Wenn FDP-Nationalrätin Christa Markwalder den ersten Vertreter der EU in der Schweiz, Botschafter Michael Reiterer, «einen Glücksfall für die Schweiz» nennt, erstaunt dies wenig. Schliesslich setzt sie sich als Präsidentin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) für den Schweizer EU-Beitritt ein. Doch auch der grüne Nationalrat und Aussenpolitiker Geri Müller spricht von Reiterer als einem «Glücksfall für die EU und die Schweiz» und streicht seinen Humor hervor. Sogar EU-Gegner Hans Fehr, SVP-Nationalrat und Geschäftsführer der Aktion für eine unabhängige Schweiz (Auns), gerät ins Schwärmen: «Ein unkomplizierter, charmanter Mann mit Tiroler Humor.» Reiterer sei aber ein knallharter EU-Funktionär, der genau bis an die Grenze der Einmischung gehe und seine Sache schlau verkaufe: «Ein Fuchs im Schafspelz.» Und dann lacht er: «Für uns wäre es einfacher, wenn der Vertreter der EU in der Schweiz ein Tollpatsch wäre.»
Tatsächlich sitzt da ein charmanter 55-jähriger Mann, der mit seinem grauen Vollbart und der neckischen violetten Krawatte nicht wie ein Bilderbuch-Diplomat aussieht und auch mal weniger diplomatische Bemerkungen macht – so, wenn er findet, die Schweiz jammere auf hohem Niveau: «Andere Staats- und Regierungschefs würden angesichts einer Arbeitslosigkeit von vier oder fünf Prozent von Vollbeschäftigung sprechen.» Oder wenn er sagt, die Schweiz könne keine Sonderlösungen von der EU fordern: «Die Schweiz kann gerne Mitglied der EU werden, aber beides – mitreden und nicht Mitglied sein – das gibt es nicht.» Sein Tonfall ist bestimmt. Dank Österreicher Akzent klingt es irgendwie doch nett.
Und wie Fehr gesagt hat: Egal, welche Frage gestellt wird, Reiterer schafft es geschickt, das Gespräch wieder in Richtung EU zu lenken und darauf, wie gut doch die Schweiz da rein passen würde. Zum Beispiel, weil sie mit den 26 Kantonen der EU mit 27 Mitgliedsländern ähnlich sei.
Viele Aussagen Reiterers bei seinem souveränen Auftritt in der TV-Sendung Giaccobo/Müller hat man schon gehört. Etwa, wenn der Jurist, der in Innsbruck studiert hat, erklärt, die Bürger-Initiative in der EU sei wie eine Schweizer Volksinitiative: Die eine Million Unterschriften auf 470 Millionen EU-Bürgern sei dabei vergleichbar mit 100000 auf rund 8 Millionen in der Schweiz. «Da könnte sich die Schweiz sehr gut einbringen mit ihren Erfahrungen. Die Schweiz müsste eigentlich das Land sein, das die EU am besten versteht.» Auch wenn er darauf hinweist, dass auch 400000 in der EU lebende Schweizer von der Personenfreizügigkeit profitieren und dies im Vergleich zur einen Million EU-Bürger in der Schweiz viel ist, hat man diese Textbausteine von ihm bereits früher gehört oder gelesen.
Der Vater einer erwachsenen Tochter, die dank EU-Bürgerschaft in England studieren kann, hat als erster EU-Botschafter in der Schweiz im Jahr 2007 seinen Wunschposten erhalten: «Es hat mich gereizt, etwas Neues aufzubauen. Es gibt bereits 130 solcher Büros, da wird es nicht mehr oft die Chance geben, ein neues zu eröffnen.» Dieses liegt nun in unmittelbarer Nähe des Bundeshauses, vis-à-vis des eidgenössischen Finanzdepartements. Für Reiterer ideal: «Wenn ich zum Mittag hinausgehe, sehe ich vielleicht den Herrn Merz, und wenn Session ist, treffe ich auf dem Bundesplatz Parlamentarier, die ich fast alle kenne.» Dies ist etwas, das Urs Bucher, der Chef des Integrationsbüros, lobt: «Ich wünschte mir, alle schweizerischen Diplomaten wären im Ausland und in Bern gleich gut vernetzt wie Michael Reiterer in der Schweiz und in Brüssel.»
Auch der «Tiroler Humor» kommt bald zum Vorschein. Etwa, wenn er erzählt, dass früher das eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (Eda) in diesem Gebäude war: «Dann wurde es dem Eda zu klein, und was für die Schweiz zu klein ist, ist für die bescheidene EU gerade gut genug.»
Nach seiner Aufgabe befragt legt Reiterer seine Statistik für das Jahr 2009 vor: «Ich habe 52 Vorträge gehalten, an 150 Veranstaltungen teilgenommen und 40 Interviews gegeben.» Auch an Schulen weibelt er für die EU. So wird er am gleichen Tag zum Mittagessen die Leitung des Berner Gymnasiums Kirchenfeld treffen und die Organisation des Europatages am 10. Mai besprechen: «In jener Woche werde ich zusammen mit den Botschaftern der EU-Länder an Schulen über die EU informieren.»
Doch er erkläre nicht nur, wie die EU funktioniere, sondern wolle auch herausfinden, wo die Schweizer der Schuh drücke: «Ich will in den Berichten nach Brüssel nicht nur das schreiben, was sowieso in der Zeitung steht.» Und das führe dazu, dass sich bei ihm die Termine an normalen Tagen im Zweistunden-Rhythmus folgen. «So wird mir nie fad», sagt der EU-Österreicher.
Menschen treffen, neue Kulturen kennen lernen, das gefällt ihm an seinem Job: Als Österreicher Diplomat war er drei Jahre an der Elfenbeinküste und vier Jahre in Japan. Später war er weitere vier Jahre für die EU in Japan. «Und auch in der Schweiz bin ich nun – nach meinem Studium und meiner Zeit als Österreicher Diplomat – zusammengezählt das siebte Jahr. So lerne ich eine Kultur viel besser kennen als ein Tourist.» Doch er gibt zu, dass er nicht immer Lust hat auf diese Repräsentationspflichten – «man wird mit diesem Zweistunden-Rhythmus schnell Gefangener seines Kalenders». Auch die Umzüge und das Zurücklassen von Freunden seien nicht immer einfach. «Und alle paar Jahre muss ich einen neuen Zahnarzt suchen – und einen neuen Frisör.» Er greift sich lachend an seinen Vollbart. Seinen nächsten Coiffeur wird er wohl in Brüssel suchen: Er rechnet damit, dass er als Nächstes zurück in die Zentrale versetzt wird.
Trotz seines Programms habe er einen oder zwei freie Abende pro Woche, sagt Reiterer. Dann lese er viel. «Mein Haupthobby ist aber, dass ich in Innsbruck Universitätsdozent für internationale Politik bin.» Dazu Artikel zu verfassen, das sei für ihn Freizeit. Daneben geniesst er das Berner Oberland, fährt Ski, wandert.
Doch nun eilt er davon, ans Mittagessen mit der Gymnasiumsleitung. Danach folgen im Zweistunden-Rhythmus: ein Treffen mit dem Versicherungsverband, eines mit Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und ein Abendessen mit seinen Mitarbeitenden.