Lothar de Maizière, Sie waren bis 1989 Rechtsanwalt in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und haben Dissidenten, Pazifisten und Christen vertreten. Nach der Wende wurden Sie Wirtschaftsanwalt und Spezialist für Rechtsansprüche im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Wie geht das zusammen?
Ich habe schon zu DDR-Zeiten Wirtschafts- und Steuerrecht gemacht. Das war meine eigentliche Vorliebe. Ich bin - wenn man vom Denken her will - ein Zivilist und nicht unbedingt der Strafrechtler. Strafrechtler sind unter den Anwälten ja auch meist sehr viel mehr die exhibitionistischen Typen und Draufgänger, das bin ich eigentlich nicht. Aber mich hat - was das Strafrecht anbelangt - meine Kirche in die Pflicht genommen. Es waren die Gruppen der jungen Leute, die kirchennah waren, die mit der Staatssicherheit in Konflikt gerieten; es waren die Umweltgruppen, die Schwierigkeiten bekamen. Und es gab die Republikflüchtigen, die vertreten sein wollten. Nach der Wiedervereinigung sagte ich mir: «Strafrecht musst du nicht mehr haben.» Ich habe allerdings noch eine ganze Reihe von Rehabilitierungen gemacht, weil ich es für wichtig hielt, dass Unrechtsurteile aus DDR-Zeiten kassiert werden.
Stichwort Unrecht - war die DDR ein Unrechtsstaat?
Ich kann die Frage fast nicht mehr hören. Aber ich bin gerne bereit, sie zu beantworten. Die DDR gründete auf Unrecht. Der Begriff «Unrechtsstaat» ist eine politische, moralische Bewertung. Insofern war die DDR ein Unrechtsstaat. Aber sie war auch ein Nicht-Rechtsstaat, ein Kein-Rechtsstaat. Ausserdem ist der Begriff nicht geeignet, um eine Rechtsordnung oder Rechtspraxis zu beurteilen. Denn wir haben natürlich auch «normales Recht» gesprochen. Diebstahl war Diebstahl, und Betrug war Betrug. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich lege zumindest Wert darauf, dass auf die Zeit vom 18. März 1990, ab den ersten freien Wahlen, bis zum Ende der DDR der Begriff Unrechtsstaat nicht angewandt wird.
Wie haben Sie in dieser Übergangsphase gearbeitet?
Ich hatte das Glück, dass ich sowohl das Ost-Recht kannte als auch das West-Recht. Aber vor allem kannte ich das Einigungsrecht recht gut. Aus dem Einigungsvertrag ergab sich eine Reihe schwieriger Rechtsprobleme, insbesondere im Eigentumsrecht. Zum Beispiel, wie man Eigentumsverhältnisse von 45 oder fast 60 Jahren rückabwickelt, weil wir ja auch noch die nationalsozialistische Zeit einbezogen hatten. Dabei ist mir klar geworden, wie schwierig es ist, nach langen Zeiten des Unrechts mit dem Recht Gerechtigkeit zu schaffen, ohne neues Unrecht zu begehen. Ein Beispiel: Einer sagt, sein Elternhaus gehöre seiner Familie, seit über fünf Generationen. Ein anderer sagt, das sei aber auch das Elternhaus seiner Familie über drei Generationen. Da müssen Sie mir sagen, wo die Gerechtigkeit ist.
Ist das nicht trotzdem schwierig, wenn ein Anwalt in der DDR praktiziert hat, das DDR-Recht kennt und dann innerhalb von nicht einmal elf Monaten plötzlich ein anderes Recht anwenden muss? Wie sind die Ost-Anwälte damit umgegangen?
Ich hatte das Glück, dass ich Jura zu einem Zeitpunkt studierte hatte, als in der DDR das BGB, also das Bürgerliche Gesetzbuch, noch galt. Ich habe dann nach dem BGB auf das Zivilgesetzbuch der DDR umgeschaltet und dann, nach der Wende, wieder zurückgewechselt auf das BGB. Dazu kommt, dass wir in Berlin einen sehr eifrigen Anwaltsverein hatten. Dieser Anwaltsverein bot uns im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung Sonntag für Sonntag Weiterbildungskurse an, die wir dann auch alle brav besuchten. Das ist nicht ganz einfach, sich als fast 50-Jähriger noch einmal sagen zu lassen, dass man eigentlich ein Trottel sei. Aber wir haben es getan. Und bis 1990 wusste ich auch nicht, welche entscheidende Rolle Visitenkarten spielen können.
Wurden alle Anwälte auf das neue Recht, also das Recht der BRD, umgeschult?
Es war jedem in die Hand gegeben, dies freiwillig zu tun. Und wer es nicht tat, ist letztlich am Markt gescheitert. Wir haben natürlich versucht, es in anderer Weise zu lösen, indem wir uns gesagt haben, wir wollen nicht die volle Breite des Rechts haben, sondern wir versuchen uns erst einmal auf ein Gebiet zu spezialisieren und dort den Anschluss zu haben. Das grösste Problem war, dass wir unsere gesamte Bibliothek wegschmeissen und uns eine neue kaufen mussten. Das war ein enormer Kostenfaktor. Ich hatte das Glück, dass ich einen Aufsatz bei Beck schreiben konnte. Damit war ich Beck-Autor und bekam einen Autorenrabatt, womit es mir leichter fiel, die West-Kommentare zu kaufen.
War das DDR-Recht vom russischen Recht rezipiert oder gründete es auf deutschem Recht?
Das DDR-ZGB war letztlich römisch-rechtlich wie das BGB. Ungerechtfertigte Bereicherung hiess bei uns beispielsweise «ungerechtfertigt erlangte Leistung». Wenn wir uns zu DDR-Zeiten mit dem ZGB auseinandersetzten, hatten wir unter dem Tisch unseren Kommentar zum BGB und schauten nach, was denn der westliche Kommentar zu einer rechtlichen Situation sagte. Wir hatten ihn auch leicht verändert zitiert, ohne allerdings die Quelle zu nennen.
Wechselten mit der Wende die Richter, Gerichte und Instanzen?
Die Richter durften sich wiederbewerben. Ungefähr 40 Prozent der Richter hatten sich gar nicht um Weiterbeschäftigung bemüht. Und die anderen, die sich beworben hatten, sind zu etwa 50 bis 55 Prozent übernommen worden. Die restlichen sind nicht übernommen worden, weil man sie entweder für fachlich nicht geeignet oder für politisch belastet hielt. Einzig Berlin war dort rigider, die haben nur zehn Prozent übernommen, weil die damalige Justizsenatorin sagte: «Ich habe genug Anwälte, ich brauche euch nicht.» Das fand ich ziemlich unsolidarisch. Aber Geschichte ist nie eine gerechte Veranstaltung.
Die DDR hatte 17 Millionen Einwohner. Man sagt, es habe in der DDR ungefähr 400 Anwälte gegeben.
Wir waren über 600 zugelassene Anwälte. Zum andern gab es ungefähr 1800 Justiziare. Die volkseigenen Betriebe wurden in ihren Rechtsstreitigkeiten nach Vertragsgesetz nicht von Anwälten vertreten, sondern von den Justiziaren. Und wir hatten auch ungefähr 1800 staatliche Notare. Die haben wir nach der Wende in die freie Wildbahn entlassen. Sie wurden dann Notare in den neuen Bundesländern. Wir waren nur so wenige Anwälte, weil in der DDR auch in sehr viel weniger Fällen Anwaltszwang gegeben war: In Ehesachen brauchte man keinen Anwalt, in Zivilsachen brauchte man auch keinen - man konnte sich einen Anwalt nehmen, musste aber nicht. In Strafsachen galt der Anwaltszwang nicht bei erstinstanzlichen Verfahren vor dem Bezirksgericht. Erst wenn jemand gleich vor einem höheren Gericht angeklagt wurde für grosse Wirtschaftsverbrechen oder Kapitalverbrechen, war der Anwaltszwang gegeben. Die geringere Zahl von Anwälten konnte diese Aufgaben meistern.
Was änderte das neue Recht, das in den meisten Situationen einen Anwaltszwang kennt?
Weil es mehr Anwälte brauchte, kamen viele Kollegen aus den alten Bundesländern in den Osten, aber es sind inzwischen auch sehr viele Kollegen nachgewachsen. Inzwischen ist die Anwaltsdichte fast zu gross. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung waren wir in Ost- und West-Berlin zusammen ganze 2500 Anwälte, jetzt ist unsere Schar auf 13 500 gewachsen.
Was waren die grössten Unterschiede von der DDR zur BRD hinsichtlich Ihrer Tätigkeit als Anwalt?
In der jetzigen Situation ist der Anwalt viel mehr darauf angewiesen, um Mandate zu kämpfen und sich einen Namen zu machen. Auch in der DDR brauchte man als Anwalt einen Namen. Aber schon aufgrund der geringen Zahl von Berufskollegen hatte man damals Mandate, während man bei der heutigen Anwaltsdichte sehen muss, dass man zu Fällen kommt. Wir haben heute eine Situation in diesem Beruf, die nicht glücklich ist. Es gibt in Deutschland einige unglaublich gut verdienende Anwälte, es gibt eine Reihe gut verdienender, eine mässig verdienender Anwälte, und es gibt Anwälte, die nebenbei als Taxifahrer arbeiten, um über die Runden zu kommen. Ich würde mir wünschen, dass sich das mehr zur Mitte hin vereinheitlichte. Schaut man sich die Bevölkerungszahl von Berlin an, 3,5 Millionen, und dazu die Zahl der praktizierenden Anwälte, dann müsste jeder Bürger, damit jeder Anwalt satt wird, pro Jahr drei bis vier Prozesse führen. Das ist für den Rechtsfrieden nicht sehr schön.
Ein Anwalt als Minister zweier Staaten
Lothar de Maizière (70) wurde in Nordhausen, Thüringen, geboren. Von 1969 bis 1975 studierte er im Fernstudium Recht an der Berliner Humboldt-Universität. Als Rechtsanwalt verteidigte er Christen, Pazifisten, Wehrdienstverweigerer und Dissidenten. Ab 1956 war er Mitglied der überkonfessionellen Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, der sogenannten Ost-CDU, die damals mit der Politik der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gleichgeschaltet war.
Nach dem Mauerfall wählte die Ost-CDU Lothar de Maizière zum Vorsitzenden; die Partei bekannte sich zur Marktwirtschaft. Als das Wahlbündnis «Allianz für Deutschland» mit der Ost-CDU die Volkskammerwahlen im März 1990 gewann, wurde er erster und zugleich letzter Ministerpräsident der DDR und ab August 1990 zugleich Aussenminister. Er trug massgeblich zur Deutschen Einheit bei und hat bei der Ausarbeitung des Einigungsvertrages zwischen der DDR und der BRD mitgearbeitet.
De Maizière war einer der Unterzeichner des Zwei-plus-vier-Vertrags (Vertrag über die abschliessende Regelung in Bezug auf Deutschland; Staatsvertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sowie Frankreich, den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich von England und der Sowjetunion).
Nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 war er Minister für besondere Aufgaben im Kabinett von Helmut Kohl. Drei Monate später trat er zurück. Das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden der Bundes-CDU gab er im August 1991 auf. Seither arbeitet er als Rechtsanwalt in der Wirtschaftskanzlei Kärgel de Maizière & Partner in Berlin.
Über die elf Monate als Ministerpräsident der DDR hat er im Herder Verlag das Buch «Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen» veröffentlicht.
Lothar de Maizière wohnt in Berlin und ist verheiratet. Er ist Vater von drei Töchtern und hat elf Enkelkinder.