Pass dich an, eck nicht an, exponier dich nicht!» Diesen Rat gab Marianne Heers Vater der Tochter mit auf den Weg ins Leben. Doch die junge Frau dachte nicht daran. Anpassen, das lag ihr nicht. Andererseits: «Ich habe extrem viel an mir gearbeitet, bis ich lernte, die eigene Meinung zu sagen», sagt Marianne Heer.
Ihren Vater kannte sie vor allem vom Arbeiten her: «Ich höre noch heute meine Mutter sagen: ‹Seid still, Vater arbeitet.›» Der Gymnasiallehrer hatte unermüdlich und mit grossem Engagement Mathematikbücher geschrieben.
Auch die Tochter schreibt gern. Marianne Heers Publikationsliste weist eher auf eine Akademikerin als auf eine Richterin hin. Zudem gilt die 61-Jährige seit ihren stets mit einem kritischen Auge verfassten Kommentaren vor allem zu den Artikeln 56 bis 65 StGB als Grande Dame der Massnahmen im Strafrecht. Aktuell arbeitet sie intensiv am neuen Basler Kommentar, 800 Seiten seien bereits überschritten – der Abgabetermin ebenfalls.
Seit 17 Jahren ist Heer Richterin am Luzerner Kantonsgericht. Zuvor war die in Luzern und Kriens aufgewachsene Juristin von 1991 bis 2000 Staatsanwältin in Luzern. Vor 1991 arbeitete sie als Richterin am Amtsgericht Luzern-Land in Kriens. Ihr Jus-Studium absolvierte Heer an der Uni Bern.
«Ich bin alles geworden, was ich eigentlich nicht wollte, und alles nicht geworden, was ich wollte», fasst Heer ihre Karriere zusammen. Journalistin wollte sie werden «oder in die Diplomatie». Dann reizte sie ein Psychologie- oder Medizinstudium. «Ich habe mir das aber nicht wirklich zugetraut», sagt sie ganz unkokett. Eine rein akademische Karriere sei aber nie in Frage gekommen. Die beiden Lehrveranstaltungen an den Unis Freiburg und Bern sind für sie das «höchste der Gefühle», sagt sie lachend. Und sie lacht viel und so unverkrampft, dass es ansteckend ist.
Marianne Heer ist Mitglied der FDP. «Damals hatte die FDP noch einen wirklich liberalen – oder eher linksliberalen – Flügel, mit dem ich mich gut identifizieren konnte», sagt Heer. Heute bezweifle sie, ob sie wieder dieser Partei beitreten würde.
Stark geprägt habe sie Hans «Johnny» Wiprächtiger, zuerst als Oberrichter und später auch als Bundesrichter. Die Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Ebene und die anregenden Diskussionen seien eine «enorme Bereicherung» gewesen. «Er ist für mich ein grosses Vorbild, von ihm habe ich auch als Richterin vieles gelernt.»
“Der Meinungsproporz ist extrem wichtig”
Heer liebt ihre Arbeit am Kantonsgericht. Das sagt sie mehrfach im Gespräch. In ihrem Kollegium seien sie zwar nicht mehr alles so junge Leute, «aber im Gebaren sind wir sehr jung». Sie hätten in der Strafabteilung ein gutes, offenes Verhältnis: «Wir bemühen uns darum, die Hierarchie nicht spielen zu lassen.» Der Meinungsproporz sei extrem wichtig und sie hätten auch nicht immer die gleichen Meinungskoalitionen. Das sei nicht selbstverständlich, weiss Heer. An anderen Gerichten – bis zum Bundesgericht – sei dies nicht immer der Fall gewesen. «Das ist tragisch.» Lasse die Justiz das zu, nehme sie ihre Aufgabe nicht richtig wahr. «Richterinnen und Richter ohne eigene Meinung sind für mich befangen, man müsste sie auswechseln.»
Heer kritisiert auch die enorme Vergrösserung der Einzelrichterkompetenz. Für sie ist das eine «dramatische Entwicklung». Es sei das Produkt unsensibler Politiker und Verwaltungsjuristen, die hier kein Gegensteuer geben würden. Unsensibel, weil man nicht erkenne, wie extrem viel Ermessen in einer juristischen Entscheidung stecke. Einem einzelnen Richter ausgeliefert zu sein, «das ist für mich ein No-Go». Diese Rationalisierungsmassnahmen würden der Justiz enormen Schaden zufügen.
Was ihr Handwerk als Richterin betrifft, ist Heer davon überzeugt, dass man einen Fall nur dann wirklich beurteilen könne, «wenn man selbst Hand anlegt». Sie erlebe während des Schreibens von Erwägungen oft, wie das Resultat am Ende ganz anders rauskomme, als man zuvor gedacht habe. Ihre Arbeitsweise sei «etwas unstrukturiert», sie mache keine Dispositionen, sondern «ich entwickle». Weil man das nicht alles alleine durchziehen könne, arbeite sie im Team mit guten Gerichtsschreibern. «Wir haben Fälle, die wir ihnen ganz zum Referat geben, und diese kontrollieren wir dann nachträglich nochmals.» Oder die Richterin formuliert alles und der Gerichtsschreiber mache nachträglich die Feinarbeit.
Am Gericht beobachtet Heer, dass immer mehr Verteidiger ihren Job ernst nähmen. «Es gab schon immer gute Verteidiger, aber dass sie so unermüdlich kämpfen, das ist eine neue Erfahrung für mich.» Anwälte wie Matthias Brunner, Alain Joset oder Stephan Bernard hätten die Rechtsfortbildung extrem weitergebracht.
Der Ruf von Medien und Politikern nach höheren Strafen und immer schärferen Gesetzen ist für die Richterin «nicht nachvollziehbar». Sie beobachtet eine enorme Gesetzesflut, die die Arbeit am Gericht sehr erschwere.
“Bedingte Entlassung ausser Kraft gesetzt”
Heer kritisiert auch, wie die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug faktisch ausser Kraft gesetzt werde. Das werde unter «Kuscheljustiz» abgehakt, «obwohl das ein Instrument ist, um die Leute zu resozialisieren». Heute werde die bedingte Entlassung als Vergünstigung wahrgenommen. «Auch die aktuelle Praxis des Bundesgerichts geht in die Richtung, dass man Gefangene nicht mehr nach zwei Dritteln ihrer Haftzeit rauslässt.» Und bei den Vollzugsbehörden sei es oft so, dass sie im letzten Moment nach zwei Dritteln der Haftlänge ein Gutachten in Auftrag geben, weil der Straftäter vielleicht doch psychisch gestört und gefährlich sei, obwohl das zuvor nie thematisiert wurde. Heer: «Es finden sich in der Praxis immer mehr Beispiele dafür, dass letztlich nur noch präventiv gedacht wird.» Das Strafrecht knüpfe nicht mehr an der Sanktionierung der Schuld an, sondern ziele primär auf Gefahrenabwehr. «Ich kämpfe schon mein ganzes Leben lang gegen diese Entwicklungen!»
Die Kämpferin gesteht, dass sie die Arbeit von ihrem Privatleben nur schwer abgrenzen könne. «Es kommt schon mal vor, dass ich um zwei Uhr nachts an der Arbeit sitze.» Für ihren Mann sei das kein Problem. «Er ist wie ich enorm freiheitsliebend. Zum Glück will er nie etwas von meiner Arbeit wissen und führt mich zu Hause in ganz andere Themenbereiche ein. So kann ich abschalten.» Und ihre drei Hunde, neun Katzen und drei Rösser würden sie ebenfalls gut von der Arbeit ablenken und hielten sie «permanent in Bewegung».