Stephan Bernard: Hanspeter Uster, der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft in der neuen Strafprozessordung ist auffallend.
Hanspeter Uster: Die Staatsanwaltschaft hat heute in einigen Kantonen eine stärkere Stellung als früher, vor allem im Vergleich zu den Kantonen, die vor Einführung des neuen Strafprozesses das Untersuchungsrichtersystem hatten. Ich bin aber überzeugt, dass das neue System in sich kohärent und rechtsstaatlich gut ist. Aber es bedingt Gegengewichte, um den Schutz der Grundrechte zu gewährleisten. Das Interesse der Staatsanwaltschaft ist es ja, den Fall möglichst schnell und erfolgreich abzuschliessen, wobei eine Einstellung zu Unrecht oft als Niederlage empfunden wird. Entscheidend sind darum Gegengewichte zur starken Stellung des Staatsanwaltes: Dazu gehören das Zwangsmassnahmengericht, formale Vorschriften oder der Anwalt der ersten Stunde. In den Medien heisst es, die Kosten seien durch die Pikett-Anwälte explodiert. Dass das teurer wird, war klar - das ist der Preis des Rechtsstaates!
Bernard: Sie bezeichnen den Anwalt der ersten Stunde als eines der Gegengewichte zur starken Staatsanwaltschaft. Dies setzt aber voraus, dass er auch tatsächlich in Anspruch genommen wird. Er ist daher nur dort ein Gewinn für die fragilen Beschuldigtenrechte, wo es ein funktionierendes Pikett gibt, was nicht landesweit der Fall ist. In der Praxis beobachte ich zudem, dass der Anwalt der ersten Stunde je nach Bildungsschicht und finanziellen oder intellektuellen Ressourcen unterschiedlich oft in Anspruch genommen wird. Wer wenig Geld oder Berührungsängste mit dem Anwalt hat, greift seltener auf diese Möglichkeit zurück. Nicht zuletzt, weil die Rechtsbelehrungen zu wenig klar darauf hinweisen, dass je nach Finanzlage ein Anspruch auf amtliche Verteidigung besteht.
Uster: Die Rechtsbelehrung ist bei der Polizei und den Staatsanwaltschaften ein ständiges Thema. Die angeblichen Anforderungen der Strafprozessordnung haben zu einer Art römischrechtlichem Formularprozess geführt, bei dem seitenweise vorgelesen wird. Das braucht viel Zeit und bringt das Verfahren schon zu Beginn ins Stocken. Die ins Verfahren involvierten Personen - Beschuldigter, Opfer - verstehen zudem gar nicht richtig, was man ihnen sagt oder vorliest.
Bernard: Ich verstehe hier das Lamento der Staatsanwälte nicht. Es wird so getan, als sei die Rechtsbelehrung etwas grundlegend Neues - dabei müsste es sie geben, seit die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat.
Uster: Das stimmt. Aber das neue Gesetz knüpft klarere Folgen an Fehler bei der Rechtsbelehrung. Die Staatsanwälte fürchten heute, bei der Rechtsbelehrung etwas falsch zu machen und eine Aussage deshalb nicht verwerten zu können. Ein grosser Formalismus, bei dem es nur noch darum geht, dass man die Unterschrift unter dem Protokoll hat, löst das Problem nicht. Der Beschuldigte versteht so seine Rechte oft nicht wirklich. Kinder verstummen, wenn man ihnen die Rechte in aller Länge mit allen «wenn und dann und falls» vorliest. Dieses Problem muss man bald lösen, sonst ist ein effizientes Verfahren unmöglich.
Bernard: Die Praxis zur Rechtsbelehrung ist bisher nicht glücklich, da gebe ich Ihnen recht. Die Rechtsbelehrungen sind teilweise aufgebläht und kompliziert oder schlicht falsch. Im Kanton Zürich heisst es zum Beispiel, man könne auf eigene Kosten einen Anwalt beiziehen. Das schreckt Unterprivilegierte und finanzschwache Kreise ab.
Uster: Die formellen Anforderungen für die Rechtsbelehrung sind zwar jetzt gesamtschweizerisch gleich, aber inhaltlich muss sich der jeweilige Staatsanwalt damit wohlfühlen. Dann versteht der Beschuldigte die Rechtsbelehrung auch.
Bernard: Als Praktiker wünsche ich mir eine Homepage mit zwei, drei verständlichen, landesweit gültigen Vorlagen zur Rechtsbelehrung von Beschuldigten. Vertreter der Justiz sollten diese Vorlagen in Zusammenarbeit mit der Anwaltschaft und Experten aus anderen Disziplinen erstellen - etwa mit einem Linguisten oder einem «Blick»-Journalisten, damit es dann auch alle verstehen.
Uster: Eine gute Idee! Ein anderer Punkt: Auch den im Strafprozess festgehaltenen Anklagegrundsatz empfinden die Staatsanwaltschaften als Bürde. Er erhöht den Grundrechtsschutz für den Beschuldigten aber klar. Es geht dabei letztlich auch um die Gewaltenteilung zwischen Anklagebehörde und dem Gericht, das keine Anklagefunktion hat und sich zurückhält.
Bernard: Das Gericht hat aber die Möglichkeit, die Anklage zurückzuweisen, sodass der Staatsanwalt nachuntersuchen kann. Zugespitzt heisst das: Das Gericht kann sich die Anklage fast selbst schreiben, wenn es die Staatsanwaltschaft einladen darf, hier und dort nachzubessern. Die klare Trennung zwischen Anklage und Gericht wird so aufgeweicht.
Uster: Ich bin überzeugt, dass es auch den Staatsanwälten etwas bringt und ihre Arbeit strukturiert, wenn sie sich schon am Anfang der Untersuchung überlegen müssen, was sie eigentlich anklagen wollen. Es nützt allen Verfahrensbeteiligten, wenn nicht planlos untersucht wird. Auch dass der Staatsanwalt die wesentlichen Einvernahmen nun selbst machen muss und nicht einfach an die Polizei oder an staatsanwaltsinterne Mitarbeitende delegiert, kommt dem Beschuldigten, aber auch dem Verfahren zugute und kürzt es in der Regel ab.
Bernard: Als weiteres Korrektiv zur Machtfülle beim Staatsanwalt nannten Sie die Zwangsmassnahmengerichte. Die Zürcher Erfahrung zeigt aber, dass diese die Staatsanwaltschaft nur relativ selten zurückpfeifen.
Uster: Aber nur schon weil es das Zwangsmassnahmengericht gibt und man das Risiko nicht gerne eingeht, dass man unterliegt, gibt es gewisse Zwangsmassnahmen-anordnungen oder Anträge nicht.
Bernard: Ein Problem liegt darin, dass die Zwangsmassnahmengerichte oft im selben Gebäude wie die Strafgerichte und die Staatsanwaltschaft angesiedelt sind. Eine Überweisung ans Zwangsmassnahmengericht heisst oft, dass Staatsanwalt A den Fall Richter B im Nebenbüro überweist. Wenn man es mit dem Zwangsmassnahmengericht als unabhängiges, korrigierendes Gericht ernst meint, muss man es mindestens in grossen Kantonen auch lokal unabhängig einrichten.
Uster: Die räumliche Nähe ist sicher nicht ideal. Aber die Zwangsmassnahmenrichter nehmen ihre Aufgabe ernst, oft übrigens nicht nur zur Freude der Staatsanwaltschaft. Eine andere Frage ist, wie das Zwangsmassnahmengericht mit den Zwangsmassnahmen umgeht, die nur genehmigt werden müssen.
Bernard: Der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft manifestiert sich auch in ihrer Strafbefehlskompetenz und bei der Ausgestaltung des abgekürzten Verfahrens. Ein Strafbefehl wird heute teilweise ohne Geständnis oder wirklich klaren Beweis erlassen, wobei es da bei der Handhabung selbst innerhalb des Kantons Zürichs grosse Unterschiede gibt. Wenn ein Alkoholiker oder ein Sprachunkundiger danach den Strafbefehl erhält und darauf nicht reagiert, gilt er als schuldig und kann empfindlich bestraft werden. Wenn er eine Einsprache erhebt und in der Folge einmal nicht an einer Einvernahme erscheint, gilt die Einsprache als zurückgezogen. Ich meine, dass diese Verfahrensart die Effizienz der Behörden zu stark ins Zentrum stellt. Das geht letztlich auf Kosten eines rechtsstaatlichen und bürgernahen Strafverfahrens.
Uster: Das Strafbefehlsverfahren erhöht die Effizienz zweifellos, was auch sinnvoll ist. Der konkludente Rückzug, wenn jemand im Strafbefehlsverfahren einer Einvernahme fernbleibt, ist aber ein zu starker Automatismus. Wenn jemand eine Einsprache gemacht hat, sollte man einen expliziten Rückzug verlangen oder sonst aufgrund der Aktenlage entscheiden. Das müsste man bei der nächsten Revision der Strafprozessordnung berücksichtigen. Grundsätzlich gesehen ist das Strafbefehlsverfahren aber nötig - sonst hätte man viele Klein- und Kleinstverfahren, die viele Ressourcen binden und grosse Kosten verursachen würden.
Bernard: Dass die Massenkriminalität über Strafbefehle abgewickelt werden soll, ist unbestritten. Aber dass der Strafprozess das Strafbefehlsverfahren für Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten vorsieht, geht zu weit. In Zürich war die Obergrenze früher bei drei Monaten und es war ein klares Geständnis nötig. Das schien mir angemessener. Mit der neuen Ordnung hat die Staatsanwaltschaft zu viel Macht erhalten. Auch beim abgekürzten Verfahren hat es der Staatsanwalt alleine in der Hand, ob er eines durchführen will. Das abgekürzte Verfahren schätze ich als Verteidiger im Einzelfall, aber ich finde es in der heutigen Ausgestaltung rechtsstaatlich bedenklich. Denn der Entscheid für oder gegen das abgekürzte Verfahren hat für die Angeklagten entscheidende Konsequenzen hinsichtlich der Urteilshöhe. Eine Beschwerdemöglichkeit gegen den Entscheid des Staatsanwaltes über die Durchführung gibt es nicht.
Uster: Das abgekürzte Verfahren liegt oft auch im Interesse der Beschuldigten, weil ihr Fall so in angemessener Zeit abgeschlossen werden kann. Dieses Instrument wie auch die Wiedergutmachung kommen eher gutbetuchten Leuten zugute. Auf diese Ökonomisierung des Strafverfahrens hat schon der leitende Oberstaatsanwalt Andreas Brunner hingewiesen. Dass der Beschuldigte bei Ablehnung des abgekürzten Verfahrens eine gerichtliche Prüfung verlangen können sollte, scheint mir eine interessante Idee. Im Kanton Zug konnte der Strafbefehl schon früher Freiheitsstrafen bis sechs Monate umfassen. Die Erfahrungen damit waren nicht so, dass man sagen müsste, in Zug seien im Vergleich mit Zürich die Verhältnisse untragbar gewesen.
Bernard: Dass der neue Strafprozess die Macht vom Gericht hin zur Staatsanwaltschaft verlagert, erachte ich zudem als eine problematische kriminalpolitische Entwicklung. Die Staatsanwaltschaft ist Teil der Exekutive und nicht eine unabhängige eigene Gewalt.
Uster: Die Gewaltenteilung ist wichtig. Ich sehe aber anders als Sie nicht schwarz: Auch die Staatsanwälte und die Polizei bestätigen mir, dass die Instrumente der Verteidigung jetzt flächendeckend als Gegengewicht wirken. Dass sie darüber nicht in Jubel ausbrechen, ist ein gutes Zeichen für den Grundrechtsschutz. Ein Strafverfahren ist ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeit. Die formellen Vorgaben sollen den Eingriff verhältnismässig machen. Strafrecht ist und bleibt ultima ratio.
Stephan Bernard, 37, Rechtsanwalt, LL.M. und Mediator SAV, ist Strafverteidiger in Zürich.
Er ist Mitglied des Piketts Strafverteidigung und der Rechtsauskunft Anwaltskollektiv.
Hanspeter Uster, 54, Rechtsanwalt, ist ehemaliger Justiz- und Polizeidirektor des Kantons Zug. Heute ist er als Berater für Polizei- und Justizorgane sowie als Dozent tätig.