Der Winterthurer Anwalt Massimo Aliotta hat eine Dissertation zu den Mitwirkungsrechten bei Begutachtungen gemäss dem Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) verfasst. Die Dissertation mit dem Titel «Begutachtungen im Sozialversicherungsrecht» erschien 2017. Aliotta fordert in seiner Arbeit zusammengefasst Folgendes:
Nach geltendem Recht soll das rechtliche Gehör bereits im Rahmen des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens gewährt werden. Versicherte sollen über ihre Rechte und Pflichten informiert werden, die Möglichkeit zur Rechtsvertretung haben, den Sachverständigen Ergänzungsfragen stellen können und zu versicherungsinternen und -externen Berichten sowie Gutachten in IV- und UVG-Verfahren Stellung nehmen können.
Es soll Transparenz über die Sachverständigen der Versicherer sowie die Vereinbarungen zwischen den Unfallversicherern und den Sachverständigen geschaffen werden.
Die Sozialversicherungsträger sollen dazu verpflichtet werden, vermehrt Gegenvorschläge der Versicherten für die Wahl der Sachverständigen beim Einholen von Gutachten zu berücksichtigen.
Bei der Bestellung von Gutachtern soll häufiger konsensual vorgegangen, sprich: eine Einigung mit den Versicherten über die Person der Experten gesucht werden.
Bei medizinischen Untersuchungen sollen vermehrt Begleitpersonen zugelassen werden, die Begutachtungen auf Ton- und Bildgeräte aufgenommen werden und nach Vorliegen von Gutachten soll eine Frist zur Stellungnahme anberaumt werden, bevor entschieden wird.
Im zukünftigen Recht soll Artikel 42 Satz 2 ATSG ersatzlos gestrichen und der allgemeine Teil des Sozialversicherungsgesetzes durch eine Norm ergänzt werden, die Artikel 177 ZPO entspricht, also die detaillierte Protokollierung und Dokumentation von Begutachtungen vorsieht.
Es soll eine zentrale Zuweisungsstelle für versicherungsexterne Sachverständige eingeführt werden, die paritätisch aus Vertretern der involvierten Parteien zusammengesetzt ist.
Axa: “Forderungen bringen keine Verbesserung”
plädoyer konfrontierte verschiedene Versicherungen sowie die Bundesämter für Sozialversicherungen (BSV) und Gesundheit (BAG) mit Aliottas Forderungen. Von den Privatversicherungen nahm nur die Axa Stellung: «Keine der von Aliotta gestellten Forderungen führt in der Praxis zu einer besseren und rascheren Abklärung.» Die aus Sicht der Axa sinnvollen Änderungen und Anpassungen der geltenden Bestimmungen für die Begutachtung habe man im Rahmen der aktuell laufenden Revision des ATSG eingebracht: «Betreffend Begutachtung wurde namentlich eine Kodifizierung der Verfahrensrechte im Einklang mit den geltenden Vorgaben gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts vorgeschlagen – ergänzt durch eine Bestimmung zur besseren Koordination der Begutachtung unter Sozialversicherern zur Vermeidung von unnötigen Doppelbegutachtungen.»
Bei der Suva heisst es, man halte sich an die gesetzlichen Vorgaben und an die Rechtsprechung des Bundesgerichts: «Damit wird das rechtliche Gehör der Versicherten im Zusammenhang mit medizinischen Begutachtungen hinreichend gewahrt.» Das BSV erklärt, dass momentan die Botschaft zum Gesetzgebungsprojekt «Weiterentwicklung der IV» im Parlament hängig sei. Deshalb wolle man nicht mit «Amtsmeinungen» theoretisch denkbare Gesetzes- oder Praxisänderungen öffentlich qualifizieren.
Kurt Pfändler, Rechtsanwalt in Zürich, meint zu den Reaktionen der Versicherer: «Sie profitieren von der heutigen Situation. Die Versicherer haben kein Interesse daran, die Rechte der Versicherten freiwillig zu stärken.» Das Bundesgericht, auf dessen Rechtsprechung die Suva verweise, greife nur sehr zurückhaltend ein – «und immer seltener zugunsten der Versicherten». Laut Pfändler ist die Praxis heute so, dass im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren – das heisst vor Erlass der Verfügung – die Versicherer viel nach eigenem Gusto machen würden. «Die Parteirechte werden kaum gewahrt, es sei denn, ein Anwalt stellt sich auf die Hinterbeine.» Im UVG-Bereich etwa werde jemandem oft eine bestimmte Gutachterstelle aufgezwungen, eine elektronische Zuweisungsplattform gebe es nicht. Pfändler: «Man kann zwar Vorschläge machen. Diese werden aber häufig nicht akzeptiert.»
Auch der Luzerner Anwalt Christian Haag kritisiert die Position der Versicherungen. Eine Besserung der Qualitätssicherung in der Begutachtung sei dringend nötig. Haag: «Qualitätssicherung kostet – und verkompliziert die Abläufe.» Es sei daher wenig erstaunlich, dass sich Versicherungen dagegen wehren würden, solange sie den Segen des Bundesgerichts und des BSV hätten. «Dies gilt insbesondere für gewinnorientierte, börsenkotierte Versicherungen, die gleichzeitig auch als Haftpflichtversicherungen amten.»
Das rechtliche Gehör wird laut Haag bis heute nur ungenügend gewahrt: «Was in der Begutachtung abläuft, ist und bleibt eine Dunkelkammer.» Im Nachhinein sei nicht überprüfbar, ob das Gutachten korrekt protokolliert und erstellt worden sei. «Es ist nicht einzusehen, wieso hier keine Transparenz geschaffen wird – analog einer Befragung im Zivil- oder Strafverfahren.»
Eine Aufzeichnung der Begutachtung hätte zwei Vorteile: Sie würde eine nachträgliche Überprüfung erlauben und die Gutachter dazu zwingen, sorgfältiger zu arbeiten, da ihre Arbeit im Streitfall überprüfbar wäre. Haag: «Die standardmässige Aufzeichnung einer Begutachtung hätte damit auch Präventivcharakter.» Die Kostenfrage spiele keine Rolle: Günstige Diktiergeräte gebe es für 40 Franken. Haag: «Die Kosten für jahrelange Rechtsstreite über zweifelhafte Gutachten sind ein Vielfaches höher als eine standardmässige Aufzeichnung.»
Es braucht eine zentrale Zuweisungsstelle
«Mono- und bidisziplinäre Gutachter sollten zufällig zugeteilt werden», regt Haag zudem an. So könnten Versicherungen nicht mehr entscheiden, wem sie das Gutachten vergeben würden, und ein finanzieller Anreiz auf künftige Aufträge würde eliminiert werden. «Bedauerlicherweise weigert sich das Bundesgericht bis heute, hier gleich lange Spiesse im Sinne des Bundesgerichtsentscheides 137 V 210 zu schaffen und die nötige Verfahrensfairness sicherzustellen. Nach wie vor hat das Primat des Einigungsversuchs keinen justiziablen Charakter.» IV-Stellen könnten faktisch tun, was sie wollten, und Versicherte könnten sich kaum je wirksam gegen eine ausgewählte Gutachterperson wehren. Für Haag ist klar: «Ein wichtiger Ansatz wäre eine zentrale Zuweisungsstelle mit paritätischer Besetzung. Die heutige Situation ist aus Versichertenoptik desolat und Handlungsbedarf dringend.»