Goliaths netter Vertreter
Wenn die Schweiz Schelte von den Richtern in Strassburg einstecken muss, dann hält er den Kopf hin: Frank Schürmann vertritt die Schweiz regelmässig vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In Zukunft wohl noch öfter.
Inhalt
Plädoyer 2/11
04.04.2011
Letzte Aktualisierung:
04.10.2013
Corinne Stöckli
Kaum ein Jurist kennt ihn, zumindest ausserhalb von Bundesbern. Dabei ist Frank Schürmann so etwas wie der juristische Torhüter der offiziellen Schweiz. Er ist es, der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für die Schweiz im Tor steht und es möglichst gut abdeckt. Seit fünf Jahren ist Schürmann «Agent du Gouvernement Suisse» und vertritt die Schweizer Regierung regelmässig vor dem EGMR.
In den Job geführ...
Kaum ein Jurist kennt ihn, zumindest ausserhalb von Bundesbern. Dabei ist Frank Schürmann so etwas wie der juristische Torhüter der offiziellen Schweiz. Er ist es, der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für die Schweiz im Tor steht und es möglichst gut abdeckt. Seit fünf Jahren ist Schürmann «Agent du Gouvernement Suisse» und vertritt die Schweizer Regierung regelmässig vor dem EGMR.
In den Job geführt haben den 56-Jährigen eher bestimmte Interessen als eine bewusste Karriereplanung: An der Universität Basel promovierte er 1986 im Strafrecht und arbeitete später als wissenschaftlicher Adjunkt in der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. «Für meine Arbeit sind auch vertiefte Kenntnisse der nationalen Rechtsordnung wichtig», sagt Schürmann. Letztere nützten ihm bereits vor seiner Berufung zum «Agent», nämlich als Leiter des Dienstes für Strafprozessordnung im Bundesamt für Justiz.
In dieser Funktion hatte Schürmann damals auch das Mammut-Projekt der Vereinheitlichung der Strafprozessordnung bis zur Verabschiedung der Botschaft geleitet. «Bei der neuen Strafprozessordnung sieht man deutlich die Spuren der EMRK», sagt Schürmann. «Zum Beispiel beim neuen Zwangs-massnahmengericht oder bei den Anforderungen an die gesetzliche Grundlage bei Zwangsmassnahmen.» Trotzdem: Fälle konventionswidriger Anwendung werde es wohl auch in Zukunft geben.
Rund 700 Beschwerden gegen die Schweiz sind zurzeit hängig - wenige im Vergleich zu den insgesamt 145 000 hängigen Beschwerden gegen die 47 Mitgliedstaaten des Europarates. Rund 95 Prozent der eingereichten Beschwerden werden die Strassburger Richter zudem erfahrungsgemäss für unzulässig erklären, entweder aus formellen Gründen oder bei offensichtlich unbegründeten Fällen. Vor allem über Letztere wüsste Schürmann gerne mehr: «Diese Fälle sind zu wenig erforscht. Hier sollte der Gerichtshof mehr kommunizieren - auch damit potenzielle Beschwerdeführer ihre Chancen besser abschätzen können.»
Gegen die Schweiz laufen heute rund 70 Verfahren, in denen die Beschwerde für zulässig erklärt und die Regierung zur Stellungnahme eingeladen wurde. «Die meisten davon werden schriftlich durchgeführt», sagt Schürmann. Sein Hauptarbeitsplatz ist nicht in Strassburg, sondern in Bern. Hier hat er ein Team von vier juristischen Mitarbeitern mit insgesamt 270 Stellenprozenten hinter sich. Auch die Vertretung in Beschwerdeverfahren vor dem UN-Ausschuss gegen Folter in Genf gehört zu ihren Aufgaben.
Kollegen und Gegenanwälte schätzen Schürmann als «hochkompetenten» Juristen mit «hohem Ansehen in Strassburg» ein. Seine Stärke sei weniger die grosse Show im Gerichtssaal als die «glasklare Argumentation» in seinen Rechtsschriften. «Ein netter Typ», sind sich alle einig, Kritiker finden sich kaum. Ein Beobachter bemängelt immerhin, dass Schürmann seine Verteidigungsstrategie häufig auf Formalien aufbaue.
Das hört Schürmann nicht gerne und erklärt: Im Unterschied zum Bundesgericht kenne Strassburg das Rügeprinzip nicht und prüfe den Fall frei. «Bevor wir das Materielle anschauen, bringen wir darum oft vor, dass der Beschwerdeführer den nationalen Instanzenzug nicht ausgeschöpft hat, wenn das Bundesgericht die Rüge mangels Substanziierung nicht zu prüfen hatte.» Das scheine ihm legitim. Auch Luzius Wildhaber, ehemaliger EGMR-Präsident, findet: «Im Vergleich zu anderen Staaten argumentiert die Schweiz relativ pragmatisch und lösungsorientiert.»
Wie ist es, ständig den Goliath gegen den David zu vertreten? «Es gibt Staaten in Europa, in denen ich diesen Job nicht machen könnte. Verteidigung um jeden Preis, das wäre nicht meine Sache», sagt Schürmann auf seine ruhige Art. Man glaubt es ihm. Eine Verteidigung contre coeur kennt er nicht: «Das angefochtene Urteil ist ja in aller Regel eine solide Grundlage. Es gibt immer Argumente, die vertretbar sind.» Gütliche Einigungen gehe die Schweiz darum vergleichsweise selten ein, nur in elf Fällen seit dem Beitritt zur EMRK im Jahr 1974. Entscheidend ist für Schürmann zudem, dass es ein «Danach» gibt: Die Staaten müssen vor dem Ministerkomitee des Europarats regelmässig über die Umsetzung der Urteile Rechenschaft ablegen. «Auch in dieser Phase bleiben wir involviert und sind Ansprechpartner für die Gesetzgeber und die rechtsanwendenden Behörden.»
Elf Urteile fällte der EGMR vergangenes Jahr über die Schweiz, achtmal stellte er dabei eine Verletzung der EMRK fest. Schürmann dazu: «Nur rund zwei Prozent der registrierten Beschwerden enden für die Schweiz mit einer Verurteilung. Wenn eine Beschwerde aber zugelassen wird, dann ist die Chance gross, dass eine Verletzung festgestellt wird.»
Am häufigsten wird die Schweiz wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren verurteilt, insgesamt 22 Mal seit ihrem Beitritt. In der Statistik verweist Schürmann aber zuerst auf die Verletzungen des Rechts auf Leben und des Folterverbots. Wo es ans Lebendige geht, steht die Schweiz gut da: Nur ein einziges Mal wurde sie hier wegen eines prozessualen Versäumnisses verurteilt. «Ein solcher Fall geht einem emotional dann schon nahe», sagt Schürmann.
Rund je dreissig Beschwerden wurden der Schweiz 2009 und 2010 zugestellt, rund doppelt so viele wie im Mittel der Jahre zuvor. Erklären kann sich Schürmann diesen plötzlichen Anstieg nicht: «Wir wissen auch nicht, wie diese Auswahl getroffen wird. Aber manche Beschwerde, die uns heute zugestellt wird, wäre früher wohl ohne Einladung zur Stellungnahme erledigt worden.» Damit nimmt auch bei ihm und seinem Team die Arbeitslast zu. Einen Ausgleich findet der Thuner bei Spaziergängen mit seinem Labradormischling. Oder bei Chopin, zuweilen selbst am Klavier.
Nebenberuflich doziert Schürmann an den Universitäten Bern und Freiburg im Bereich Menschenrechte. Die Offenheit der «Jungen» freut den Vater von zwei erwachsenen Töchtern. Auch in Bezug auf den Gerichtshof ist er offen für neue Ideen. Er sieht ihn künftig als eine Art europäisches Verfassungsgericht, das Grundsatzurteile zu aktuellen, rechtspolitisch zentralen Fragen fällt. «Heute muss der Gerichtshof für 900 Millionen Menschen Einzelfallgerechtigkeit herstellen. Das kann längerfristig nicht seine Aufgabe sein.» Frank Schürmanns Aufgabe bleibt vorerst klar: Die richtige Ecke des Tors decken.