Plötzlich häuften sich vergangenen Sommer Schlagzeilen, in denen vor dem Vormarsch des islamischen Familienrechts in der Schweiz gewarnt wurde. Den Anfang machte die «NZZ am Sonntag» mit der kühnen Voraussage «Heirat beim Imam statt auf dem Standesamt». Prompt läutete der Publizist Frank A. Meyer, der sich als mutiger Mahner in Sachen Islam versteht, heftig die Alarmglocke. Da wollte die «Weltwoche» nicht länger zurückstehen und warb mit dem Titel «Scharia für die Schweiz - Professoren und Richter anerkennen Minderjährigen-Heirat und Vielehe». Es schien, als stünde die Schweiz kurz vor der Einführung der Scharia. Immerhin soll es nicht um drakonische Körperstrafen gehen, die in den meisten muslimischen Staaten der Vergangenheit angehören, sondern bloss um Familienrecht.
Deutschland wendet die Scharia häufiger an
Schweizer Gerichte und Verwaltungsstellen wenden seit Jahren islamisches Recht an. Doch mit einem Sonderrecht für Muslime hat das nichts zu tun. Die Grundlage ist Schweizer Recht: das Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG) von 1987. Was gilt, wenn ausländische Staatsangehörige bei uns heiraten? Wie weit werden im Ausland geschlossene Ehen anerkannt? Oder Scheidungen? Antwort auf solche Fragen gibt das IPRG. Verglichen mit andern europäischen Staaten wird in der Schweiz fremdes Familienrecht - sei es nun islamisch oder nicht - seltener angewandt.
Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich, erklärt, weshalb das so ist: «In Deutschland, Frankreich oder Spanien entscheidet in zahlreichen Familienangelegenheiten die Staatsangehörigkeit darüber, welches Recht zur Anwendung kommt. So findet auf die Scheidung eines Paares libanesischer Staatsangehörigkeit in Deutschland libanesisches Recht Anwendung, wobei es im Libanon für jede religiöse Gemeinschaft ein gesondertes Familienrecht gibt.» Anders sehe es in der Schweiz mit ihrem modernen IPR aus: «Da ist meist der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt massgebend und nicht die Staatsangehörigkeit.»
Interessant ist, dass deutsche Experten wie Mathias Rohe von der Universität Erlangen fordern, das deutsche Gesetz dem Recht typischer Einwanderungsländer wie der Schweiz anzugleichen. «Heute wenden wir in Deutschland jeden Tag die Scharia an», sagt Rohe. Denn das primäre Abstellen auf die Staatsangehörigkeit zwinge die Justiz zur massenhaften Anwendung fremden Rechts.
Eine Ausnahme vom Wohnsitzprinzip gilt in der Schweiz für den Iran. Seit 1934 sorgt das Niederlassungsabkommen mit dem Kaiserreich Persien dafür, dass für iranische Staatsangehörige in der Schweiz - mit Ausnahme der Flüchtlinge - das iranische Personen-, Familien- und Erbrecht gilt. Gekündigt wurde der Vertrag bis heute nicht, weil er umgekehrt auch den Schweizern im Iran garantiert, dass für sie das heimatliche Recht gilt.
Ordre public setzt «Handschuh-Ehen» Grenzen
Das IPRG geht vom Grundsatz der Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen aus, es ist in religiösen Fragen neutral. Der Richter kann nicht sagen, ich will mit islamischem Recht nichts zu schaffen haben. Verweist das IPRG auf fremdes Recht, muss er dieses anwenden, ob es sich um thailändisches, chinesisches oder islamisch geprägtes Familienrecht handelt. Doch gilt das nicht ohne Einschränkung: Die Anwendung darf nicht «zu einem Ergebnis führen, das mit dem schweizerischen Ordre public unvereinbar ist». Der Vorbehalt greift nicht schon bei jedem Abweichen von unserer Rechtsordnung, sondern erst, so das Bundesgericht, wenn «das einheimische Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzt und fundamentale Rechtsgrundsätze missachtet werden».
Im islamischen Rechtsverständnis ist die Ehe ein Vertrag, weshalb Eheschliessungen auch durch Stellvertreter möglich sind. Andrea Büchler befasst sich seit Jahren mit dem islamischen Familienrecht und seiner Anwendung in Westeuropa. Sie hält die Anerkennung dieser - auch Handschuh-Ehe genannten - Form der Eheschliessung nicht für problematisch, solange es nur um eine Vertretung in der Erklärung geht. «Sofern die Vollmachten für den Vertreter vorliegen und beide Eheleute ihren Willen frei gefasst haben, kann ich darin keinen Verstoss gegen den Ordre public sehen. Die persönliche Anwesenheit vor der Trauungsperson ist nicht ein grundlegender Wert unserer Rechtsordnung, sondern eine Frage von Form und Verfahren.»
Zum selben Schluss kam 2006 die Asylrekurskommission (ARK). Der Bundesrat teilt diese Auffassung, wie in der Botschaft zu den Massnahmen gegen Zwangsehen vom 23. Februar 2011 nachzulesen ist. Er erinnert daran, dass «die Missachtung einer Ehe einen schwerwiegenden Eingriff in einen grundrechtlich geschützten Bereich darstellt» und nur aus gewichtigen Gründen zulässig ist.
Doch für SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer und die «Weltwoche» zählen juristische Argumente wenig. Ihnen ist der «unglaubliche» ARK-Entscheid Beweis genug, dass «Scharia-Sitten» Einzug halten. Im konkreten Fall hatte die Anerkennung der Ehe zur Folge, dass einem vorläufig aufgenommen ägyptischen Flüchtling der Nachzug seiner Frau erlaubt wurde. «Häufig liegt die Anerkennung im Interesse der Frau», ist Andrea Büchler überzeugt. Das trifft auch im Fall zu, den das Regionalgericht Bern-Mittelland im Juli dieses Jahres zu beurteilen hatte. Es ging um eine Sudanesin, die als anerkannter Flüchtling in der Schweiz lebte und hier einen deutschen Studenten kennen und lieben lernte. Für die Muslimin stellte das nichteheliche Zusammenleben ein Problem dar. Also konvertierte der Mann zum Islam, man beschloss zu heiraten. Weil die Frau als politischer Flüchtling nicht in den Sudan konnte, entschieden sich die beiden für die Heirat mit Hilfe von Stellvertretern, die dann vor einem sudanesischen Standesbeamten stattfand.
Wenige Jahre später trennte sich das Paar. Nun ging es um die von der Frau geforderten Unterhaltsbeiträge, und plötzlich behauptete der Mann, dass er gar nie eine staatlich anerkannte Ehe geschlossen habe. Er habe nur die Einwilligung zu einer religiösen Verbindung gegeben. Tatsächlich können nach dem Muslim Family Law des Sudans Heiratsangebot und Annahme schriftlich erfolgen, wenn einer der Verlobten abwesend ist oder sich nicht ausdrücken kann. Deshalb sei nach sudanesischem Recht eine wirksame Ehe geschlossen worden, fand das Regionalgericht. Die Heirat verletze auch nicht den Ordre public, da sie auf dem freien Willen der Parteien beruht habe. Pikant ist, dass der Ehemann ausgebildeter Islamwissenschafter ist. Die Bedeutung einer nach islamischem Recht geschlossene Ehe dürfte ihm also bekannt gewesen sein, merkte das Gericht in der Begründung an.
Bundesrat pocht auf Schweizer Heiratsalter
In einigen Ländern des Nahen Ostens beginnt die Ehemündigkeit früher als in der Schweiz. Was bedeutet das für die Anerkennung der Ehe, und wo liegt die vom Ordre public geforderte Limite? Wohl kaum bei den 18 Jahren des ZGB von heute. Schliesslich war bis 1995 auch bei uns in Ausnahmefällen eine frühere Heirat möglich. Mehrere europäische Staaten kennen heute noch tiefere Altersgrenzen. In der Lehre plädiert eine Mehrheit dafür, die Grenze analog zur sexuellen Mündigkeit bei 16 Jahren zu ziehen. Auch Andrea Büchler hält diese Lösung für angebracht, «wobei es immer auf den Einzelfall ankommt».
Zur Bekämpfung von Zwangsehen will der Bundesrat bei Ehen Minderjähriger einen strengeren Massstab anlegen. Abweichend vom Wohnsitzprinzip lässt das IPRG heute zu, dass ausländische Staatsangehörige bei uns nach den Regeln ihres Heimatlandes heiraten. So ist auch eine Trauung Minderjähriger möglich. «Häufig sind jedoch solche Fälle nicht, und meist geht es nur um eine Differenz von wenigen Monaten», ist von Roland Peterhans, Chef des Zivilstandsamtes Zürich, zu erfahren. In keinem Fall getraut würden noch nicht 16-Jährige. Mit einer Gesetzesänderung will der Bundesrat jetzt erreichen, dass bei einer Heirat in der Schweiz allein Schweizer Regeln gelten. Andrea Büchler begrüsst diese konsequente Anpassung an das Wohnsitzprinzip des IPRG. Auch im Ausland geschlossene Ehen Minderjähriger möchte der Bundesrat nicht mehr tolerieren. Doch soll vor einer Ungültigerklärung eine Interessenabwägung vorgenommen werden, wie es der Europarat empfiehlt. Die Anerkennung kann für die Betroffenen wichtig sein, weil sie sonst Unterhaltsansprüche aus der Ehe verlieren. Auch im Falle einer Schwangerschaft, glaubt Büchler, wäre der minderjährigen Braut mitunter gedient, wenn die Ehe Bestand hat.
Polygame Ehen entfalten Rechtswirkungen
«Polygamie ist wohl die meistdiskutierte Institution des islamischen Rechts, und zwar sowohl in den Ländern des Nahen Ostens wie in westlichen Ländern», sagt Andrea Büchler, die an der Universität Zürich das Center for Islamic and Middle Eastern Legal Studies aufgebaut hat.
Der Koran begrenzt die Zahl der erlaubten Ehefrauen auf vier, wobei er die Gleichbehandlung der Frauen vorschreibt. Zahlreiche Länder knüpfen deshalb das Eingehen einer Zweitehe an Voraussetzungen. In Tunesien ist die Polygamie gänzlich verboten, und zwar, wie Büchler betont, mit einer streng islamrechtlichen Argumentation: Der Koran erlaubt die Vielehe, verlangt aber die Gleichbehandlung der Frauen. Doch da ein Koranvers feststellt, dass eine Gleichbehandlung gar nicht möglich ist, sei die Vielehe unislamisch.
In der Schweiz ist die Polygamie eine Straftat. Im Inland eine solche Ehe einzugehen, lassen ZGB und IPRG nicht zu. Wie aber steht es um im Ausland geschlossene Ehen? In den meisten Fällen haben die Schweizer Gerichte die Anerkennung der Vielehe als Verstoss gegen den Ordre public abgelehnt. Doch ist man sich heute in Europa so weit einig, dass im Ausland gültig eingegangene polygame Ehen auch ohne Anerkennung gewisse Rechtswirkungen entfalten können. Das sei, betont Andrea Büchler, «angesichts des Schutzbedürfnisses der Ehefrauen in den Bereichen des Unterhalts, des Erbrechts und des Sozialversicherungsrechts auch richtig und wichtig».
Im Ausländerrecht sind die meisten Staaten restriktiver
Etliche Länder machen von dieser offenen Haltung beim Ausländerrecht eine Ausnahme. So wird in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich und England beim Familiennachzug jeweils nur einer Frau die Einreise ins Aufenthaltsland des Ehemannes erlaubt. «Mit Blick auf das in der EMRK verankerte Recht auf Familienleben und die Rechte des Kindes ist das nicht immer unproblematisch», sagt dazu die Rechtsprofessorin.
Mit dem Schweizer Ordre public nicht vereinbar ist der «Talaq», das Verstossungsrecht des Mannes. «Die Verstossungsscheidung missachtet die Gleichberechtigung und verletzt die Verfahrensrechte der Frau, weil ihre Zustimmung nicht erforderlich ist», hält Büchler fest. «Fand jedoch im Ausland nach den Reformgesetzen der arabisch-islamischen Länder ein Verfahren statt und stimmt die Frau der Scheidung zu, so verstösst die Anerkennung mitunter nicht gegen den Ordre public», ergänzt sie. Deshalb würden Schweizer Gerichte im Einzelfall ein ausländisches Talaq-Scheidungsurteil anerkennen und der Frau so die Mühen eines neuen Scheidungsverfahrens ersparen.
Mühe bekunden Aussenstehende oft mit der islamrechtlichen Brautgabe, der «Mahr». Der eifrige Islamkritiker Frank A. Meyer meint gar, mit dem Brautgeld erwerbe der Mann «das Recht zur sexuellen Nutzung der Frau». Ganz anders umschreibt Büchler den Zweck: «Funktionen der Mahr im Kontext des islamischen Rechts sind die Teilhabe am wirtschaftlichen Status des Ehemannes, eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit während der Ehe, die Absicherung im Falle der Auflösung der Ehe und schliesslich die präventive Wirkung gegen unüberlegte Verstossungsscheidungen.» Die Brautgabe sei eine vertragliche Verpflichtung und verdiene im europäischen Rechtskontext Schutz, argumentiert die Zürcher Professorin. Auch der Islamrechtler Mathias Rohe hält die Brautgabe für eine gute Sache. Anders wäre es, wenn das Geld nicht der Braut anvertraut, sondern dem Brautvater bezahlt würde. Das käme einem Brautkauf gleich.
Im klassischen islamischen Recht galten für die Zuteilung des Sorgerechts je nach Alter und Geschlecht des Kindes strikte Regeln. Inzwischen sind die meisten Länder davon abgekommen und stellen auf das Kindeswohl ab - nicht zuletzt wegen der Kinderrechtskonvention. «So entschärfen sich die Differenzen zwischen dem islamischen und dem westlichen Recht», sagt Büchler und verweist auf die Reformen im Familienrecht in den Staaten des Maghreb, in Ägypten, Jordanien und Syrien.
«Nicht unterschätzen darf man die Frauenbewegungen in diesen Ländern», sagt die Professorin. «Das Familienrecht verändert sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frauen.» Inzwischen können die Frauen in den meisten islamischen Rechtsordnungen ohne Erlaubnis des Mannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Lange gedauert bis zur Gleichberechtigung in der Ehe hat es auch in der Schweiz. Erst 1988 nach dem Ja zum neuen Eherecht wurde der Mann als Oberhaupt der Familie entthront - gegen den Willen von Christoph Blocher und seiner SVP.
Ausgewählte Entscheide
Die Stellvertreterehe nach ägyptischem Recht verstösst nicht gegen den Ordre public, weil im konkreten Fall gültige Vollmachten vorliegen.
Die Stellvertreterehe wird im konkreten Fall nicht anerkannt, weil die von der Stellvertreterin vorgebrachte Vollmacht gefälscht war.
Stellvertreterehe nach sudanesischem Recht (im Haupttext erwähnt). Anerkennung, da gültige Vollmachten vorlagen.
Frage der Ordre-public-Konformität der im schiitischen Islam bekannten Zeitehe. Die Klausel im iranischen Ehevertrag, welche die Ehe nach fünfzig Jahren automatisch beendet, wird als nichtig betrachtet. Trotzdem ist die Eheschliessung an sich nicht Ordre-public-widrig. Sie kann nach dem Grundsatz des favor matrimonii unter Ausschluss der Befristung anerkannt werden.
Einseitige Verstossung der Ehefrau nach libanesischem Recht wird nicht anerkannt, da sie im konkreten Fall gegen den schweizerischen Ordre public verstösst.
Frage der Anerkennung von sogenannten Privatscheidungen. Entscheidend ist stets der Wille der Betroffenen, nicht jedoch die Form der Scheidung.
Scheidung iranischer Staatsangehöriger in der Schweiz. Die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater verstösst gegen den Ordre public, falls keine Prüfung des Kindeswohles vorausgegangen ist (das iranische Recht wurde inzwischen geändert).