Am 20. Dezember 2011 hat das Bundesgericht die Beschwerde in Stimmrechtssachen zur Unternehmenssteuerreform II abgewiesen (1C_182/ 2011). Das Urteil ist bemerkenswert.
Der Bundesrat hatte in seinem Abstimmungsbüchlein zur Referendumsabstimmung über die Unternehmenssteuerreform II die zu erwartenden Einbussen bei den Steuereinnahmen massiv zu tief angegeben und gewisse Einnahmeausfälle nicht erwähnt. Wie sich herausstellte, liegen die tatsächlichen Steuerausfälle in Milliardenhöhe, während der Bundesrat Beträge im Bereich der Millionen genannt hatte. Die Beschwerdeführerin rügte, dadurch sei die Wahl- und Abstimmungsfreiheit nach Art. 34 Abs. 2 BV verletzt worden, und beantragte, die Abstimmung sei aufzuheben.
Es fällt auf, dass das Bundesgericht den Fall offensichtlich materiell entscheiden wollte - obwohl viele Gründe zur Verfügung gestanden hätten, nicht einzutreten. Dies tut es jedoch nicht, sondern räumt Schritt für Schritt mit zum Teil innovativen Argumenten alle Hindernisse aus dem Weg, die seiner Zuständigkeit hätten im Wege stehen können.
Zunächst lässt sich das Gericht nicht durch das Vorpreschen des Bundesrates abschrecken, der in der Sache selbst noch vor Abschluss des Meinungsaustauschs entschieden hatte. Zudem grenzt es die Zuständigkeiten von Bundesrat und Bundesgericht sorgfältig gegeneinander ab und kann dadurch verhindern, die Vereinigte Bundesversammlung zum Entscheid über einen Kompetenzkonflikt anrufen zu müssen.
Stimmbürger konnten sich keine Meinung bilden
Im vorliegenden Fall waren alle Beschwerdefristen längst abgelaufen, da erst rund drei Jahre nach der Abstimmung öffentlich bekannt geworden war, dass die Angaben des Bundesrates falsch waren. Für diesen Fall sieht das Bundesgesetz über die politischen Rechte kein Verfahren vor. Das Bundesgericht bejaht gestützt auf Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 29 a BV einen Anspruch auf Wiedererwägung oder Revision, der - ausserhalb von Art. 190 BV - unabhängig von der in Frage stehenden gesetzlichen Regelung besteht. In rechtsschöpferischer Konkretisierung schafft das Gericht direkt gestützt auf die Bundesverfassung ein Verfahren, mit dem bei ihm eine Verletzung der Wahl- und Abstimmungsfreiheit auch in solchen Fällen gerügt werden kann.
Dann prüft das Gericht die Rüge der Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV materiell. Auch hier hätte die Möglichkeit bestanden, auf eine inhaltliche Stellungnahme zu verzichten. Es anerkennt zwar, dass das Abstimmungsbüchlein aufgrund von Art. 189 Abs. 4 BV nicht angefochten werden kann. Trotzdem überprüft es den Einfluss der bundesrätlichen Falschinformation auf die Willens- und Entscheidbildung mit der Begründung, die Informationslage im Vorfeld einer Volksabstimmung könne insgesamt zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden.
Zu Recht bestätigt das Gericht, dass Prognosen, die sich erst im Nachhinein als falsch erweisen, die Wahl- und Abstimmungsfreiheit grundsätzlich nicht verletzen. Es folgt dem Bundesrat jedoch nicht, der geltend gemacht hatte, er habe nur unvollständig, aber nicht falsch informiert, und der gar den erschreckenden Einwand vorbrachte, er habe die finanziellen Konsequenzen nicht abschätzen können. Vielmehr stellt das Gericht fest, dass sich die Stimmberechtigten aufgrund der nur bruchstückhaften Informationen keine sachgerechte Meinung bilden konnten.
Argumentativer Absturz in einem einzigen Absatz
Insgesamt gelangt das Bundesgericht mit grossem argumentativem Aufwand im Rahmen höchst differenzierter, zum Teil rechtsschöpferischer Erwägungen zum Schluss, die Wahl- und Abstimmungsfreiheit sei verletzt.
Dann aber stürzt der Entscheid ab: In einem einzigen Absatz mit 13 kurzen Sätzen deutet das Gericht an, weshalb es die Abstimmung trotzdem nicht aufhebt, und skizziert in einem weiteren Absatz, weshalb es auch keine förmliche Feststellung der Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV beschliesst.
In konstanter Praxis hebt das Bundesgericht eine Abstimmung nur auf, wenn die Unregelmässigkeiten erheblich sind und das Ergebnis beeinflusst haben könnten. Im vorliegenden Fall hätte gestützt auf diese Kriterien die Abstimmung wohl aufgehoben werden müssen. Das Gericht prüft diese Kriterien jedoch nicht. Vielmehr erwähnt es flüchtig die einer Aufhebung entgegenstehenden Interessen des Vertrauensschutzes und die Umsetzungsschwierigkeiten, die derart schwerwiegend seien, dass die Beschwerde trotz Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV abzuweisen ist. Diese starke Gewichtung des Vertrauensschutzes und der Umsetzungsprobleme erstaunt und kann nicht als Präjudiz für den weiteren Umgang mit diesen Fragen verstanden werden.
Das Urteil ist jedoch in anderer Hinsicht ein Präjudiz von seltenem Gewicht: Mit seinen Ausführungen zum Verfahren und zur materiellen Beurteilung bundesrechtlicher Abstimmungen macht das Gericht klar, dass es seine neuen Zuständigkeiten in diesem Bereich auch gegen den Bundesrat und ohne Mitwirkung der Bundesversammlung wahrzunehmen bereit ist. Es wollte den Konflikt mit dem Bundesrat aber nicht auf die Spitze treiben. Das mag klug gewesen sein. Denn die grundsätzliche Positionierung des Gerichts hätte durch das Getöse, das im Fall einer Neuansetzung der Abstimmung unvermeidlich gewesen wäre, leicht Schaden genommen. Die neue Zuständigkeit des Bundesgerichts bei bundesrechtlichen Wahlen und Abstimmungen wäre vielleicht schon angegriffen und diskreditiert worden, bevor sich das Gericht in diesen Fragen überhaupt etablieren konnte.