Die Zeit drängt: Die schweizerische Strafprozessordnung (StPO)?und die schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) treten auf den 1. Januar 2011 in Kraft. Trotz vereinheitlichtem Prozessrecht bleibt die Gerichtsorganisation Sache der Kantone. Nicht alle Kantone aber haben ihre Gerichtsorganisation bereits angepasst. In Appenzell Ausserrhoden stehen zum Beispiel noch parlamentarische Beratungen bevor, während etwa in den Kantonen Obwalden, Solothurn und Zug das Volk die Änderung der Kantonsverfassung erst noch genehmigen muss. In den beiden Basel berät das Parlament noch über die Anpassungen.
Plädoyer 3/10 berichtete ausführlich, wie weit die einzelnen Kantone mit der Angleichung ihrer Gerichtsorganisations- oder Justizgesetze und der Anpassung der Einführungsgesetze zur Strafprozessordnung und zur ZPO fortgeschritten sind. Seither haben folgende Kantone die einschlägigen Erlasse angepasst:
Die Stimmberechtigten im Kanton Aargau haben im Juni an der Urne der Änderung der Kantonsverfassung zugestimmt. Die Einführungsgesetze zur StPO und zur ZPO sind nun im Sinne der eidgenössischen Bestimmungen angepasst, das Gerichtsorganisationsgesetz ist sogar total revidiert worden. Schlichtungsstelle für arbeitsrechtliche Streitigkeiten ist der Präsident oder die Präsidentin des Arbeitsgerichts. Das Handelsgericht bleibt bestehen. Auf die Schaffung eines Mietgerichts wird allerdings verzichtet. Mit dem Wechsel zum Staatsanwaltschaftsmodell wird es sechs regionale Staatsanwaltschaften geben, welche die elf traditionellen Bezirksämter ablösen.
Im Kanton Freiburg hat der Grosse Rat in der Maisession das Justizgesetz ohne Gegenstimme bei zwei Enthaltungen gutgeheissen. Die «Gewerbegerichte» werden beibehalten, sie heissen allerdings zwecks Vereinheitlichung der Terminologie künftig «Arbeitsgerichte». In erster Instanz wird in mietrechtlichen Streitigkeiten weiterhin das Mietgericht entscheiden. Ein Handelsgericht wird es auch in Zukunft nicht geben. Alle kantonalen Bestimmungen über die Gerichtsorganisation sind in einem einzigen Gesetz, dem Justizgesetz, zusammengefasst. Auch im Kanton Freiburg werden die Untersuchungsrichter zu Staatsanwälten.
Der Grosse Rat Graubünden hat in der Junisession über die Totalrevision des Gerichtsorganisationsgesetzes und über die Einführungsgesetze zur ZPO und zur StPO beraten. Die weiterhin bestehenden 39 Kreise werden keine richterlichen Aufgaben mehr wahrnehmen. Dafür sind nunmehr die elf Bezirke zuständig. In jedem Bezirk gibt es eine Schlichtungsstelle. Diese «Überstrukturierung» will der Kanton längerfristig in einer allgemeinen Strukturreform bereinigen. Die kantonalen Schlichtungsstellen heissen wie bisher «Vermittlungsämter». Wegen der geografischen Weitläufigkeit wird Graubünden keine Arbeitsgerichte einführen. Auf eine besondere Schlichtungsstelle für arbeitsrechtliche Streitigkeiten, auf ein Mietgericht und ein Handelsgericht verzichtet der Kanton.
Der Landrat hat im Sommer über die Änderung des Gerichtsgesetzes entschieden. Für zivilrechtliche Streitigkeiten wird Nidwalden eine zentrale Schlichtungsbehörde einrichten. Sie ersetzt die Friedensrichterinnen und Friedensrichter der Gemeinden und zugleich auch die Schlichtungsbehörden für Miet- und Pachtrecht. Ein Arbeitsgericht hat das Parlament auch im neuen Gerichtsgesetz nicht vorgesehen, dafür wird eine paritätisch besetzte Schlichtungsstelle für arbeitsrechtliche Streitigkeiten entstehen. Auf die Schaffung eines Mietgerichts oder eines Handelsgerichts hat der Kanton verzichtet. Die bisherigen Verhörrichter werden zu Staatsanwälten.
Im Kanton Tessin hat das Parlament in der letzten Session die Änderungen des Gerichtsorganisationsgesetzes und der Einführungsgesetze gutgeheissen. Die zehn Gerichtsbezirke bleiben bestehen, eine besondere Schlichtungsstelle für arbeitsrechtliche Streitigkeiten wird nicht eingeführt. Auch neue Spezialgerichte (Arbeits-, Miet- oder Handelsgericht) wird es nicht geben. Die Schlichtungsverfahren führen neu die Bezirksgerichte. Es gilt schon heute das Staatsanwaltschaftsmodell. Allerdings muss das Tessiner Stimmvolk Ende November über eine Verfassungsänderung abstimmen, welche die Abschaffung der Geschworenengerichte vorsieht. Selbst bei einem «Nein» wird es im Tessin von Bundesrechts wegen mit der schweizerischen StPO keine Geschworenen mehr geben.
Basler Gerichte treten Flucht nach vorne an
Im August haben die Basler Gerichte zu einer Pressekonferenz eingeladen. Mithilfe der Medien wehren sich die Gerichte des Kantons Basel-Stadt gegen den Sparkurs der Regierung. Diese will den für die Umstellung auf die Schweizerische Strafprozessordnung und die Schweizerische Zivilprozessordnung nötigen Personalbedarf um die Hälfte kappen. «Das vereinheitlichte Prozessrecht bedeutet für die Basler Gerichte im Vergleich zu den bisherigen Verfahrensabläufen einen Mehraufwand», sagt der Präsident des Appellationsgerichts, Stephan Wullschleger. Die Gerichte schätzen, dass 30 neue Stellen nötig sind, um den Vorgaben des Bundesrechts gerecht zu werden: 6 am Appellationsgericht, 5 am Strafgericht und 19 für das Zivilgericht. Die Zahl der Richter am Zivilgericht ist seit 1929 unverändert, diejenige am Appellationsgericht seit 1946.
Die Regierung ist anderer Meinung: Weil der Anstieg der Fallzahlen aus heutiger Sicht nicht präzis substanziiert werden könne, soll mit dem Budget 2011 nur ein Teil der maximal erforderlichen personellen Ressourcen bereitgestellt werden. Eine weitere Erhöhung des Personalbudgets will der Kanton erst vornehmen, wenn Erfahrungszahlen vorliegen. Dieser Entschluss sei im Einverständnis mit den Gerichten gefasst. Immerhin räumt der Regierungsrat ein, dass es zu einem Anstieg der Geschäftslast oder des mit der Bearbeitung der Fälle verbundenen Zeitaufwandes kommen werde. Geholfen ist damit aber weder den Gerichten noch den Anwälten und Rechtsuchenden.