Verfassungsrecht
«Constitutio semper reformanda»: permanente Verfassungsrevision als wahre Zauberformel der Schweiz?
Stefan G. Schmid, ZBl 12/2020, S. 639 ff.
Die Bundesverfassung gilt als eine der am häufigsten geänderten nationalen Verfassungen der Welt. In der geltenden Bundesverfassung von 1999 wurden rund 90 Artikel geändert oder neu eingefügt. Gemäss Autor erscheint die jederzeitige Änderbarkeit fast aller Verfassungsinhalte als identitätsstiftender Kern der Verfassungsordnung.
Grundrechte
Impfobligatorium und Impfzwang – eine staatsrechtliche Würdigung. Kerstin Noëlle Vokinger und Noah Rohner, Recht 2020, S. 257 ff.
Interessanter Artikel aus aktuellem Anlass. Schon 1882 führte ein Pocken-Impfzwang zur Ablehnung eines Gesetzes. Seither ist praktisch unbestritten, dass ein Impfobligatorium zwar zulässig ist, der Bundesrat aber auch «nothandelnd» (Art. 185 Abs. 3 Bundesverfassung) keinen Zwang zur Durchsetzung anordnen darf – keinen physischen Zwang und auch keine verwaltungsrechtlichen Sanktionen, die geeignet wären, die Wahlfreiheit des Individuums zu übersteuern.
Ein Menschenrecht Gefangener auf Freilassung wegen Covid-19? Sarah Masoud, Jusletter 7.12.2020
Die Autorin untersucht das Recht von Gefangenen auf den Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit gestützt auf die EMRK und die Empfehlungen des Europarats in Zeiten der Covid-19-Pandemie. Sie analysiert die Massnahmen in Schweizer Haftanstalten und schlägt Verbesserungen aus menschenrechtlicher Sicht vor.
Verwaltungsrecht
Verfahrensrecht
Bundesämter und Mediation. Adrian Kägi, Recht 2020, S. 275 ff.
Im Jahr 2006 wurde im VwVG eine gesetzliche Grundlage für «gütliche Einigungen und Mediation» geschaffen – die ohne praktische Anwendung blieb. Der Autor ortet den Grund in den unklaren Rahmenbedingungen und Modalitäten. Die Ämter wählten deshalb lieber den vertrauten Weg einer Verfügung.
Umweltrecht
Gewässerschutz: Dorfbach ohne Eigenschaft als ökologisch wertvolles (künstliches) Nebengewässer im Sinne des eidgenössischen Gewässerschutzgesetzes – fehlende Massgeblichkeit der Qualifikation als «öffentliche Gewässer» nach kantonalem Gewässernutzungsgesetz (Flums SG). Urteilsauszug und kritische Anmerkungen Hans Stutz, URP 6/2020, S. 657 ff.
Nach Auffassung des Autors ist der rechtskräftige Entscheid B 2019/95 des Verwaltungsgerichts St. Gallen vom 22. August 2019 ungenügend begründet. Auch wenn die Dorfbäche in der heutigen Ausgestaltung offensichtlich keine hohe ökologische Qualität aufwiesen, sei jeweils zu prüfen, ob eine Aufwertung im Rahmen des ökologischen Ausgleichs angezeigt gewesen wäre.
Vers une économie circulaire des emballages de boissons en verre en Suisse – limites et apports du cadre réglementaire Partie II: Perspectives. Dunia Brunner, URP 2020/7, S. 685 ff.
Die Autorin zeigt anhand von Getränkeverpackungen auf, dass neue Rechtsgrundlagen notwendig sind, um eine wirkungsvolle Vermeidung von Glasabfällen zu erreichen.
Steuerrecht
Der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Mehrwertsteuer-Strafverfahren. René Matteotti, Jusletter vom 11.1.2021
Steuerverkürzungen können Anlass zur Durchführung mehrerer Verfahren geben. Diese zielen einerseits auf den Steuernachbezug und andererseits auf die Sanktionierung des Steuerpflichtigen ab. Die damit einhergehenden verfahrensrechtlichen Problemfelder wurden bisher vornehmlich mit Blick auf die Verfahrensrechte und -pflichten des Steuerpflichtigen analysiert. Wie es sich jedoch bei parallelen Verfahren in Bezug auf die Verfahrensrechte von Mittätern oder Teilnehmern verhält, wurde bislang kaum beleuchtet. Mit dieser Frage, die von grosser praktischer Bedeutung ist, setzt sich der vorliegende Beitrag auseinander.
Übriges Verwaltungsrecht
Lehrplan 21 und schulischer Religionsunterricht. Lorenz Engi, ZBl 11/2020, S. 593 ff.
Der Autor kommt zum Schluss, die religiöse Pluralisierung der Schweizer Bevölkerung mache sich wahrscheinlich nirgends so stark bemerkbar wie in der öffentlichen Schule. Diese könne sich nicht mehr mit einer bestimmten Konfession verbinden, sondern müsse Distanz zu allen religiösen Überzeugungen halten. Gleichzeitig sei es notwendig, mehr Kenntnisse über die verschiedenen Religionen zu vermitteln. Diese beiden Erfordernisse könnten mit einem Unterricht eingehalten werden, der über die verschiedenen Religionen informiere, ohne sich an die Gehalte einer bestimmten zu binden.
Aktuelle Aspekte der Schulpflicht. Herbert Plotke, ZBl 11/2020, S. 599 ff.
Laut Autor bildet der Kindergarten nach den bundesrechtlichen Vorschriften nur dann Teil des Grundschulunterrichts, wenn er obligatorisch zu besuchen ist. Ob ein Kind den Schulweg aus eigenen Kräften zurücklegen könne, entscheide sich stets aufgrund der konkreten Lage. Weiter würden weder der Bund noch die Kantone ein Recht auf freie Wahl der Schule, des Schulortes oder des Schulhauses gewähren.
Das Trottoir. Mathias Kaufmann und Alain Griffel, SJZ 2020, S. 755 ff.
Die Autoren legen dar, welche Verkehrsregeln mit Blick auf die Benutzung von Trottoirs effektiv gelten. Mit Blick auf die stetig anwachsende Konkurrenz bei der Benutzung von Trottoirs durch Fussgänger, Velos, E-Bikes und fahrzeugähnliche Geräte bringt der vorliegende Beitrag etwas Licht ins Dunkel der geltenden Vorschriften.
Sekundärprävention bei sexuellem Interesse an Kindern. Susanna Niehaus, Delia Pisoni und Alexander F. Schmidt, CHSS 4/2020, S. 10 f.
Personen mit pädophilen Neigungen müssen ihre sexuellen Impulse lebenslang kontrollieren. Die Lanzarote-Konvention zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung verpflichtet die Schweiz, Präventionsmassnahmen für Personen anzubieten, die befürchten, eine solche Straftat zu begehen.
Sozialversicherungsrecht
Die Parteien im sozialhilferechtlichen Rechtsmittelverfahren. Martin Daniel Küng, AJP 11/2020, S. 1423–1429
Die sozialen Dienste betrachten nahestehende, im gleichen Haushalt wohnende Personen jeweils als «eine Einheit» und führen bloss ein Fallkonto. Die Kommunikation läuft in diesem Fall meistens lediglich über die antragstellende Person. In der Praxis wird denn auch die Verfügung zuweilen nur derjenigen Person eröffnet, über die das Fallkonto läuft. Zu welchen Problemen dies führen kann und wie diese gelöst werden könnten, zeigt der Autor in seinem Beitrag.
Missbrauchsbekämpfung in der Privatversicherung – Recht auf Tonaufnahme der Begutachtung? Soluna Girón, Have 4/2020, S. 363 ff.
Der Beitrag untersucht, ob eine Begutachtung im Rahmen eines privatversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahrens auch ohne Kenntnis der Gutachter auf Tonband aufgezeichnet und im weiteren Verfahren verwendet werden darf. Der Autor kommt zum Schluss, dass ein solches Recht besteht: Einerseits müsse das Interesse der begutachtenden Person auf Schutz ihrer Persönlichkeit hinter dem der versicherten Personen auf ein faires Verfahren zurückstehen, andererseits könne eine Strafbarkeit bei heimlicher Aufzeichnung nicht angenommen werden.
AHV, IV, EL und ALV
Variable Einkommen und ihre Auswirkungen auf die Taggelder und Renten der Invaliden- und Unfallversicherung. Thomas Gächter und Kaspar Gerber, SZS Sonderheft 1/2020, S. 339
Zunehmend wirkt sich die Leistung des Arbeitnehmers auch auf den Lohn aus. Mit der Folge, dass das Einkommen schwankt. Bei Erwerbsunfähigkeit fragt sich, auf wie viele Monate der Zeitraum für die Erhebung des massgebenden Einkommens ausgedehnt werden soll, damit von einer angemessenen Basis für die Bemessung des Taggeldes oder der Rente ausgegangen werden kann. Der Beitrag verschafft einen guten Überblick über die verschiedenen Bemessungsansätze in der Invaliden- und der Unfallversicherung.
Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung. Olivia Kaderli und Tulay Sakiz, Have 4/2020, S. 368 ff.
Oft ist im Sozialversicherungsrecht unklar, welche Versicherung für einen Erwerbsausfall aufzukommen hat. Steht ein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung im Raum, ist gemäss Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG die Arbeitslosenversicherung vorleistungspflichtig, sofern die Leistungen eines anderen Sozialversicherungszweiges umstritten sind. Erbringt die Arbeitslosenversicherung unter diesem Titel Leistungen, so handelt es sich um «vorläufige» Leistungen, bis die effektive Leistungspflicht eines anderen Sozialversicherers definitiv ist. Die Autorinnen behandeln neben den erforderlichen Voraussetzungen auch die Frage der Rückerstattung von kongruenten Leistungen verschiedener Sozialversicherer.
Strafrecht
Übriges Strafrecht
Täterkomponenten und Strafartenwahl bei der Gesamtstrafenbildung. Jürg-Beat Ackermann und Marko Cesarov, Forumpoenale 6/2020, S. 451 ff.
Die Autoren befassen sich mit der Methodik der Gesamtstrafenbildung und schlagen vor, gewisse Täterkomponenten bereits im Rahmen der Einzelstrafzumessung und der Wahl der Strafart zu berücksichtigen. Zudem beleuchtet der Beitrag, welche Aspekte gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts bei der Wahl der Strafart relevant sein könnten.
Privatrecht
Familienrecht
Die Kindesanhörung im Adoptionsverfahren (Art. 268abis Abs. 1 ZGB). Stephanie Hrubesch-Millauer, Philip Lengacher und Stephan Wolf, AJP 12/2020, S. 1501 ff.
Der Beitrag untersucht, wann die Adoptionsbehörde von der Anhörung des zu adoptierenden Kindes absehen kann und wie zu verfahren ist, wenn rechtlich kein Verzicht auf die Anhörung zulässig ist. Mit einer kritischen Würdigung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Vorgaben (Art. 12 der Kinderrechtskonvention).
Erbrecht
Rechtsprechung und ausgewählte Rechtsfragen 2020. Roland Pfäffli, Der Bernische Notar 4/2020, S. 423 ff.
Zusammenstellung von Entscheiden des Bundesgerichts und kantonaler Gerichte mit Bezügen zur notariellen Praxis in den Bereichen ZGB, OR, Abgaberecht und Notariatsrecht.
Obligationenrecht
Arbeitsrecht
Arbeitsrecht im Konzern. Neuere Tendenzen in Rechtsprechung und Praxis. Thomas Geiser, AJP 12/2020, S. 1512–1524
Der Beitrag behandelt Fragen zur rechtlichen Selbständigkeit von Konzerngesellschaften und fehlender Rechtspersönlichkeit des Konzerns im Zusammenhang mit arbeitsrechtlichen Beziehungen. Unklarheiten können namentlich dann entstehen, wenn ein Arbeitnehmer in einer anderen Konzerngesellschaft tätig ist als jener, die im Arbeitsvertrag als Arbeitgeberin auftritt.
Übriges Vertragsrecht
Ein wichtiges Urteil zur Nachtragsberechnung: BGE 143 III 145. Hubert Stöckli, Baurecht 2020, S. 315 ff.
Der Autor kommentiert ausführlich ein Leiturteil des Bundesgerichts zur Frage, wie Nachträge zu berechnen sind, wenn die Parteien sich nicht auf einen Preis verständigen können. Diese Frage ist besonders heikel, wenn ursprünglich ein Pauschal- oder Globalpreis vereinbart wurde. In diesem praktisch relevanten Bereich gibt das Bundesgerichtsurteil für den Anwendungsbereich der SIA-Norm 118 eine neue Richtung vor.
Handels- und Wirtschaftsrecht
Wettbewerbs- und Kartellrecht
Le juge suisse et le droit de la concurrence européen. Simon Hirsbrunner, Jusletter vom 23.11.2020
Das Schweizer Kartellrecht muss parallel zu seinem europäischen Gegenstück ausgelegt werden. Dennoch führt die schweizerische Kartellrechtspraxis nicht immer zu Ergebnissen, die mit der EU-Praxis kompatibel sind. Laut Autor sollten Schweizer Behörden hinterfragen, ob es mit dem Grundsatz der parallelen Auslegung vereinbar ist, wenn bei bestimmten Vertikalabreden oder Praktiken von marktbeherrschenden Unternehmen per se eine nachteilige Auswirkung auf den Wettbewerb unterstellt wird.
Immaterialgüterrecht
Neues Urheberrecht für Fotografien – Bestandesaufnahme und einige kritische Gedanken. Reinhard Oertli, Sic! 11/2020, S. 599 ff.
Das neue Urheberrechtsgesetz schützt neu Fotografien auch dann, wenn sie keinen individuellen Charakter haben. Dogmatisch wird diese Neuerung als Stilbruch empfunden und wirft Fragen auf, wie diejenige des Schutzumfangs und der Urheberpersönlichkeitsrechte des Fotografen.
Verfahrens- und Vollstreckungsrecht
Gerichtsaufsicht in der Praxis. Daniel Peier, Justiz 3/2020
Der Autor beleuchtet praktische Aspekte der Gerichtsaufsicht. Sie legitimiere sich durch eine strikte Zweckbindung und Zweckeignung und auch dadurch, dass sie sich ihre eigenen Risiken bewusst mache. Dergestalt trägt die Gerichtsaufsicht dazu bei, die verfassten Unabhängigkeiten der Judikative zu gewährleisten.
Strafprozessrecht
Kritische Überlegungen zu den administrativen Zuständigkeiten im Straf- und Massnahmenvollzug. Noémi Biro,
Recht 2020, S. 221 ff.
Die Autorin kritisiert die neusten Pläne des Bundesamts für Justiz, das im Frühjahr 2020 einen Vorentwurf in die Vernehmlassung geschickt hatte. Oberstes Ziel bleibe einmal mehr die öffentliche Sicherheit, auch auf Kosten des Rechtsstaats.
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
Gedanken zur Effektivität unseres Systems zur Vollstreckung von Geldforderungen. Franco Lorandi,
AJP 11/2020, S. 1396–1422
Der Beitrag nimmt in einer eingehenden Betrachtung eine Analyse der Insolvenz von Gesellschaften vor. Dabei benennt der Autor Schwachstellen im materiellen Recht und im Vollstreckungsrecht und unterbreitet verschiedene Verbesserungsvorschläge (siehe auch Seite 6).