Strafe droht, deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzugs ausschliesst. Falls kein besonders schwerer Eingriff in die Rechte des Gesuchstellers droht (sog. relativ schwerer Fall), müssen besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller, auf sich allein gestellt, nicht gewachsen wäre.
Das Bundesgericht hat einen relativ schweren Fall etwa bei einer Strafdrohung von drei Monaten Gefängnis unbedingt, bei einer «empfindlichen Strafe von jedenfalls mehreren Monaten Gefängnis» oder bei der Einsprache gegen einen Strafbefehl von 40 Tagen Gefängnis bedingt angenommen. Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommen, verneint die Bundesgerichtspraxis den verfassungsmässigen Anspruch.
Im Übrigen folgt aus dem Wortlaut von Art. 132 Abs. 3 StPO («jedenfalls dann nicht»), dass nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen ist, wenn die im Gesetz genannten Schwellenwerte nicht erreicht sind. Weiter bringt die Formulierung von Art. 132 Abs. 2 StPO durch die Verwendung des Worts «namentlich» zum Ausdruck, dass nicht ausgeschlossen ist, neben den beiden genannten Kriterien (kein Bagatellfall; tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre) weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Jedenfalls ist eine Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalls notwendig, die sich einer strengen Schematisierung entzieht.46
Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung führt nicht unbedingt zur Anordnung einer notwendigen Verteidigung.47
Art. 134 StPO (Wechsel der amtlichen Verteidigung): Wenn der amtliche Verteidiger in die Kanzlei der Verteidigerin eines ehemaligen Mitbeschuldigten wechselt, muss er – jedenfalls wenn es die Mandantin beantragt – ausgewechselt werden.48
Art. 135 StPO (Entschädigung der amtlichen Verteidigung): Massstab für den nötigen Aufwand zur angemessenen Verteidigung im Strafverfahren ist der erfahrene Anwalt, der im Bereich des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts über fundierte Kenntnisse verfügt und deshalb seine Leistungen von Anfang an zielgerichtet und effizient erbringt.49 Wenn die Entschädigung für die amtliche Verteidigung weder vom Beschuldigten noch von der Staatsanwaltschaft beanstandet wird, ist von der Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils bezüglich dieser Entschädigung auszugehen. Die Voraussetzungen für eine Korrektur dieser Entschädigung von Amtes wegen nach Art. 404 Abs. 2 StPO sind nicht erfüllt, wenn nicht ersichtlich ist, dass die erste Instanz das ihr zustehende Ermessen in unhaltbarer Weise ausgeübt hat, auch wenn das genehmigte Honorar recht hoch erscheint.
Für die Überprüfung der amtlichen Entschädigung von Amtes wegen besteht kein Anlass, wenn die erstinstanzliche Entscheidung hinsichtlich des amtlichen Honorars nicht geradezu gesetzeswidrig oder unbillig ist.50 Es ist unzulässig, dem amtlichen Verteidiger die Entschädigung für die Teilnahme an Einvernahmen zu verweigern, weil die Teilnahme an allen Einvernahmen nicht nötig gewesen sei, da der Beschuldigte die Aussage verweigert habe.51
Art. 139 StPO (Grundsätze der Beweiserhebung): Ein Richter darf keine Internetrecherchen betreiben und entsprechende Unterlagen zu den Akten nehmen, ohne den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.52
Art. 141 Abs. 1 und 2 StPO (Absolute und relative Beweisverwertungsverbote): Die Staatsanwaltschaft kann sich dem Gebot, Beweise rechtmässig zu erheben, nicht dadurch entziehen, dass sie sich aktiv anderer staatlicher Organe bedient, für welche die Grundsätze gemäss Art. 5 BV ebenso gelten und welche die Grundrechte ebenso unmittelbar zu beachten haben. Im konkreten Fall hat sich eine Universität ohne entsprechende Verpflichtung dazu bereiterklärt, der Staatsanwaltschaft universitäre Telefonanschlüsse und E-Mail-Adressen bekannt zu geben. Die Erhebung der Fernmeldedaten diente nicht der Überprüfung des Tatverdachts gegen eine bestimmte Person, sondern versuchte diesen erst zu begründen. Das Bundesgericht erklärte die zweifelhaften Beweiserhebungen inkl. Folgebeweise für unverwertbar.53
Die StPO kennt keine gesetzliche Grundlage für private Observationen. Rechtswidrige private Observationen unterliegen jedoch keinem absoluten Beweisverwertungsverbot.54
Art. 151 Abs. 2 und Art. 297 Abs. 3 StPO (Schutz der verdeckten Ermittler, die durch die Beschuldigte enttarnt worden sind): Für die sofortige und unwiederbringliche Löschung von Bildaufnahmen der verdeckten Ermittler auf Datenträgern der Beschuldigten bestand eine hinreichende gesetzliche Grundlage, die Vernichtung von Beweismaterial durch die Staatsanwaltschaft war jedoch unverhältnismässig. Die Staatsanwaltschaft hätte zumindest Kopien der Aufnahmen sicherstellen und zu den Akten geben müssen.55
Art. 177/179 StPO (Rechtsbelehrung eines Ehegatten): Die Polizei muss die Ehegattin eines der Herstellung von Pornografie beschuldigten Mannes auf das ihr später zustehende Zeugnisverweigerungsrecht hinweisen – auch wenn die Ehegattin als Auskunftsperson befragt wird. Die Aussagen der Frau können ohne diese Belehrung nicht als Beweis verwendet werden.56
Art. 184 StPO (Befangenheit des Gutachters): Laut Bundesgericht ist es bundesrechtskonform, einen gesetzeskonform bestellten forensischen Experten über den gleichen Sachverhalt mehrmals als Gutachter zu befragen bzw. für ergänzende oder vertiefende Arbeiten als Sachverständigen beizuziehen, selbst wenn der bei einer zunächst gegen «unbekannt» geführten Strafuntersuchung auf Verhaltensweisen von verdächtigen mitverantwortlichen Personen hinweist. Solange der Hinweis sachbezogen und in den Grenzen seines amtlichen Mandates erfolgt, begründet dies keinen Ausstandsgrund.57
Eine dauerhafte obligationenrechtliche Beziehung zwischen dem Sachverständigen und einer Partei wie etwa ein Arbeitsvertrag kann eine ausstandsbegründende Befangenheit darstellen, insbesondere dann, wenn der Sachverständige kurz nach Erstellung des Gutachtens der Vorgesetzte der explorierenden Personen wird.58
In einem anderen Fall heisst das Bundesgericht eine Ausstandsbeschwerde gegen einen psychiatrischen Sachverständigen gut, der gleichzeitig der Psychiater des Bruders des Beschuldigten war.59
Art. 198 StPO (Rechtswidrige Blutentnahme): Das Bundesgericht qualifiziert nicht von der Staatsanwaltschaft angeordnete Blutproben selbst mit Einwilligung des Betroffenen als rechtswidrig. Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit aufgrund des Verdachts einer Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz oder andere Gesetzte sind Beweisabnahmen im Sinne der StPO.60
Art. 221 Abs. lit. a StPO (Haft wegen Fluchtgefahr): Das Bundesgericht hat bei einer ausländischen Person den Haftgrund der Fluchtgefahr trotz einer drohenden Freiheitsstrafe von vier Jahren und einer Landesverweisung für fünf Jahre verneint, weil die Verteidigungsstrategie – die beschuldigte Person beruft sich auf Notwehr und macht einen schweren persönlichen Härtefall (Art. 66a Abs. 2 StGB) geltend – erheblich an Glaubwürdigkeit verlieren würde, wenn sich die beschuldigte Person der Strafverfolgung durch Flucht entziehen würde.61
Wer als Ausländer, auch wenn er in der Schweiz verankert ist, vor der Anordnung der Untersuchungshaft regelmässig in sein Heimatland gereist ist, riskiert die Bejahung von Fluchtgefahr.62
Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO (Haft wegen Kollusionsgefahr): Das Bundesgericht begründet die Kollusionsgefahr damit, dass der mutmassliche Täter bis zum Abschluss des Entsiegelungsverfahrens und der Sicherung der externen Handydaten die Möglichkeit hätte, in Freiheit allfällige Daten, die sich möglicherweise in einer Cloud befinden, zu löschen. Ob solche existieren, steht zwar nicht fest, ist aber auch nicht ausgeschlossen.63
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO (Haft wegen Wiederholungsgefahr): Das Bundesgericht ändert seine Rechtsprechung zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr und verzichtet neu auch noch auf das Erfordernis der «sehr ungünstigen Rückfallprognose». Die Änderung soll auf einer besseren Erkenntnis der «ratio legis» beruhen.64 Wiederholungsgefahr fällt in erster Linie bei Gewalt- und schweren Betäubungsmitteldelikten in Betracht, bei Vermögens- und Eigentumsdelikten dagegen nur in besonderen Fällen, welche die Betroffenen besonders hart treffen.65
Art. 236 StPO (Vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug; Haftentlassungsgesuch): Mangels entgegenstehender gewichtiger öffentlicher Interessen haben strafprozessuale Häftlinge das Recht auf angemessenen regelmässigen Kontakt zu ihrer Familie, wozu auch unverheiratete Lebenspartner gehören. Dieses Besuchsrecht besteht insbesondere nach länger dauernder strafprozessualer Haft und Wegfall von Kollusionsgefahr.66
Art. 241 StPO (Durchsuchung von Facebook-Chats resp. Onlinerecherche und vorläufige Sicherstellung von Chatverläufen auf einem digitalen sozialen Netzwerk): Das Bundesgericht äussert sich in einem Grundsatzentscheid über die «Sichtung» und die «vorläufige Sicherstellung» von Chatnachrichten eines des Drogenhandels beschuldigten Untersuchungshäftlings. Zur Abwehr von akuter Kollusion kann ein Kassiber mit persönlichen Zugangsdaten zu Facebook durchsucht werden und die untersuchungsrelevanten Ergebnisse der Online-Recherche auf dem Facebook-Konto (Chatnachrichten auf elektronischen Servern bzw. sog. «Internetclouds») können vorläufig sichergestellt werden. Laut Bundesgericht sind Art. 269 – 279 StPO auf abgeleitete Internetdienste wie Facebook nicht anwendbar und die Onlinerecherche auf dem Facebook-Konto verstösst nicht gegen das Territorialitätsprinzip.67
Art. 248 i.V.m. Art. 264 StPO (Parteirechte im Entsiegelungsverfahren): Wer vorläufig sichergestellte Unterlagen einer Anwältin übergeben hat, kann sich auf den Geheimnisschutz von Art. 264 Abs. 1 lit. d StPO berufen.68 Die beschuldigte Person ist im Entsiegelungsverfahren auch dann Partei, wenn sie die Siegelung nicht beantragt hat.69
Zudem äusserte sich das Bundesgericht in einem weiteren Entscheid zum Verhältnis zwischen dem Siegelungsverfahren und der StPO-Beschwerde gegen Herausgabebefehle.70
Art. 265 i.V.m. Art. 269 ff. StPO (Editionsbefehl betreffend Daten eines Facebook-Accounts): Die Art. 269 ff. StPO (Überwachung des Fernmeldeverkehrs) sind auf Anbieter von abgeleiteten Internetdiensten wie soziale Netzwerke nicht anwendbar. Ein Editionsbefehl (Art. 265 StPO) ist an den Inhaber oder an die Inhaberin der zu edierenden Daten zu richten. Die Schweizer Filiale von Facebook ist keine solche Inhaberin. Die Staatsanwaltschaft hat folglich den Weg der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen im Ausland zu beschreiten.71
Art. 269 ff. StPO (Überwachung mit technischen Überwachungsgeräten): Das Bundesgericht erachtet die mehrmonatige Verwanzung der gesamten Wohnung mit technischen Überwachungsgeräten (Audioüberwachung) von Eltern, die beschuldigt werden, ihren beiden Kleinkindern schwere Körperverletzungen zugefügt und eines davon getötet zu haben, als verfassungskonform.72
Art. 277 StPO (Verwertbarkeit von Ergebnissen aus nicht genehmigten Überwachungen): Die Untersuchungsbehörden haben es unterlassen, eine Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht nach Art. 273 Abs. 2 StPO einzuholen, als sie Daten zum Versandort der inkriminierten E-Mails respektive IP-Adressen und Provider abgefragt haben. Das Bundesgericht ordnet die Edition der IP-History den Verbindungsdaten (und nicht den Bestandesdaten) zu. Da keine Genehmigung vorliegt, sind die aus den Anfragen stammenden Erkenntnisse absolut unverwertbar (Art. 277 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 Satz 2 StPO). Zwar kann die beschuldigte Person die Verwertung von rechtswidrig erlangten Beweisen verlangen, wenn sie diese entlastend findet. Sie kann jedoch nicht bloss einzelne Tatsachen zur Auswertung freigeben, im Übrigen aber auf dem Verwertungsverbot beharren.73
Art. 285a und Art. 293 Abs. 4 StPO (Verdeckte Ermittlung und Aussageverweigerungsrecht der beschuldigten Person): Die Aussageverweigerung einer beschuldigten Person steht einer verdeckten Ermittlung im höchstpersönlichen, familiären Umfeld nicht entgegen. Der verdeckte Ermittler darf der beschuldigten Person allerdings nicht unter Ausnützung des geschaffenen Vertrauensverhältnisses in einer vernehmungsähnlichen Weise Fragen unterbreiten, die ihr bei der Einvernahme hätten gestellt werden sollen, und sie zur Aussage drängen. Darin läge eine Umgehung des Aussageverweigerungsrechts. Ob der verdeckte Ermittler das Mass des Zulässigen überschritt, ist vom Sachgericht zu beurteilen.74
Art. 333 StPO (Änderung und Erweiterung der Anklage; Ausstand): Die Aufforderung zur Änderung oder Erweiterung der Anklage ist kein Ausstandsgrund, selbst dann nicht, wenn die Rückweisung durch die sachlich nicht zuständige Verfahrensleiterin – die Strafgerichtspräsidentin – erfolgt ist.75
Art. 358 ff. i.V.m. Art. 410 ff. StPO (Revision eines im abgekürzten Verfahren gefällten Urteils): Die Revision eines im abgekürzten Verfahren gefällten Urteils ist gestützt auf neue Tatsachen und Beweismittel im Sinne von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO nicht zulässig. Bei strafbarer Einwirkung auf das abgekürzte Verfahren (Art. 410 Abs. 1 lit. c StPO) und bei schwerwiegenden Willensmängeln liegt ein Revisionsgrund vor.76
Art. 380 StPO (Endgültige oder nicht anfechtbare Entscheide): Gegen eine verweigerte Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft steht die StPO-Beschwerde nicht zur Verfügung.77
Art. 385 Abs. 2 StPO (Verbesserung der Beschwerde?): Eine nachträgliche, ausführliche Begründung einer Beschwerde gegen geheime Zwangsmassnahmen (in einem Fall 23 Anordnungsverfügungen, im anderen 39) ist nicht möglich, selbst wenn dem Beschwerdeführer die damaligen Entscheidgrundlagen des Zwangsmassnahmengerichts im Zeitpunkt der Beschwerdeführung noch nicht bekannt waren.78
Art. 391 Abs. 2 StPO (Verbot der reformatio in peius; Gehilfenschaft und Täterschaft): Das Verschlechterungsverbot ist nicht verletzt, wenn statt auf Gehilfenschaft zu einem Verbrechen auf ein Vergehen in Haupttäterschaft erkannt wird. Die Gehilfenschaft zu einem Verbrechen bleibt trotz Strafmilderung ein Verbrechen und wiegt daher schwerer als ein Vergehen in der Begehungsform als Haupttäter.79
Art. 408 StPO (Urteil des Berufungsgerichts): Das kantonale Berufungsgericht ist eine Rechtsmittelbehörde mit umfassender Kognition in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Tritt es auf eine Berufung ein, fällt sie ein neues, den erstinstanzlichen Entscheid ersetzendes Urteil und kann sich nicht mit einer Überprüfung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung und Rechtsanwendung begnügen. Daran ändert die Möglichkeit, im Rechtsmittelverfahren auf die Begründung der Erstinstanz zu verweisen, nichts. Beschränkt die kantonale Rechtsmittelinstanz ihre Kognition in unzulässiger Weise, verweigert sie das rechtliche Gehör. Im kantonalen Rechtsmittelverfahren existiert keine qualifizierte Rechtsrügeverpflichtung.80
Berufungsentscheide sind in der Regel reformatorisch. Eine Rückweisung an die erste Instanz ist aufgrund des Beschleunigungsgebots nur bei gravierenden Verfahrensfehlern denkbar. Ein Berufungsgericht darf ein Strafurteil nicht kassieren und zurückweisen, nur weil noch Einvernahmen durchzuführen sind. Es muss die erforderlichen Einvernahmen selber vornehmen.81
Art. 428 StPO (Kostentragung im Rechtsmittelverfahren): Wird eine Berufung teilweise gutgeheissen, ist dies bei Kosten und Entschädigung zu berücksichtigen. Ein substanzieller Teilerfolg hat grundsätzlich Kostenfolgen.82
Art. 429 StPO (Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche der beschuldigten Person): Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist einem Beschuldigten der Beizug eines Anwalts in der Regel zuzubilligen, wenn dem Deliktsvorwurf eine gewisse Schwere zukommt. Das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht sind komplex und stellen insbesondere für Personen, die das Prozessieren nicht gewohnt sind, eine Belastung und grosse Herausforderung dar. Wer sich selbst verteidigt, dürfte deshalb prinzipiell schlechter gestellt sein. Dies gilt grundsätzlich unabhängig von der Schwere des Deliktsvorwurfs. Auch bei blossen Übertretungen darf deshalb nicht generell davon ausgegangen werden, dass die beschuldigte Person ihre Verteidigungskosten als Ausfluss einer Art von Sozialpflichtigkeit selbst zu tragen hat.83
Eine Kostenauflage bei Freispruch oder Einstellung kommt nur in Frage, wenn sich die Behörde aufgrund des normwidrigen Verhaltens der beschuldigten Person in Ausübung pflichtgemässen Ermessens zur Einleitung eines Strafverfahrens veranlasst sah. Dem Angeschuldigten Kosten aufzuerlegen fällt ausser Betracht, wenn die Behörde die Strafuntersuchung aus Übereifer, zufolge falscher Beurteilung der Rechtslage oder vorschnell einleitete.84
Das Bundesgericht unterscheidet zwischen rechtswidriger und unberechtigter Haft. Es schliesst sich der Auffassung an, dass ein Anspruch sowohl bei ungerechtfertigter (Art. 429 StPO) und rechtswidriger (Art. 431 Abs. 1 StPO) als auch bei Überhaft (Art. 431 Abs. 2 StPO) besteht.85
Im Übrigen ist der Genugtuungsanspruch nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO zu verzinsen. Der Zins beträgt 5 Prozent und beginnt mit dem anspruchsbegründenden Ereignis.86
Zum Verhältnis zwischen Art. 431 StPO und Art. 5 Ziff. 5 EMRK sei auf ein Urteil des Bundesgerichts vom 27. Oktober 2016 verwiesen.87
Bundesgerichtsgesetz
Art. 93 Abs. 1 BGG (Nicht wiedergutzumachender Nachteil?): Ein abgewiesener Einstellungsantrag ist ein Zwischenentscheid, der nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirkt.88
Beruft sich der Betroffene in einem Entsiegelungsverfahren nicht auf geschützte Geheimhaltungsinteressen, sondern auf andere Gründe, aus denen die Entsiegelung unzulässig sein soll, wie etwa Beschlagnahmehindernisse oder Nichtverwertbarkeitsgründe, droht ihm in der Regel kein nicht wiedergutzumachender Nachteil, weil er die Unverwertbarkeit dieser Beweismittel vor dem Sachrichter geltend machen kann.89
Die Auswahl der Urteile für die vorliegende Übersicht basiert teilweise auf der Presseberichterstattung der NZZ und der Kommentierung im Fach-Blog www.strafprozess.ch.
Urteil 6B_125/2017 vom 17.5.2017.
Urteil 6B_776/2016 vom 8.11.2016.
Urteil 6B_12/2016 vom 8.12.2016.
Urteil 6B_802/2016 vom 24.8.2017.
BGE 143 IV 145.Urteil 6B_910/2016 vom 22.6.2017.
Urteil 6B_409/2017 vom 17.5.2017.
Urteil 6B_297/2017 vom 8.5.2017.
Urteil 6B_1070/2016 vom 23.5.2017.
Urteil 6B_963/2016 vom 6.4.2017.
BGE 143 IV 1.
Urteil 6B_1203/2016 vom 16.2.2017.
Urteil 6B_746/2016 vom 8.12.2016.
BGE 143 IV 1; vgl. auch Urteil 6B_994/2016 vom 7.11.2016.
BGE 143 IV 49;
Urteil 6B_208/2016 vom 16.2.2017.
BGE 142 IV 333.Urteil 6B_161/2016 vom 12.10.2016.
Urteil 6B_841/2016 vom 7.6.2017.
Urteil 6B_1168/2016 vom 16.3.2017.
Urteil 6B_3/2016 vom 28.10.2016.
Urteil 6B_1342/2015 vom 28.10.2016.
Urteil 6B_360/2016 vom 1.6.2017.
Urteil 6B_510/2016 vom 13.7.2017.
BGE 143 IV 209.
BGE 143 IV 138.
Urteil 6B_1007/2016 vom 10.5.2017.
Urteil 6B_1319/2016 vom 22.6.2017.
Urteil 6B_948/2016 vom 22.2.2017; vgl. dazu auch kritisch Andreas Eicker, «Das Antreten eines Fluges nach Istanbul als strafbare Unterstützung oder Förderung des ‹Islamischen Staats›»?, in: Forumpoenale 5/2017, S. 351 ff.
Urteil 6B_655/2016 vom 1.12.2016.
Urteil 1B_176/2016 vom 11.4.2017.
Urteil 6B_934/2016 vom 13.7.2017.
Urteil 1B_55/2017 vom 24.5.2017.
Urteil 1B_467/2016 vom 16.5.2017;
Urteil 6B_1030/2015 vom 13.1.2017 sowie Urteile 6B_535/2017 und 6B_599/2017 vom 19.9.2017.
Urteil 1B_150/2017 vom 4.10.2017. Vgl. auch Urteil 6B_295/2016 vom 24.10.2016.
Urteil 1B_426/2016 vom 8.12.2016.
Urteil 1B_151/2017 vom 14.6.2017.
Urteil 1B_130/2017 vom 15.6.2017.
Urteil 1B_87/2017 vom 6.4.2017.
Urteil 1B_252/2016 vom 14.12.2016.
BGE 143 IV 69.
BGE 143 I 194.
Urteil 6B_176/2017 vom 24.4.2017.
Urteil 6B_996/2016 vom 11.4.2017.
BGE 143 I 284.
BGE 143 I 164.
Urteil 1B_435/2016 vom 15.3.2017.
Urteil 1B_259/2016 vom 11.1.2017.
Urteil 6B_824/2016 vom 10.4.2017.
Urteil 6B_349/2016 vom 13.12.2016;
Urteil 6B_769/2016 vom 11.1.2017.
Urteil 6B_498/2016 vom 14.12.2016.
Urteil 6B_102/2016 vom 9.2.2017.
Urteil 1B_26/2016 vom 29.11.2016.
Urteil 1B_75/2017 vom 16.8.2017.
BGE 143 I 310.
Urteil 6B_1025/2016 vom 24.10.2017.
Urteil 1B_141/2017 vom 10.10.2017.
Urteil 6B_115/2017 vom 6.9.2017.
Urteil 1B_110/2017 vom 18.4.2017.
Urteil 6B_942/2016 vom 7.9.2017. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass in Fällen, in welchen Anzeichen auf Fahrunfähigkeit bestehen, die ausschliesslich auf Alkoholeinfluss zurückzuführen sind, eine Blutprobe nur noch in Ausnahmefällen anzuordnen ist (vgl. Art. 55 Abs. 3 und 3bis SVG sowie Art. 12 SKV). Vgl. auch Urteil 6B_532/2016 vom 15.12.2016.
Urteil 1B_364/2017 vom 12.9.2017.
Urteil 1B_158/2017 vom 5.5.2017.
Urteil 1B_146/2017 vom 2.5.2017.
BGE 143 IV 9.
Urteil 1B_437/2016 vom 5.12.2016.
BGE 143 I 241.
BGE 143 IV 270.
Urteil 1B_106/2017 vom 8.6.2017.
Urteil 1B_454/2016 vom 24.1.2017.
Urteil 1B_351/2016 vom 16.11.2016.
BGE 143 IV 21.
BGE 143 I 292.
Urteil 6B_656/2015 vom 16.12.2016; vgl. auch Thomas Hansjakob, «Die Erhebung
von Daten des Internetverkehrs – Bemerkungen zu BGer 6B_656/2015 vom 16.12.2016»,
in: Forumpoenale 4/2017, S. 252 ff.
BGE 143 I 304. Vgl. zur EMRK-Konformität eines solchen
V-Personen Einsatzes auch Alain Joset / Silvio Bürgi, «Die beste
Freundin – ein Polizeispitzel», in:
plädoyer 2/16, S. 26 ff.
Urteil 1B_24/2017
vom 10.5.2017.
BGE 143 IV 122.
Urteil 1B_375/2016
vom 21.11.2016.
Urteil 1B_232/2017 vom 19.7.2017; Urteil 1B_113/2017 vom 19.6.2017. Bei Laienbeschwerden ist das Bundesgericht hingegen sehr grosszügig (vgl.
Urteil 6B_280/2017 v. 9.6.2017).
BGE 143 IV 179.
Urteil 6B_8/2016
vom 17.1.2017.
Urteil 6B_1302/2015 und 6B_16/2016 vom 28.12.2016 sowie Urteil 6B_32/2017 vom 29.9.2017.
Urteil 6B_450/2017
vom 16.10.2017.
Urteil 6B_193/2017
vom 31.5.2017.
Urteil 6B_877/2016 und 6B_893/2016 vom 13.1.2017.
Urteil 6B_1076/2016
vom 12.1.2017.
Urteil 6B_20/2016
vom 20.12.2016.
Urteil 6B_747/2016
vom 27.10.2016.
Urteil 1B_228/2017
vom 10.7.2017.
Urteil 1B_14/2017
vom 10.3.2017;
Urteil 1B_351/2016
vom 16.11.2016.