Viele Experten sind überzeugt, dass es ohne den Atomsperrvertrag heute nicht nur drei oder vier weitere Atomwaffenstaaten gäbe, sondern mindestens zwanzig. Diese These lässt sich kaum beweisen, auch wenn die positive Wirkung des Vertrags unbestritten ist. Sicher scheint nur, dass die Erfolgsgeschichte des Vertrags in absehbarer Zeit zu Ende geht. Denn die politische Bindungskraft des Vertrages erodiert, die Überprüfungskonferenz im Mai dieses Jahres in New York hat dies sehr deutlich gemacht.
Der 1970 in Kraft getretene «Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen» (NVV; englisch «Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons», NPT) ist eines der am breitesten abgestützten Abkommen der modernen Völkerrechtsgeschichte. Das Abkommen wurde seit seiner Aushandlung im Jahre 1968 von 189 der 192 Uno-Staaten unterzeichnet und ratifiziert. 184 Staaten verzichteten mit ihrer Ratifikation auf die Entwicklung oder Anschaffung von Atomwaffen (Artikel 2, NVV). Sie taten dies im Tausch gegen das «unveräusserliche Recht», die nukleare Technologie «uneingeschränkt» zur Energiegewinnung sowie für medizinische und andere «zivile Zwecke» nutzen zu können (Artikel 4).
Zur Überwachung der Einhaltung ihrer Verpflichtungen unterwarfen sich die 184 Nichtnuklearstaaten den Sicherungsmassnahmen (safeguards) der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) (Artikel 3). Die Einzelheiten dieser Sicherungsmassnahmen, zum Beispiel Inspektionen von Nukleareinrichtungen, werden in Abkommen zwischen der IAEO und den einzelnen Staaten geregelt.
Die fünf ständigen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates (USA, Sowjetunion / Russland, China, Frankreich und Grossbritannien), die alle bereits vor 1967 zu Atomwaffenmächten geworden waren, verpflichteten sich mit der Ratifikation des NVV zur Abrüstung ihrer Arsenale (Artikel 6).
Damit nimmt der NVV zumindest im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung eine Sonderstellung ein: Unter sämtlichen seit Anfang des 20. Jahrhunderts abgeschlossenen multilateralen oder bilateralen Verträgen ist er der einzige, dessen Mitgliedsstaaten nicht alle denselben Verpflichtungen unterliegen. Wegen dieses völkerrechtlichen Novums wurde die Gültigkeit des NVV ursprünglich auf 25 Jahre begrenzt. Zudem ist der NVV der einzige Rüstungskontrollvertrag, der nicht entweder ein Totalverbot für eine bestimmte Waffenkategorie festlegt (wie etwa die Abkommen zum Verbot von biologischen und chemischen Waffen sowie von Antipersonenminen und Streumunition) oder zumindest konkrete Zahlen und zeitliche Fristen für die Reduzierung von Waffen (wie diverse bilaterale Atomwaffenverträge zwischen den USA und der Sowjetunion / Russland).
Den NVV nicht unterschrieben haben lediglich Israel, Indien und Pakistan, die erst nach 1968 zu Atomwaffenmächten geworden sind. Nordkorea ist im Jahre 2003 aus dem NVV ausgestiegen und verfügt inzwischen mutmasslich über zumindest einige Atomsprengköpfe.
Drei Gründe, warum der Vertrag erodiert
Angesichts dieser Bilanz gilt der NVV gemeinhin als grosser Erfolg. Umso bedrohlicher ist der Erosionsprozess, wie er im Mai in New York offenkundig geworden ist. Im Wesentlichen sind drei, zum Teil miteinander verknüpfte Gründe dafür verantwortlich.
1. Die mangelnde Abrüstungsbereitschaft der fünf offiziellen Atomwaffenmächte: Sie erfüllen nach Meinung einer überwältigenden Mehrheit der anderen 184 Vertragsstaaten ihre Verpflichtung nicht, «in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Massnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle» (Artikel 6).
Die unzureichende Abrüstungsbereitschaft der fünf Staaten ist zentraler Streitpunkt bei den seit 1975 alle fünf Jahre stattfindenden NVV-Überprüfungskonferenzen. 1995 konnten die fünf eine unbegrenzte Verlängerung des NVV nur mit der ausdrücklichen Zusage der nuklearen Abrüstung durchsetzen. Zudem verpflichteten sie sich, Atomwaffen nur gegen solche Nichtnuklearstaaten einzusetzen, die im Bündnis mit einer Atomwaffenmacht einen Nuklearstaat, dessen Truppen oder Verbündete angreifen. Die zwar politisch, aber nicht völkerrechtlich verbindliche Erklärung ist als «negative Sicherheitsgarantie» bekannt. Ähnliche Versprechungen machten die fünf Atommächte bei der Überprüfungskonferenz im Jahre 2000. Weil die Umsetzung der Abrüstungsversprechen ausblieb, kam bei der Überprüfungskonferenz 2005 erstmals kein gemeinsames Abschlussdokument zustande. Damit war die Konferenz gescheitert.
Vor der letzten Überprüfungskonferenz im Mai dieses Jahres bestanden zunächst Hoffnungen, nachdem sich US-Präsident Barack Obama im April 2009 zur Vision einer atomwaffenfreien Welt bekannt und konkrete Schritte seines Landes auf dem Weg zur Verwirklichung dieser Vision angekündigt hatte. Doch die Schritte blieben aus - abgesehen vom Abschluss des Nachfolgeabkommens mit Russland zur Reduzierung der strategischen Atomwaffenarsenale, das den 1991 unterzeichneten Start-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) ablöst. Die Ratifizierung des Nachfolgeabkommens durch die nötige Zweidrittelmehrheit des US-Senats wird aber wegen des Widerstandes der Republikaner in den nächsten Jahren kaum erfolgen.
Zudem verhinderten die USA auf der Überprüfungskonferenz gemeinsam mit den anderen vier Atommächten jede konkrete und verbindliche Formulierung zur nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung im Abschlussdokument. Ein erneutes Scheitern der Konferenz wurde schliesslich nur vermieden, weil die Regierung Obama in letzter Minute und gegen Israels empörten Widerstand ihr Einverständnis gab zu einer von der Uno 2012 zu organisierenden Konferenz über die Schaffung einer atomwaffenfreien Region im Nahen und Mittleren Osten.
US-Interventionen schüren atomare Ambitionen
2. Die von den USA geführten militärischen Interventionen in den zwanzig Jahren seit Ende des Kalten Krieges und die Beseitigung von Regierungen - etwa im Irak und in Afghanistan - haben bei den Hauptstadteliten mancher Länder den Wunsch nach eigenen Atomwaffen genährt. Sie sehen darin die einzig verlässliche Versicherung gegen Angriffe von aussen. Hätte Saddam Hussein tatsächlich über die Atombombe verfügt, hätten die USA und Grossbritannien Irak 2003 nicht angegriffen: Diese Überzeugung ist nicht nur in Teheran, Damaskus und anderen Hauptstädten des Nahen und Mittleren Ostens weit verbreitet.
Die drei westlichen Atomwaffenmächte USA, Grossbritannien und Frankreich und das Militärbündnis Nato sind weiterhin nicht einmal bereit zu völkerrechtlich verbindlichen Nichtangriffsgarantien gegenüber Staaten ohne Atomwaffen, was die Bedrohungswahrnehmungen verstärkt. Dass die US-Regierung unter George Bush Anfang 2002 die Nichtangriffsgarantien gegenüber Nordkorea aufkündigte, die sein Vorgänger Bill Clinton der Regierung in Pjongjang 1994 in einem Abkommen gegeben hatte, ist der entscheidende Grund dafür, dass Nordkorea sein nach 1994 eingestelltes Programm zur Entwicklung von Atomsprengköpfen wieder aufgenommen hat.
3. Die Bestrebungen zum massiven Ausbau der weltweiten Atomkraftwerkskapazitäten erhöhen die Gefahr einer militärischen Nutzung und Verbreitung der Nukleartechnologie (Proliferation) erheblich.
Das politische Tauschgeschäft, das den NVV vor vierzig Jahren möglich machte, gründete auf der Illusion, die Nutzung der nuklearen Technologie für zivile und für militärische Zwecke liesse sich strikt trennen. Doch die beiden Verfahren zur Produktion von atomwaffenfähigem Spaltmaterial und zur Erzeugung von nuklearer Energie - die Anreicherung von Uran und die Wiederaufarbeitung von Plutonium - sind dieselben.
Gefährlicher Export von Atomtechnologie
Bei 44 Nichtkernwaffenstaaten, die bislang bei der IAEO notifiziert haben, dass sie die nukleare Technologie auf ihrem Territorium zur Energieerzeugung oder für andere zivile Zwecke nutzen, ist es nicht immer gelungen, eine strikte Trennung zur militärischen Nutzung zu gewährleisten. In den Siebziger- und Achtzigerjahren verbargen Südafrika und Brasilien ihre damals geheimen Atomwaffenprogramme erfolgreich vor den Inspekteuren der IAEO.
Iran betrieb zwischen 1986 und 2003 unterirdische Anlagen zur Urananreicherung ohne Kenntnis und Kontrollen der IAEO. Der aktuelle Streit um das Atomprogramm Teherans zeigt die grosse Schwierigkeit einer verlässlichen Trennung zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Nukleartechnologie.
Nun sollen in den nächsten zwanzig bis dreissig Jahren weitere sechzig Staaten Atomkraftwerke und damit Zugang zur potenziell militärisch nutzbaren Nukleartechnologie erhalten. Darunter befinden sich fast alle Länder der politisch instabilen Nahostregion.
Federführend betrieben werden diese Pläne von Frankreichs Präsidenten Nikolas Sarkozy im Exportinteresse der französischen Nuklearindustrie. Aber auch die deutsche und US-Nuklearindustrie wollen in das grosse Exportgeschäft mit AKWs einsteigen. Verwirklichen sie die Pläne, werden die Risiken der militärischen Proliferation völlig unbeherrschbar. Der NVV wäre noch Makulatur.
Erfolgreich eindämmen und eines Tages völlig überwinden lässt sich die Gefahr einer weiteren Verbreitung von Atomwaffen, die auch das Risiko eines Einsatzes dieser Massenvernichtungsmittel erheblich erhöht, nur unter folgenden drei Bedingungen:
Erstens muss die im Mai in New York beschlossene Konferenz für eine atomwaffenfreie Zone im Nahen/Mittleren Osten tatsächlich stattfinden, Israel muss notfalls von den USA, Europa und Russland zur Teilnahme gezwungen werden. Denn nirgends ist die Gefahr der Atomwaffenproliferation sowie eines Rüstungswettlaufes mit Massenvernichtungswaffen grösser als in dieser Weltregion. Beides lässt sich nur verhindern, wenn die Atomwaffen Israels endlich auf den Verhandlungstisch kommen. Das wiederum ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass Iran seine mutmasslichen Atomwaffenbestrebungen international überprüfbar einstellt.
Zweitens hat der geplante Ausbau der Atomkraftwerkskapazitäten zu unterbleiben. Auch unabhängig von der Gefahr der militärischen Nutzung sprechen alle Argumente gegen einen Einsatz der nuklearen Technologie zum Zwecke der Energiegewinnung, so unter anderem die finanziellen Kosten, die Sicherheitsrisiken und das ungelöste Entsorgungsproblem. Und ausnahmslos alle sechzig Staaten, die zurzeit als potenzielle Neukunden von westlichen Nuklearkonzernen im Gespräch sind, könnten ihren Energiebedarf mit erneuerbaren Ressourcen wie Sonne, Wind, Wasser oder Biomasse abdecken.
Völlige Abschaffung von Atomwaffen
Um diese Einsicht zu fördern, müssen die nukleare Technologie und das «unveräusserliche Recht» auf ihre «uneingeschränkte» Nutzung den hohen politischen Stellenwert und Status verlieren, den sie durch den NVV erhalten haben. Das wird nur gelingen, wenn drittens der ungleiche Tauschhandel von 1970 ersetzt wird durch eine für alle Staaten gleichermassen verbindliche Konvention zum Verbot und zur völligen Abschaffung von Atomwaffen. Den Entwurf für eine solche Konvention, die 2020 in Kraft treten könnte, haben Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt bei der NVV-Überprüfungskonferenz im Mai bereits vorgelegt.