Amtliche Verteidigungen bleiben finanziell unattraktiv. Deshalb sind meist nur jüngere, unerfahrene Anwälte daran interessiert. Das kann für Angeschuldigte verheerende Folgen haben - etwa wenn die Höchststrafe droht.
Unter welchen Umständen muss ein Pflichtverteidiger im Strafverfahren ausgewechselt werden, damit ein faires Verfahren noch garantiert ist? An Aktualität gewonnen hat diese Frage durch einen im Frühjahr vor dem Zürcher Geschworenengericht geführten Prozess, in dem eine Mutter für die Tötung ihrer beiden Kinder zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
Strafrechtsanwälte kritisierten unter anderem, die Pflichtverteidigerin, die das Anwaltspatent 2004 erworben hatte, sei keine versierte Strafrechtlerin. Zudem spreche sie zu wenig gut Deutsch, was in einem Geschworenengerichtsprozess, in dem Staatsanwalt und Verteidigerin die Laien auch mit rhetorischen Mitteln zu überzeugen versuchen, von Nachteil sein könnte. Einen Hinweis auf mangelnde Fachkompetenz sahen sie darin, dass sie in der Schlussverhandlung einen rechtlich unmöglichen Antrag gestellt hatte: sieben Jahre Gefängnis, bei einer Probezeit von drei Jahren.Die betroffene Anwältin weist die Kritik zurück. Der falsche Strafantrag habe auf das Urteil nicht den geringsten Einfluss gehabt. Und zu ihren Sprachkenntnissen: Das Plädoyer sei einwandfrei gewesen.
Der Grundsatz einer effektiven Verteidigung ist in Lehre und Rechtsprechung unbestritten: Der Anspruch auf Verteidigung im Strafverfahren, wie er sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Bundesverfassung ergibt, erschöpft sich nicht einfach in der Ernennung eines Pflichtverteidigers. Die Konven tion garantiert nicht theoretische und illusorische Ansprüche, sondern Rechte, die eine praktische, effektive Wirkung haben (Imbrioscia c. Schweiz, Série A, vol. 275). Auch mittellose Angeschuldigte haben daher Anspruch auf eine sachkundige, engagierte und effektive Verteidigung. Ein Gericht verletzt die Rechte der angeschuldigten Person, wenn es toleriert, dass der Verteidiger seine Berufspflichten zum Schaden des Angeschuldigten auf schwerwiegende Weise verletzt (BGE 126 I 194).
Die Fürsorgepflicht des Gerichtes
Niklaus Ruckstuhl, Titularprofessor für Strafprozessrecht in Basel, Advokat in Allschwil und Kantonsrichter im Kanton Baselland, bestätigt den Grundsatz der Qualität einer Pflichtverteidigung: «Die Pflichtverteidigung begründet sich durch die Fürsorgepflicht des Gerichts.» Wenn jemand die nötige Verteidigung nicht gewährleisten könne, müsste das Gericht ihn auswechseln. «Nur habe ich noch nie gesehen, dass das passiert ist», so Ruckstuhl. Auch das Handbuch «Anwaltspraxis zur Strafverteidigung» hält fest: «Solche richterlichen Interventionen wegen Pflichtvernachlässigung sind in der Praxis ausserordentlich selten. Offenkundig scheut man sich seitens der Behörden regelmässig, in das anwaltliche Mandatsverhältnis einzugreifen, zumal ein inaktiver Verteidiger dem Gericht die Arbeit tenden-ziell erleichtert» (Peter Albrecht in: Marcel Alexander Niggli/Philippe Weissenberger [Hrsg.], Strafverteidigung, Handbuch für die Anwaltspraxis VII, N. 2.59).
In der Rechtsprechung finden sich fast nur Fälle, in denen der Verteidiger ausgewechselt wurde, weil er gänzlich untätig geblieben war. Zwar kommt es vor, dass ein Gericht von der «faktischen Untätigkeit» eines Verteidigers ausgeht, etwa, wenn er in seinem Plädoyer überhaupt nicht auf die den Angeklagten möglicherweise entlastenden Umstände eingeht und es unterlässt, konkrete Tatsachen zu nennen, die den beantragten Freispruch rechtfertigen sollen (KassGer ZH vom 28.8.1978 = ZR 77, Nr. 60).
Der Grundsatz der effizienten Verteidigung setzt auch dem Ermessen des Verteidigers, ob er an Zeugeneinvernahmen teilnehmen möchte oder nicht, gewisse Grenzen. Er verletzt seine Pflicht, wenn er an keiner einzigen Einvernahme teilnimmt, obwohl der Angeschuldigte nicht geständig ist und der Sachverhalt eine gewisse Komplexität aufweist (KassGer ZH vom 30.6.2000 = ZR 100, Nr. 5).
Im Übrigen kann eine ungenügende Verteidigung im Rechtsmittelverfahren geheilt werden, wenn die Rechtsmittelinstanz über volle Kognition verfügt, dem Angeklagten kein Nachteil erwächst und es sich nicht um eine besonders schwere Verletzung der Partei rechte handelt. Eine solche schwere Verletzung liegt selbst dann noch nicht vor, wenn die Verteidigung in erster Instanz unvorbereitet und rudimentär zu dem sehr komplexen Sachverhalt plädiert (Kass Ger ZH vom 28.2.2001 = ZR 100, Nr. 43).
Eine besondere fachliche Qualifikation für Mandate von grosser Tragweite kennt die schweizerische Praxis nicht und wird auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht verlangt. So ist die Verteidigung eines Angeklagten, der zu neun Jahren Haft verurteilt wird, laut Bundesgericht selbst dann genügend gewährleistet, wenn sie durch einen Anwaltspraktikanten wahrgenommen wird (BGE 126 I 194).
Alarmzeichen, genauer auf die Verteidigung zu achten
Im Lichte dieser Praxis mag eine Verteidigung, bei der ein rechtlich unmöglicher Strafantrag gestellt wird, zu denken geben. Eine Verletzung des Anspruchs auf ausreichende Verteidigung ist in einem solchen Falle nach der Praxis noch nicht gegeben. «Wenn eine Verteidigerin einen juristisch unmöglichen Strafantrag stellt, dann ist das für das Gericht zwar ein Alarmzeichen, genauer auf die Verteidigung zu achten. Die genügende Verteidigung scheitert aber nicht allein am Strafantrag», sagt Niklaus Ruckstuhl.
Drei Ansätze sind denkbar, um die Qualität der Pflichtvertei digung besser garantieren zu können: Entweder wird die Fürsorgepflicht der Gerichte gestärkt und damit der Ermessensspielraum der Verteidigung eingeschränkt. Oder es wird die Auswechslung eines Pflichtverteidigers durch die angeschuldigte Person erleichtert, wodurch es dieser besser möglich wird, selbst auf Mängel in ihrer Verteidigung zu reagieren. Der dritte Ansatz besteht darin, die Anforderungen an die berufliche Qualifikation der Verteidiger zu erhöhen.
Niklaus Oberholzer, Kantonsrichter im Kanton St.Gallen, hat grosse Vorbehalte gegen eine verschärfte richterliche Kontrolle der amtlichen Verteidigung: «Ich selbst habe grösste Hemmungen, Pflichtverteidiger auszuwechseln», sagt er. «Wer garantiert, dass dies immer zum Wohle des Angeklagten geschieht und nicht, um einen Verteidiger loszuwerden, der dem Gericht missfällt?» Es sei für einen Richter ohnehin schwierig, die Leistung eines Verteidigers zu beurteilen - besonders, wenn er nie selbst Strafverteidiger gewesen sei. Dieser Ansicht ist auch der renommierte Zürcher Strafverteidiger Lorenz Erni: «Der Richter weiss ja nicht, was der Angeschuldigte und der Verteidiger beispielsweise hinsichtlich der einzuschlagenden Strategie miteinander besprochen haben.»
Weniger heikel, wenn auch mit dem Risiko des Missbrauchs verbunden, ist die Möglichkeit, die Auswechselung der Pflichtverteidigung durch die angeschuldigte Person zu erleichtern. «Ich bin der Meinung, diesbezüglich sollte die Praxis grosszügiger sein. Ob der Mandant zu seinem Verteidiger Vertrauen hat, ist nicht objektiv messbar», sagt Erni dazu.
Ruckstuhl geht davon aus, dass mit der neuen eidgenössischen Strafprozessordnung, die in Artikel 134 Absatz 2 das Vertrauensverhältnis zwischen der angeschuldigten Person und Pflichtverteidiger besonders hervorhebt, der Wechsel der Verteidigung erleichtert werden muss. Auch Professor Niklaus Schmid stellt in seinem Kommentar zur eidgenössischen Strafprozessordnung in Aussicht, dass die neue Bestimmung über die heutige Praxis hinausgehen wird. Bisher wurden für einen Verteidigerwechsel «objektive Gründe» verlangt.
Das ist zwar kein Wundermittel. Niklaus Ruckstuhl weist darauf hin, dass es oft vorkomme, dass eine angeschuldigte Person einen guten Verteidiger durch einen schlechten ersetzen wolle. «Aber eine grosszügigere Handhabung ist immer noch besser als die bisherige Gerichtspraxis voller Leerformeln, mit denen nach objektiven Kriterien zu beurteilen versucht wurde, ob noch ein Vertrauensverhältnis besteht.»
Zusätzliche Anforderungen an die Pflichtverteidigung
Zahlreiche Folgefragen wirft hingegen der Ansatz auf, für gewisse, besonders anspruchsvolle Prozesse - etwa für solche, in denen hohe Strafen in Aussicht stehen - zusätzliche Anforderungen an die Pflichtverteidigung zu stellen als bloss das Anwaltspatent. Lorenz Erni würde dies befürworten: «In einem komplizierten Wirtschaftsstraffall oder einem aufsehenerregenden Tötungsdelikt zum Beispiel sollte man nicht einfach denjenigen auswählen, der turnus-gemäss zuoberst auf der Liste der amtlichen Verteidiger steht.» Aber da begebe man sich natürlich ein Stück weit auf Glatteis. Nach welchen Kriterien soll man den Schwierigkeitsgrad des Mandates messen? Das drohende Strafmass oder die Dauer von freiheitsentziehenden Massnahmen sind dafür nur bedingt geeignet. Die Komplexität des Sachverhaltes ist für die Anforderungen an die Verteidigung oft ausschlaggebend, lässt sich aber kaum messen.
Wichtig ist auch die Frage, wer das Pflichtmandat einem Anwalt zuteilt. Dass dies nach eidgenössischer Strafprozessordnung durch die Verfahrensleitung geschehen soll, stiess auf verbreitete Kritik und schafft gemäss Niklaus Oberholzer ein unnötiges Konfliktpotenzial zwischen der Anklage und der angeschuldigten Person.
Den Titel des Fachanwaltes für Strafrecht einzuführen und besonders anspruchsvolle Mandate den Inhabern dieses Titels vorzubehalten, würde laut Niklaus Oberholzer ein grundsätzlicheres Problem nicht lösen: «Pflichtverteidigungen sind unattraktiv. Sie würden es selbst dann bleiben, wenn man die Entschädigungen dafür verdoppeln würde.»