Folgt man den Medien und den Berichten der NGOs, könnte man den Eindruck erhalten, dass der seit fünf Jahren wütende Konflikt in Syrien das Totengeläut der Glaubwürdigkeit des humanitären Völkerrechts anstimmt. Die systematischen Rechtsverletzungen schockieren alle. Man fragt sich, was der Nutzen des humanitären Völkerrechts ist, wenn es offensichtlich so wenig Einfluss auf die Realität hat.
Das humanitäre Völkerrecht schützt in einem bewaffneten Konflikt jene, die nicht oder nicht mehr direkt an Feindseligkeiten teilnehmen, und begrenzt die Gewalt auf das Ausmass, das zur Schwächung des militärischen Potenzials des Gegners notwendig ist. Damit kann es nur ein ungenügendes Minimum an Menschlichkeit in einer Situation bieten, die definitionsgemäss unmenschlich ist: dem Krieg. Es wäre absurd zu erwarten, Recht werde in einer Situation eingehalten, die es gar nicht gäbe, wenn die übrigen Rechtsregeln eingehalten würden.
Verletzungen des humanitären Völkerrechts werden von allen Parteien begangen. Das syrische Regime und der «Islamische Staat» (IS) verdienen ex aequo den Preis für die schlimmsten Rechtsverletzungen, die kurdischen Gruppierungen und die westlichen Kräfte erzielen hintere Plätze in diesem makabren Rennen.
Wie viele Regeln des Völkerrechts wird auch das humanitäre Völkerrecht hauptsächlich selbstbestimmt angewandt. Die Mehrzahl seiner Durchsetzungsmechanismen sind nicht auf nicht-internationale Konflikte anwendbar, weil die Staaten dies nicht wollen.
Humanitäres Völkerrecht verpflichtet alle Staaten
Die Genfer Abkommen von 1949 enthalten einen gemeinsamen Artikel 1, der alle 195 Vertragsstaaten verpflichtet, nicht nur selbst das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, sondern dessen Einhaltung durch andere Staaten auch durchzusetzen. Somit müssen alle Staaten darüber wachen, dass die Konfliktpartien in Syrien das humanitäre Völkerrecht einhalten: Jeder, indem er Druck ausübt auf diejenigen Parteien, die er am meisten beeinflussen kann.
Wenn jeder Staat dies so handhaben würde, könnte die Respektierung des humanitären Völkerrechts sicherlich verbessert werden. Das humanitäre Völkerrecht bestimmt nämlich, dass einige Verletzungen seiner Regeln als Kriegsverbrechen verfolgt werden müssen. So verfügt nach dem Weltrechtsgrundsatz jeder Staat über die Kompetenz und die Pflicht, Personen zu verfolgen, die unter Verdacht stehen, ein Kriegsverbrechen begangen zu haben.
Doch das ist Theorie. Man stelle sich zum Beispiel vor, die schweizerische Bundesstaatsanwaltschaft würde entsprechend schweizerischem Recht (Art. 264m und 264b–264j StGB und Art. 23 Abs. 1 lit. g StPO) plötzlich beginnen, türkische oder russische, vielleicht sogar US-Bürger zum Beispiel während eines Ferienaufenthalts zu verhaften. Dies sollte sie eigentlich tun, wenn diese Personen nicht (mehr) über internationale Immunität verfügen.
Faktisch bleibt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Er wurde geschaffen, um internationale Kriminelle zu verfolgen. Syrien ist aber nicht Vertragsstaat des Römer IStGH-Statuts, genauso wenig wie Russland, die USA, der Iran oder die Türkei. Der IStGH kann nur Personen anklagen, die auf dem Gebiet eines Vertragsstaats handelten oder aus einem solchen stammen – zum Beispiel ausländische Kämpfer des IS. Der Uno-Sicherheitsrat könnte dem IStGH die volle Gerichtsbarkeit für den Syrienkonflikt gewähren – die Schweiz und weitere 60 Staaten haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Russland und China haben aber ihr Veto eingelegt.
Immerhin hat die Uno-Generalversammlung einen Untersuchungsmechanismus geschaffen, der Beweise für Kriegsverbrechen und individuelle Verantwortlichkeiten in Syrien sammelt. Diese werden Staaten zur Verfügung gestellt, die nach dem Weltrechtsgrundsatz vorgehen wollen, oder später einem einmal zuständigen internationalen Gericht. Dies ist sicher keine Ideallösung, schafft aber Fakten, die Politiker nicht so leicht mit einem Deal verschwinden lassen können, und beeindruckt Machthaber und ihre Entourage, die eines Tages auch wieder reisen möchten.
Der Sicherheitsrat könnte den Respekt fürs humanitäre Völkerrecht auch durch verpflichtende Resolutionen und Sanktionen durchsetzen. Er tat dies für Ex-Jugoslawien, nicht aber für Syrien, weil gewisse Uno-Mitglieder sich dagegen sträuben.
Die Uno-Organe zum Schutz der Menschenrechte haben einige Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Syrien verurteilt und eine Untersuchungskommission eingerichtet (der Carla Del Ponte angehört), welche die begangenen Entsetzlichkeiten dokumentiert. Sie hat aber keinen Zugang zu Syrien und kann keine verbindlichen Entscheide treffen – weil die Staaten dies nicht wollten.
Das humanitäre Völkerrecht ist nur auf bewaffnete Konflikte anwendbar. Die Genfer Abkommen unterteilen diese in internationale Konflikte, auf die alle 527 Artikel der vier Konventionen und die 102 Artikel des Zusatzprotokolls I von 1977 anwendbar sind, und in nicht-internationale, auf die bloss der gemeinsame Artikel 3 der Abkommen anwendbar ist. Auf Syrien ist das Zusatzprotokoll II von 1977, das einige weitere Regeln für nicht-internationale Konflikte enthält, nicht anwendbar, da Syrien nicht Vertragsstaat dieses Protokolls ist.
Hingegen gelten laut einer Studie des IKRK zum humanitären Gewohnheitsrecht 136 (wenn nicht sogar 141) der 161 Gewohnheitsrechtsregeln, die es ausfindig gemacht hat, sowohl für internationale als auch für nicht-internationale Konflikte. Diese Regeln sind aber weniger detailliert und umstrittener als die Regeln der Abkommen.
Nicht-internationales humanitäres Völkerrecht
Für die Anwendung der Genfer Abkommen ist es somit wichtig zu bestimmen, ob es sich beim Syrienkonflikt um einen internationalen oder um mehrere nicht-internationale Konflikte handelt. Nur Konflikte zwischen Staaten sind internationale Konflikte. Auf alle anderen Konflikte findet das humanitäre Völkerrecht der nicht-internationalen Konflikte Anwendung, wenn die Kämpfe eine gewisse Intensität erreichen und die involvierten bewaffneten Gruppierungen ein bestimmtes Mass an Organisation aufweisen. Der Kampf zwischen dem syrischen Regime und seinen syrischen Gegnern sowie zwischen den bewaffneten Gruppen untersteht also den Regeln des humanitären Völkerrechts der nicht-internationalen Konflikte.
Ein bewaffneter Konflikt zwischen einem Staat und einer bewaffneten Gruppierung wird zu einem internationalen Konflikt, wenn eine Gruppierung unter der allgemeinen Kontrolle eines fremden Staates steht. Die Finanzierung, die Waffen und die logistische Unterstützung, welche Saudi-Arabien, Katar und die Türkei diversen Gruppierungen bieten, reicht dazu nicht aus, genauso wenig wie die teilweise durch Bodentruppen gewährte Unterstützung der USA für kurdische Gruppierungen. Die Unterstützung Russlands und des Irans für die syrische Regierung führen hingegen in keinem Fall zur Anwendung des humanitären Völkerrechts der internationalen Konflikte, da beide auf der Seite der syrischen Regierung stehen, also nicht gegen einen andern Staat kämpfen.
Und wie verhält es sich mit den Bombardierungen der USA und Frankreichs gegen den IS, die ohne Erlaubnis der syrischen Regierung erfolgten? Hier gehen die Meinungen auseinander. Die traditionelle Rechtsauslegung würde das Recht für internationale Konflikte anwenden, da Terroristen und die Zivilbevölkerung ebenfalls zum Staat gehören. Ein zeitgenössischer Ansatz, den eine aktuelle Dissertation von Djemila Carron vertritt und der auch von den USA und Frankreich übernommen wurde, geht hingegen davon aus, dass es sich um einen nicht-internationalen Konflikt handle, solange die Bombardierungen ausschliesslich gegen bewaffnete Gruppierungen gerichtet seien. Klar ist hingegen: Auf den absichtlich gegen syrische Regierungsziele gerichteten US-Angriff vom 6. April 2017 ist eindeutig das humanitäre Völkerrecht der internationalen bewaffneten Konflikte anwendbar.
Es stellt sich eine weitere Frage aus völkerrechtlicher Sicht: Sind die Mitglieder und die Erdölquellen des «Islamischen Staats» legitime Angriffsziele? An sich verlangt das humanitäre Völkerrecht gezielte und nicht wahllose Angriffe. Aber wer darf angegriffen, also «gezielt getötet» werden? In nicht-internationalen Konflikten sind das Personen, die direkt an Feindseligkeiten teilnehmen. In seinen Bemühungen, diesen massgebenden Begriff der direkten Teilnahme an Feindseligkeiten zu präzisieren, schlägt das IKRK vor, eine «anhaltende Kombattantenfunktion» als Kriterium zur Definition von Mitgliedern von bewaffneten Gruppierungen zu nehmen.
Einigen Staaten, wie zum Beispiel den USA, geht diese Auslegung zu wenig weit. Analog zu den internationalen Konflikten drängen sie darauf, jedes Mitglied der bewaffneten Gruppierung angreifen zu dürfen. Ich bin hingegen wie das IKRK der Ansicht, dass diese beiden Situationen nicht verglichen werden können, da man die Mitglieder des IS nicht so leicht erkennen kann wie die Soldaten einer regulären Armee.
Nach humanitärem Völkerrecht darf ein Mitglied des IS nicht angegriffen werden, weil es etwas getan hat – beispielsweise an den Attentaten von Paris teilnahm oder sich dem IS anschloss –, sondern wegen seiner Funktion. Wer rekrutiert, finanziert oder sich um die Propaganda kümmert, kann bestraft werden, darf aber nicht gezielt getötet werden. Einige Behauptungen von Präsident Hollande wecken Zweifel daran, ob sich Frankreich daran hält: Umso mehr als die Kriterien, nach denen jemand auf die Liste der zulässigen Ziele für Angriffe kommt, unbekannt sind.
Was Objekte als militärische Angriffsziele angeht, so gelten laut Zusatzprotokoll 1 zu den Genfer Abkommen nur solche, «die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standorts, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt».
Die USA schliessen in diese Definition nicht nur jene Mittel mit ein, die zur Kampffähigkeit beitragen, sondern auch diejenigen, welche die Kriegsbemühungen unterstützen. Die Europäer haben sich stets gegen diese Ausweitung ausgesprochen. Es war daher erstaunlich zu sehen, dass Präsident Hollande sich anlässlich einer Pressekonferenz mit Präsident Putin erfreut zeigte, dass Erdölquellen, die den IS finanzierten, angegriffen worden sind. Dadurch wird der Begriff «militärisch» zu sehr ausgeweitet.
Umstrittene Evakuierung von Aleppo
In einem Sonderbericht zu Aleppo schreibt die Untersuchungskommission für Syrien des Uno-Menschenrechtsrats, die nach langen Verhandlungen erreichte Übereinkunft der Konfliktparteien zur Evakuierung der belagerten Stadt stelle ein Kriegsverbrechen der Zwangsumsiedlung der Zivilbevölkerung dar. Dies sei deshalb so, weil sie nicht im Hinblick auf die Sicherheit der Zivilpersonen oder aus zwingenden militärischen Gründen geboten gewesen, sondern aus strategischen Gründen erfolgt sei.
Wenn dem so wäre, hätte das IKRK Beihilfe zu diesem Kriegsverbrechen geleistet, weil es zusammen mit dem syrischen Roten Halbmond den Transport der Evakuierten in von Rebellen kontrollierte Gebiete durchführte.
Das IKRK reagierte entsprechend scharf auf diesen Vorwurf und betonte, die Betroffenen hätten angesichts der Belagerung und Beschiessung von Aleppo gar keine andere Wahl gehabt und nur so habe noch Schlimmeres verhindert werden können.
Hypothetische Ziele kontra menschliches Leiden
Es fragt sich in der Tat, ob angesichts des völkerrechtswidrigen Verhaltens der Konfliktparteien eine Evakuierung im Hinblick auf die Sicherheit der Menschen nicht geboten war. Man könnte auch einwenden, dass die Regierung sogar eine Verpflichtung hatte, der belagerten Zivilbevölkerung einen Zugang zu humanitärer Hilfe zu ermöglichen – entweder indem humanitären Organisationen Zugang gewährt oder indem den Zivilpersonen erlaubt wird, die belagerte Stadt zu verlassen. Ausserdem sieht das humanitäre Völkerrecht geradezu eine Verpflichtung vor, die Evakuierung von Verwundeten und Kranken zu ermöglichen. Natürlich kann man humanitären Aktionen immer vorwerfen, sie stellten eine Art Beihilfe zu verbotenem Handeln dar. Humanitäre Organisationen meinen aber, dass langfristige und notwendigerweise hypothetische Ziele – inklusive der Schutz vor Vertreibungen – den Tod und das Leiden von Menschen nicht rechtfertigen können.
Grundsätzlich gilt: Das humanitäre Völkergewohnheitsrecht schreibt vor, dass Hilfsaktionen rein humanitärer und unparteiischer Art ohne jede nachteilige Unterscheidung durchzuführen sind, wenn die Zivilbevölkerung übermässige Entbehrungen erleidet. Solche Aktionen bedürfen allerdings der Zustimmung des betroffenen Staates, in diesem Fall der syrischen Regierung.
Die vom IKRK anerkannten gewohnheitsrechtlichen Regeln, die Prinzipien der Uno bezüglich der Vertriebenen und eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zu Syrien sind der Ansicht, dass eine solche Zustimmung nicht willkürlich verweigert werden darf. Diese Lesart ist vernünftig, da sonst die Regel normativ nichts zur bestehenden Rechtslage beiträgt – sie hätte keinen «effet utile».
Wann wäre eine Verweigerung des Zutritts willkürlich? Aus meiner Sicht wäre dies der Fall, sobald damit andere internationale Verpflichtungen verletzt werden. Im humanitären Völkerrecht kann man das Verbot des Aushungerns von Zivilpersonen als Mittel der Kriegführung nennen oder die Verpflichtung, Verwundete zu pflegen, sogar wenn sie feindliche Kombattanten sind. Im Bereich der Menschenrechte könnte man das Recht auf Leben, das Recht auf Nahrung oder das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nennen.
Wenn die bedürftige Bevölkerung unter der Kontrolle einer bewaffneten Gruppierung steht, stellt sich die Frage, ob eine humanitäre Organisation mit Zustimmung der Gruppierung, aber ohne Zustimmung der Regierung des Staates Hilfe leisten darf. Das IKRK meint, dies sei nicht zulässig. Das IKRK kann seine Einschätzung aufs Zusatzprotokoll II des Genfer Abkommens stützen, das die Zustimmung der «betroffenen Hohen Vertragspartei» verlangt.
Aus meiner Sicht ist dennoch die Zustimmung der Rebellen ausreichend, wenn die Regierung ihre Zustimmung für humanitäre Hilfeleistungen an ihre Bevölkerung verweigert, die sich in der Gewalt von Rebellen befindet. Denn im gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen steht: «Eine unparteiische humanitäre Organisation wie das IKRK kann den am Konflikt beteiligten Parteien ihre Dienste anbieten.» Die Verwendung des Plurals für die Adressaten zeigt, dass Rebellen auch Adressaten eines solchen Angebots sein können. Wenn sie diesem zustimmen, kann die Organisation ihre Dienste leisten. Syrien hat dem auf seinem Territorium zugestimmt, als es die Abkommen ratifizierte.
Fazit: Der schreckliche bewaffnete Konflikt in Syrien wirft einige interessante juristische Fragen auf, für die das humanitäre Völkerrecht sehr wohl Antworten enthält. Wie in allen Rechtsgebieten sind sie manchmal umstritten.
Es bleibt die grosse Frage, warum die Staaten nicht wirksamere Mechanismen zur Durchsetzung der Regeln akzeptieren, denen sie sich unterworfen haben. Demonstrationen von Tausenden Personen in den Hauptstädten der Welt könnten diese flächendeckende Heuchelei der Regierungen erschweren. An einer derartigen Mobilisierung mangelt es zurzeit noch.
Es ist wichtig, nicht nur die Taten des IS anzuprangern, sondern auch Verletzungen des humanitären Völkerrechts, die von Parteien begangen werden, deren Sache gerecht erscheint. Das humanitäre Völkerrecht muss (über-)leben! Auch in Syrien hat es viele Leben gerettet.