Dass Versicherungsbetrug zu bekämpfen ist - darin sind sich alle einig. Die Frage ist nur, mit welchen Mitteln. Umstritten ist vor allem die Überwachung von IV-Bezügern durch Privatdetektive. Das Bundesgericht hat vor einem halben Jahr über die Rechtmässigkeit einer solchen IV-Observation entschieden.
Der Sachverhalt: Ein Privatdetektiv hatte eine Frau auf dem Balkon ihrer Wohnung gefilmt. Während drei Tagen machte er von einer öffentlichen Strasse aus Aufnahmen, welche die Frau unter anderem auf dem Balkon zeigten. Die IV-Ärztin interpretierte das Filmmaterial so, dass «die beobachteten Fähigkeiten durchaus mit leichten bis mittelschweren Reinigungstätigkeiten zu vereinbaren» seien. Folge: Die IV-Stelle verneinte einen Rentenanspruch der Frau. Diese beschwerte sich beim Versicherungsgericht St. Gallen. Sie verlangte, dass der abschlägige Entscheid der IV aufgehoben werde, weil die Ergebnisse der Observation nicht verwertbar seien.
Das Versicherungsgericht gab ihr recht und stellte in seinem Entscheid vom 3. März 2011 fest, dass es «an konkreten Indizien fehlte, welche den Verdacht auf Versicherungsmissbrauch begründet und die Anordnung einer Observation als nicht unerheblichen Eingriff in das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre gerechtfertigt hätten». Die Ergebnisse der Überwachung liess das Gericht als unzulässiges Beweismittel aus den Akten entfernen.
Das von der IV-Stelle St. Gallen angerufene Bundesgericht war anderer Meinung: Am 11. November 2011 entschied es, dass die Observation rechtmässig war (BGE 137 I 327). Es wies den Fall zu weiteren medizinischen Abklärungen an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zurück - das Observationsmaterial sei von den Medizinern bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zu berücksichtigen, ordnete es an.
Voraussetzungen für eine Observation umstritten
Für Lisbeth Mattle Frei, Präsidentin des Versicherungsgerichts St. Gallen, ist das Urteil exemplarisch: «Steht ein Missbrauchsvorwurf im Raum, treten grundrechtliche Überlegungen oft zu schnell in den Hintergrund.»
Verschiedene Juristen kritisieren, wie das Bundesgericht in seinem Entscheid den Grundrechtseingriff qualifiziert und auf welche rechtliche Grundlage es sich stützt, um den Eingriff zu rechtfertigen. Einig sind sich die Kritiker mit dem Bundesgericht darin, dass es konkreter Hinweise auf einen Missbrauch bedarf, damit eine Observation überhaupt angeordnet werden darf. Doch das Bundesgericht legte diese nötigen Hinweise - wie Übertreibung der Symptome oder Widersprüche - sehr grosszügig aus.
Viktor Györffy, Anwalt mit Schwerpunkt Sozialversicherungsrecht, stellt fest: «Praktisch bedeutet der Entscheid des Bundesgerichts, dass Unklarheiten im medizinischen Sachverhalt bereits für einen konkreten Anfangsverdacht reichen und eine Observation erlauben.» Und Philip Stolkin, Fachanwalt SAV für Haftpflichtrecht und Versicherungsrecht, empört sich: «Dem Urteil liegt ein Grundrechtsverständnis wie in der DDR zugrunde. Die IV wird zum Schnüffler und jeder, der unter einem diffusen Schmerzsyndrom leidet, zum potenziellen Betrüger.»
Das Bundesgericht stuft in seinem Urteil den Eingriff in die Privatsphäre der IV-Bezügerin als «relativ geringfügig» ein. Gabriela Riemer-Kafka, Professorin am Luzerner Zentrum für Sozialversicherungsrecht, sieht es umgekehrt: «Ich würde den Grundrechtseingriff als ‹schwer› taxieren. Auf dem Balkon kann man durchaus Dinge tun, die man auf der Strasse nicht machen würde.» Das gälte auch für einen Balkon, der öffentlich einsehbar sei. «Es wäre zudem willkürlich, derjenigen Person mit dem Balkon zur Strasse hin weniger Grundrechtsschutz zuzugestehen als dem Nachbarn, dessen Balkon vor Blicken geschützt ist», meint Riemer-Kafka.
Auch Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, ist überzeugt, dass das Filmen einer Person auf ihrem Balkon einen schweren Eingriff in die Grundrechte darstellt, auch wenn der Balkon öffentlich einsehbar ist.
Dies ist auch die Auffassung des promovierten Juristen Lucien Müller, der den Bundesgerichtsentscheid analysiert hat: «Einzig weil die Datenbeschaffung im öffentlichen Raum stattfindet, darf keinesfalls von einem bloss geringfügigen Grundrechtseingriff ausgegangen werden.» Das gelte umso mehr für einen Balkon, der auch durch das Recht auf Achtung der Wohnung in Artikel 13 Absatz 1 der Bundesverfassung und durch die Menschenrechtskonvention geschützt sei. «Für eine Beeinträchtigung des Anspruchs auf Achtung der Wohnung bedarf es keines physischen Eindringens», betont Müller. Umso mehr erstaune ihn, dass das Bundesgericht mit keinem Wort auf dieses Grundrecht eingehe.
Bundesgerichtliche Irrfahrt bei den Rechtsgrundlagen
Umstritten ist auch die gesetzliche Grundlage, welche das Bundesgericht zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs heranzieht. Bei einem schweren Grundrechtseingriff muss sie besonders klar sein. «Selbst wenn die Observation als geringfügiger Grundrechtseingriff gälte, wäre die gesetzliche Grundlage zu unbestimmt», ist Lucien Müller überzeugt.
«Der eigentliche bundesgerichtliche Sündenfall geschah bereits früher», sagt Professor Thomas Gächter. «Das Bundesgericht hat in BGE 135 I 169 krampfhaft eine gesetzliche Grundlage gesucht und dafür schliesslich Artikel 43 in Verbindung mit 28 Absatz 2 des Gesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) herangezogen, die einen ganz anderen Zweck haben. Im aktuellen Urteil zur Observation des Balkons geht das Bundesgericht den Irrweg weiter und weitet die Überwachungsmöglichkeiten noch aus.» In BGE 137 I 327 stützt sich das Bundesgericht zusätzlich auf Artikel 59 Absatz 5 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung. Dieser erlaubt den IV-Stellen, zur Missbrauchsbekämpfung «Spezialisten» beizuziehen. Dass damit auch die Überwachung durch Privatdetektive gemeint ist, kann Gächter mit Blick auf die Materialien akzeptieren. «Aber diese Rechtsgrundlage ist nur eine Notlösung.» Damit eine Observation rechtmässig sei, müsse die IV-Stelle den Privatdetektiv zudem genau instruieren: «Sie muss ihm im konkreten Fall Grenzen setzen, was die Mittel, die Dauer und die Intensität der Observation betrifft.»
«Juristisch fehlt eine klare Grundlage»
Thomas Gächter ist der Meinung, dass die Observation grundsätzlich auch auf einem öffentlich einsehbaren Balkon möglich sein soll. «Juristisch fehlt dafür aber eine klare Grundlage. Jetzt ist der Gesetzgeber gefordert.» Einen Versuch gab es bereits: Im Rahmen der Revision des Unfallversicherungsgesetzes hat der Bundesrat einen Artikel vorgeschlagen, der die Observation klar regeln sollte. Nachdem die Revision gescheitert ist, ist auch die explizite Regelung der Überwachung gestorben. Ein zweiter Anlauf sei nicht geplant, sagt Ralf Kocher, Leiter des Rechtsdienstes des Bundesamts für Sozialversicherungen: «Bundesrat und Parlament sind der Meinung, dass wir eine genügende rechtliche Grundlage für die Observation haben.»
Für den Zürcher Anwalt Philip Stolkin deckt die Diskussion um die Gesetzesgrundlage nur einen Teilaspekt ab. Er hat weitere rechtsstaatliche Bedenken: «Eine Observation durch die IV widerspricht grundsätzlich dem Prinzip der Gewaltenteilung. Bezieht jemand missbräuchlich eine IV-Rente, ist das Betrug im Sinn des Strafrechts. Dafür ist die Polizei zuständig und nicht irgendein von der IV beauftragter Privatdetektiv.» Für Stolkin ist klar:«Das Urteil hätte vor den Richtern in Strassburg keine Chance.»
Auch Josef Jacober, der Anwalt der vom Urteil direkt betroffenen Frau, hätte den Entscheid des Bundesgerichts gerne an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen: «Meine Klientin hat sich aber dagegen entschieden, weil sie die Geschichte zu sehr belastet.» Jacober steht dem Einsatz von Privatdetektiven durch die IV skeptisch gegenüber: «Es ist rechtsstaatlich bedenklich, wenn die Sozialversicherungen als staatliche Institutionen nicht an die Vorgaben des Strafverfahrens gebunden sind.»
Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung in der Zwischenzeit bestätigt: Auch im Urteil 8C_829/2011 hat es die Observierung eines öffentlich einsehbaren Balkons erlaubt. Allerdings liess es Filmmaterial, das die gefilmte Frau im Treppenhaus und in der Waschküche zeigte, nicht zu.
Im St. Galler Fall liegt der Ball nun bei der IV-Stelle St. Gallen. Das Bundesgericht hat sie angewiesen, wegen der «entgegengesetzten Schlüsse aus Begutachtung und Observation» weitere medizinische Abklärungen zu veranlassen. Lisbeth Mattle vom Versicherungsgericht St. Gallen: «Ich bin froh, dass das Bundesgericht weitere medizinische Abklärungen forderte und nicht auf die Observation abstellt. Das Feststellen der Arbeitsfähigkeit ist in erster Linie eine medizinische Aufgabe.»
Patrick Scheiwiller, Leiter der IV-Stelle St. Gallen, wartet zurzeit auf die Resultate des zweiten Gutachtens. Seine IV-Stelle machte letztes Jahr rund vierzig Observationen. Das sind deutlich mehr, als man bei der Einführung von Artikel 59 Absatz 5 IVG vor Augen hatte: Im Nationalrat wurde damals im Zusammenhang mit der Suva von «einem bis drei Fällen pro Jahr» gesprochen. Fünf Mitarbeiter der IV-Stelle St. Gallen sind für die Bekämpfung des Missbrauchs zuständig. Dazu arbeitet die IV-Stelle mit verschiedenen Observationsunternehmen zusammen.
Rückenwind durch den Lausanner Entscheid
Für Scheiwiller ist das unproblematisch: «Wir halten uns an die gesetzlichen Vorgaben und die Rechtsprechung des Bundesgerichts. Dass das Gericht die Observation eines öffentlich einsehbaren Balkons gutgeheissen hat, gibt uns Sicherheit für künftige Fälle.» Er betont, dass die IV-Stelle eine Überwachung nur als letztes mögliches Mittel in unklaren Fällen anordnen werde.
Anwalt Györffy bleibt skeptisch: «Detektive und Gutachter verdienen Geld mit den Überwachungen und die IV wird die unklaren Fälle los. Von der Observation profitieren alle, ausser die Betroffenen.»
Auf diese gesetzlichen Grundlagen stützen sich Observationen
Artikel 43 ATSG:
1 Der Versicherungsträger prüft die Begehren, nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein. Mündlich erteilte Auskünfte sind schriftlich festzuhalten.
2 Soweit ärztliche oder fachliche Untersuchungen für die Beurteilung notwendig und zumutbar sind, hat sich die versicherte Person diesen zu unterziehen.
3 Kommen die versicherte Person oder andere Personen, die Leistungen beanspruchen, den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise nicht nach, so kann der Versicherungsträger auf Grund der Akten verfügen oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen. Er muss diese Personen vorher schriftlich mahnen und auf die Rechtsfolgen hinweisen; ihnen ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen.
Artikel 28 Absatz 2 ATSG:
Wer Versicherungsleistungen beansprucht, muss unentgeltlich alle Auskünfte er-teilen, die zur Abklärung des Anspruchs und zur Festsetzung der Versicherungsleistungen erforderlich sind.
Artikel 59 Absatz 5 IVG:
Zur Bekämpfung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs können die IV-Stellen Spezialisten beiziehen.