Der Taxifahrer hatte sich damals vor dem Rotlicht nur kurz abgeschnallt, um für seinen Fahrgast eine Visitenkarte hervorzuholen. Als das Lichtsignal auf Grün schaltete, hatte er seine Sicherheitsgurte bereits wieder angelegt. Das Bundesgericht hiess die Busse von sechzig Franken wegen Missachtung der Anschnallpflicht trotzdem gut.
Die «spitzfindige und wortklauberische» Argumentation des obersten Gerichts bei diesem Urteil 6B_5/2011 vom 14. Juli 2011 veranlasste die Jury, um diesen Entscheid zum «Fehlurteil 2011» zu küren. Es war eines der zahlreichen Urteile, welche die plädoyer-Leserschaft letzten Dezember für die Wahl zum Fehlurteil des Jahres 2011 vorgeschlagen hatte.
«Mit Kanonen auf Spatzen geschossen»
Die Jury setzte sich aus Professoren aus unterschiedlichen Rechtsgebieten und von verschiedenen Universitäten zusammen: Brigitte Tag, Professorin für Straf-, Strafprozess- und Medizinrecht in Zürich, Thomas Sutter-Somm, Professor für Zivilrecht und Zivilprozessrecht in Basel und Bernhard Rütsche, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie in Luzern.
Die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts argumentierte im kritisierten Urteil, dass die Sicherheitsgurte während der ganzen Fahrt zu tragen sei. Diese daure aber vom Start bis zum Ziel, also auch während eines Stopps vor dem Lichtsignal. «Rot ist rot», meint dagegen Sutter-Somm pragmatisch. Die Richter hätten Haarspalterei betrieben. «Das Urteil ist juristisch und vom gesunden Menschenverstand her nicht haltbar.» Brigitte Tag beurteilt den Entscheid zwar als «nicht ganz so haarsträubend», ist aber mit ihren Kollegen einig, dass das Bundesgericht «mit Kanonen auf Spatzen geschossen hat».
Bundesgericht entschied in ähnlichem Fall anders
Negativ aufgefallen ist den Juroren vor allem, dass das Bundesgericht 2006 in einem ähnlichen Fall anders entschieden hatte: Damals gab es einem Anwalt recht, der im Stau in den Phasen des Stillstands auf dem Lenkrad und den Oberschenkeln eine Zeitung gelesen hatte. Es argumentierte damals, dass sich das von Artikel 3 Absatz 1 der Verkehrsregelverordnung geforderte Mass der Aufmerksamkeit nach den gesamten konkreten Umständen zu richten hätte.
Im aktuellen Fall sei diese Rechtsprechung nicht anwendbar, so das Bundesgericht nun, weil es sich bei der Gurtentragepflicht im Gegensatz zum anderen Fall nicht um eine Verkehrsregel handle: «Das Nichttragen der Sicherheitsgurte gefährdet (primär) nicht den Verkehr, sondern ist in erster Linie eine Selbstgefährdung.» Für Rütsche ist unverständlich, dass das Bundesgericht bei der blossen Selbstgefährdung des Taxifahrers nicht denselben, ja sogar den strengeren Massstab anwendet als bei der Drittgefährdung durch den zeitungslesenden Anwalt. «Hier stimmt auch die Wertung des Bundesgerichts nicht», meint er. «Dass im Fall mit der Sicherheitsgurte die konkreten Umstände plötzlich keine Rolle mehr spielen sollten und eine abstrakte Gefährdung genügt, ist nicht nachvollziehbar.» Die Jury ist sich einig: Das Bundesgericht hat zwei vergleichbare Sachverhalte aufgrund einer formalistischen Argumentation unterschiedlich behandelt.