Zum ersten Mal überhaupt verurteilte im April 2001 das Gericht eines Drittstaates einen Ruander wegen seiner Teilnahme am Völkermord von 1994. Das schweizerische Appellationsmilitärgericht bestätigte die 14-jährige Gefängnisstrafe von Fulgence N., der zum Zeitpunkt der Tat Bürgermeister von Mushubati war, wegen «Verstosses gegen die Kriegsgesetze». Erst drei Jahre zuvor war ein bosnischer Serbe, der angeklagt war, in den Lagern von Omarska und Keraterm Gefangene schwer geschlagen zu haben, wegen ungenügender Beweislage freigesprochen worden.
Strafanzeigen in der Schweiz eingereicht
Seitdem ist in der Schweiz weder ein mutmasslicher Kriegsverbrecher unter Anklage gestellt noch verurteilt worden. Das eidgenössische Parlament hat 2003 aus Angst, dass die Justiz von einer Flut Anklagen gegen hohe israelische Militärs und amerikanische Staatsangestellte überrollt werden könnte, das Militärgesetz eingeschränkt, indem sie für die Eröffnung einer Anklage neu einen «engen Bezug» mutmasslicher Kriegsverbrecher zur Schweiz verlangte.
In den vergangenen Jahren sind in ungefähr 15 vorwiegend europäischen Ländern strafrechtliche Verfahren in die Wege geleitet, Verdächtige festgenommen und insgesamt fast 25 Schuldige verurteilt worden. Es ging um Greueltaten in Afghanistan, dem ehemaligen Jugoslawien, Mauretanien, Chile, der Demokratischen Republik Kongo, dem Tschad, Sierra Leone, Ruanda, Argentinien, Irak, den besetzten palästinensischen Gebieten, dem Tibet, Sri Lanka und anderswo.
Neue Studien deuten darauf hin, dass mehrere mutmassliche Verantwortliche von Kriegsverbrechen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen westlichen Ländern Zuflucht gesucht und gefunden haben. So haben in Grossbritannien die Immigrationsbehörden zwischen 2004 und 2009 über 350 Dossiers wegen Verdachts auf Beteiligung an Völkerrechtsverbrechen zurückgewiesen. In Australien, den Vereinigten Staaten und Kanada weisen die Zahlen ebenfalls darauf hin, dass Hunderte, wenn nicht Tausende von Verdächtigen in diese Länder gelangen konnten. Vor kurzem hat der niederländische Justizminister bestätigt, dass sich nur schon aus Ruanda einige Dutzend Völkermord-Verantwortliche in seinem Land befinden.
Und in der Schweiz? Erklären unsere Gemächlichkeit und unser Bankensystem, dass seit bald zehn Jahren kein einziger Fall mehr verzeichnet wurde? Sicher sind das nicht die einzigen Barrieren. Die Nichtregierungsorganisation Trial (Track Impunity Always, Webseite: www.trial-ch.org) hat mehrere Strafanzeigen gegen in der Schweiz weilende mutmassliche Täter eingereicht.
Vorwände, Pannen, und Verfahrenseinstellungen
Die Militärjustiz hat zwei Untersuchungen eingeleitet und später zu den Akten gelegt. Eine davon betraf einen ehemaligen Chef der afghanischen Nachrichtendienste, bei dem sich nach langen Ermittlungen ergab, dass er seine Identität gefälscht hatte. Die Genfer Justiz hat alle möglichen Vorwände vorgebracht, um mehrere Dossiers auf Eis zu legen.
Die Freiburger Justiz ihrerseits war im Oktober 2009 nahe dran, einen ehemaligen algerischen Minister zu verhaften, weil ein nach Frankreich geflüchtetes Opfer ihn beschuldigte, persönlich an seiner Folter teilgenommen zu haben. Ein Informationsleck, das derzeit von der Freiburger Justiz untersucht wird, hat jedoch den algerischen Behörden erlaubt, den mutmasslichen Folterer kurz vor seiner Ankunft in Freiburg, wo er von der Polizei erwartet wurde, ausser Landes zu schaffen.
Es ist ausserdem bekannt, dass ein ehemaliger Minister der Interimsregierung von Ruanda, der für den Völkermord verantwortlich war, zurzeit im Kanton Luzern lebt. Nachdem die Schweiz ihre Ermittlungen eingestellt hatte scheint nun auf Anfrage der ruandischen Behörden ein neues Verfahren eingeleitet worden zu sein.
Ausländisches Vorbild: Spezialisierte Einheiten
Warum also kommen noch immer so wenige Gerichtsverfahren zustande? Das Fehlen zeitgemässer Gesetze erklärt dies teilweise. Am 18. Juni dieses Jahres hat das Parlament endlich diese Lücke geschlossen, indem es das Bundesgesetz über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs angenommen hat.
Leider hat sich das Parlament von seiner zögerlichen Seite gezeigt und die Anwendung der neuen Normen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche vor ihrem Inkrafttreten begangen wurden, auch wenn diese zum Tatzeitpunkt nach den international anerkannten generellen Rechtsprinzipien schon strafbar waren (siehe Artikel 7 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention), zurückgewiesen. Da der neue Gesetzestext die Verantwortung für diese Fälle in die Hände der Bundesanwaltschaft legt und die Militärjustiz nichts mehr dazu zu sagen hat, könnte die strafrechtliche Verfolgung von Völkerrechtsverbrechern rationalisiert werden.
Aber ohne eine proaktive strafrechtliche Politik ist daran zu zweifeln, ob die Eidgenossenschaft ihre internationalen Verpflichtungen in Bezug auf den Einsatz gegen die Straffreiheit effizient wahrnimmt. Einmal mehr kommt das gute Beispiel aus dem Ausland.
Viele Länder haben spezialisierte Einheiten geschaffen, die für das Aufspüren und die strafrechtliche Verfolgung von Völkerrechtsverbrechern verantwortlich sind. Diese Einheiten können auch ohne die Einstellung von zusätzlichen Mitarbeitern bereitgestellt werden und tragen vielmehr der Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Anklägern, Ermittlern und Verantwortlichen der Immigrationsdienste sowie mit ihren ausländischen Kollegen Rechnung.
Kein einziges Verfahren in Deutschland seit 2001
Die Niederlande, Dänemark, Kanada, Norwegen, Belgien, Schweden und Grossbritannien etwa haben solche Strukturen erstellt - mit überzeugenden Resultaten. Die Anzahl der Ermittlungen, Verhaftungen und Verfahren steigt an. Die Immigrationsdossiers werden besser ausgewertet und an die Justiz weitergeleitet, wenn Hinweise zu einer Beteiligung an Völkermord, an gewaltsamem Verschwindenlassen von Personen oder an Vergewaltigungen ans Licht kommen.
Die aus den oft sehr komplexen Fällen gewonnenen Erfahrungen und Informationen sind auch für andere Verfahren nützlich. Umgekehrt hat die Streichung von Mitteln für die entsprechende Einheit im deutschen Bundeskriminalamt direkte Konsequenzen für die Anzahl der Ermittlungen in unserem Nachbarland gehabt. Die deutsche Justiz, welche sich auf ein ähnliches Gesetz stützt wie die schweizerische, hat seit 2001 kein Verfahren gegen einen Völkerrechtsverbrecher mehr eingeleitet.
Die Schweiz hat ein Gesetz angenommen, das zwar schön aussieht, dessen praktische Anwendung aber höchstwahrscheinlich eingeschränkt ist. Die Schaffung einer auf Völkerrechtsverbrecher spezialisierten Einheit könnte diesen Mangel wettmachen.
Philip Grant, Dr. iur. LL.M., Präsident der Schweizer Nichtregierungsorganisation Trial, Genf