Arbeitsrecht
Rassismus bei Bewerbung geahndet
Ein Arbeitgeber, der auf die Bewerbung einer Schweizerin ausländischer Abstammung rassistisch reagierte, muss eine Genugtuung bezahlen. Er hat Sorgfalts- und Rücksichtspflichten verletzt.
Sachverhalt:
Die Reinigungsfirma A GmbH meldete im Juli 2004 dem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) eine offene Teilzeit-Reinigungsstelle, für die sie eine gelernte oder angelernte Arbeitskraft suchte. Aus Teamgründen wünsche sie Schweizer, Italiener, Spanier und Portugiesen mit Muttersprache Deutsch, Italienisch oder Spanisch. Gute Deutschkenntnisse in Sprache und Schrift waren weitere Voraussetzungen für die Stelle. Ausserdem war die Stellenausschreibung gegenüber dem RAV mit dem Vermerk versehen worden, die A GmbH wolle wegen ihrer Kundschaft und des Firmenprofils keine «Leute aus dem Balkan».
Die Sachbearbeiterin E des RAV ersuchte Z, eine Schweizerin mazedonischer Abstammung, sich für die ausgeschriebene Stelle zu bewerben. Z bewarb sich daraufhin mit Schreiben vom 30. August 2004 bei der A GmbH. Zudem meldete E der A GmbH, Z werde sich bei ihr bewerben. Die A GmbH antwortete darauf am 31. August 2004 mit einer E-Mail an E mit Namen und Adresse von Z im Betreff. Darin schrieb die A GmbH:
«Wir stellen keine Leute aus dem Balkan ein und meine Firma verträgt solche Leute nicht, wie wir in der ganzen Schweiz auch nicht. Kopftücher, Moslems etc. gehören nicht hierher! Wir sind Eidgenossen und keine Auffangstation für die ganze Welt. Bin stinkesauer, dass Sie nicht lesen können, dass wir keine Kopftücher einstellen!»
Aus den Erwägungen:
5.1 Art. 328 OR. Im Arbeitsrecht wird der allgemeine Persönlichkeitsschutz der Art. 27 und 28 ZGB durch Art. 328 Abs. 1 OR konkretisiert, wonach der Arbeitgeber die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen hat. Über die Frage, ob die Fürsorgepflicht gemäss Art. 328 OR bereits während der Vertragsverhandlungen wirkt, besteht in der Lehre Uneinigkeit.
Fest steht, dass ein unredliches Verhalten des Arbeitgebers vor Vertragsabschluss, das vorvertragliche Sorgfalts- oder Rücksichtspflichten verletzt, gestützt auf die Rechtsfigur culpa in contrahendo zu einer Entschädigungspflicht führen kann (U. Streiff/A. von Kaenel, Arbeitsvertrag, 6.A., N 14 zu Art. 320 OR; vgl. hernach Ziff. 5.2)
5.2 Culpa in contrahendo
a) Die Haftung aus culpa in contrahendo besagt, dass sich die Parteien bereits während der Vertragsverhandlungen nach Treu und Glauben zu verhalten haben (Art. 2 Abs. 1 ZGB), andernfalls, das heisst wenn sie schuldhaft gegen eine aus diesem Grundsatz resultierende vorvertragliche Pflicht verstossen, sie für den daraus erwachsenden Schaden einzustehen haben (Hueguenin, Obligationenrecht AT, Zürich 2004, N 921). So kann es bereits vor Vertragsabschluss zu rechtlich relevanten Beziehungen zwischen einem Arbeitgeber und potenziellen Arbeitnehmern kommen, weshalb der Eintritt in die Vertragsverhandlungen unter den Beteiligten erhöhte Sorgfalts- und Rücksichtspflichten begründet ( F. Vischer, Der Arbeitsvertrag im Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht, BT VII/4, Basel 2005, S. 68). Ein Stelleninserat oder eine Offerte an eine Personalvermittlungsfirma stelle eine Aufforderung zur Aufnahme von Vertragsverhandlungen dar, weshalb die Vertragsverhandlungen mit der Bewerbung des stellensuchenden Arbeitnehmers beginnen.
c) Die Beklagte meldete dem RAV eine offene Stelle zum Ausschreiben, womit sie über das RAV arbeitslose Stellensuchende zur Aufnahme von Vertragsverhandlungen aufforderte. Die Klägerin ihrerseits durfte davon ausgehen, die Beklagte wolle
die offene Stelle besetzen, suche ernsthaft jemanden dafür und habe entsprechend einen Rechtsbindungswillen. Daher trat die Klägerin bereits mit der Anzeige E an die Beklagte, sie wolle und werde sich bei ihr um die ausgeschriebene Stelle bewerben, in die Vertragsverhandlungen ein. Dabei handelte E, die Sachbearbeiterin des RAV, im Namen und als Stellvertreterin der Klägerin.
e) Das Vorgehen der Beklagten, eine freie Stelle auszuschreiben, dem RAV zu melden, aber gewisse Ethnien, Nationen oder Volksstämme nicht vermittelt haben zu wollen, verstösst gegen die von der Schweiz ratifizierte Rassendiskriminierungskonvention (RDK, SR 0.104), weshalb sie widerrechtlich und somit nichtig ist (vgl. dazu unten Ziff. 5.6).
Gestützt auf die RDK und aufgrund eines Hinweises der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), dass es in einzelnen Kantonen Schwierigkeiten im AVIG-Vollzug bei den Arbeitgeberkontakten gebe, wies das seco in einem Rundschreiben vom 26. Januar 2005 alle kantonalen Arbeitsämter darauf hin, dass der von Arbeitgebern oftmals geäusserte Wunsch, dass Angehörige einer bestimmten Nation, Ethnie, Religionsgruppe oder Rasse von bestimmten gemeldeten offenen Stellen ausgeschlossen seien, mit der RDK nicht vereinbar und ein entsprechender Eintrag im Informationssystem AVAM nicht zulässig sei.
Daher ist analog wie bei der Teilnichtigkeit von Verträgen (Art. 20 Abs. 2 OR), bei welcher der Mangel bloss einzelne Teile eines Vertrages betrifft, zu prüfen, ob die Beklagte dem RAV die Stelle ohne die nichtige Einschränkung überhaupt nicht gemeldet hätte, was seitens der Beklagten nicht geltend gemacht wird. Demzufolge galt die Aufforderung der Beklagten zu Vertragsverhandlungen für alle arbeitslosen Stellensuchenden und es traf sie daher bei sämtlichen Bewerbern eine erhöhte Sorgfaltspflicht, im Rahmen der Vertragsverhandlungen die Persönlichkeitsgüter nicht zu verletzen.
Zur Beurteilung, ob sich die Parteien bereits in Vertragsverhandlungen mit einer erhöhten Sorgfaltspflicht befanden, spielte weder eine Rolle, ob die Beklagte das Bewerbungsschreiben der Klägerin direkt oder über
E vom RAV erhalten hatte, noch, ob die Klägerin dem Firmenprofil der Beklagten entsprochen hätte oder genügend gut Deutsch sprechen kann. Fest steht, dass die Beklagte im Rahmen der Vertragsverhandlungen auf das Bewerbungsinteresse der Klägerin reagierte und mittels E-Mail vom 31. August 2004 gegenüber E und weiteren fünf Sachbearbeiterinnen vom RAV klar zum Ausdruck brachte, sie sei an der Bewerbung der Klägerin nicht interessiert.
f) Obwohl zwischen den Parteien nie ein persönlicher Kontakt stattfand, standen sie über das RAV miteinander in Vertragsverhandlungen, während derer sie aufgrund der culpa in contrahendo verpflichtet waren, alle Schutzmassnahmen zu treffen, damit im Verlauf der Verhandlungen keine Rechtsgüter des Partners beeinträchtigt würden (Gauch/Schluep/Schmid/Rey, Obligationenrecht AT Bd. I, 8. A., Zürich Basel Genf 2003, N 961). Diesen Schutz geniesst auch eine Vertragspartei, die den Anforderungen der Gegenseite nicht entspricht.
5.4 Rechtfertigungsgründe
b) Die Ausführungen der Beklagten in der E-Mail vom 31. August 2004 beziehen sich nur am Rande auf ihre betrieblichen oder teambedingten Bedürfnisse und soweit dies zutrifft, fallen sie in einer äusserst unsachlichen und herabsetzenden Art und Weise aus. Daher kann die Beklagte ihr Verhalten gegenüber der Klägerin keineswegs mit übergeordneten betrieblichen Interessen rechtfertigen. Zudem würde die Befürchtung alleine, einen Kundenverlust hinnehmen zu müssen, nicht genügen, um eine Anstellung aus Gründen der Religion oder Ethnie des Stellensuchenden zu verweigern, es sei denn, der Arbeitgeber könnte einen erheblichen Kundenverlust nachweisen, womit sachbezogene Gründe für die Nichtanstellung vorliegen würden.
5.5 Vertragsfreiheit
a) Ausserdem beruft sich die Beklagte sinngemäss auf die Vertragsfreiheit, indem sie geltend macht, selber bestimmen zu können, wen sie einstelle und wen nicht.
b) Auch hier gilt, dass die Beklagte ihr Verhalten und ihre Äusserungen gegenüber der Klägerin nicht einfach gestützt auf die Vertragsfreiheit rechtfertigen kann. Die Vertragsfreiheit ist ein Grundprinzip unseres Zivilrechts (Art. 19 Abs. 1 OR) und besagt, dass grundsätzlich niemand verpflichtet werden kann, mit jemandem einen Vertrag einzugehen, weshalb ein Arbeitgeber grundsätzlich die Anstellung von Personen einer bestimmten Rasse ablehnen könnte. Allerdings anerkennt unsere Rechtsordnung, dass diskriminierendes Verhalten bei der Anstellung sanktioniert werden kann (vgl. Art. 5 Abs. 2 G1G) und relativiert damit die Vertragsfreiheit. Gemäss Lehre und Rechtsprechung ist beispielsweise anerkannt, dass bestimmte Fragen an einen zukünftigen Arbeitnehmer persönlichkeitsschädigend sein können und somit nicht gestellt werden dürfen (BK-Rehbinder, N 35 ff. zu Art. 320 OR; Streiff/von Kaenel, a. a. O., N 10 zu Art 320 OR; Brunner/Bühler/ Wäber/Bruchez, Commentaire du contract de travail, 3. A., Lausanne, 2004, N 1 zu Art. 328 OR, N 1 zu Art. 320 OR).
Daraus folgt, dass bestimmte diskriminierende vorvertragliche Verhaltensweisen bei der Anstellung nicht durch die Vertragsfreiheit gerechtfertigt werden können und ausserdem Anlass für eine Genugtuung geben können.
5.6 Rechtliche Qualifikation der Äusserungen der Beklagten
a) Im Folgenden ist das Verhalten der Beklagten einerseits unter dem Titel widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung durch rassistische, diskriminierende Äusserungen in der E-Mail vom 31. August 2004 und andererseits unter dem Aspekt der (Rassen-)Diskriminierung durch den Ausschluss der Klägerin am weiteren Bewerbungsprozess aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Religionszugehörigkeit zu würdigen.
b) Die Schweiz hat bisher kein Antidiskriminierungsgesetz erlassen, was von den Überwachungsorganen der internationalen Menschenrechtsverträgen regelmässig beklagt wird. Daher können Opfer von Diskriminierungen aufgrund der Herkunft, Hautfarbe, ethnischen Zuge-hörigkeit und religiöser Überzeugung ihren Anspruch auf Gleichbehandlung insbesondere unter Privaten nur nach Überwindung hoher rechtlicher Hürden einfordern (Caplazi/Naguib, Schutz vor ethnisch-kultureller Diskriminierung in der Arbeitswelt trotz Vertragsfreiheit, in Jusletter, 7. Februar 2004, Rz 9).
c) Rassistische Äusserungen muss sich eine stellensuchende Person nicht gefallen lassen. Das gilt noch mehr während des Selektionsverfahrens, bei welchem aufgrund der culpa in contrahendo eine erhöhte Sorgfalts- und Rücksichtspflicht gilt (Pahud de Mortanges/Tanner, Muslime und schweizerische Rechtsordnung, Freiburg 2002, S. 435). Bei einer Verletzung der Persönlichkeit durch rassistische Äusserungen hat die Betroffene die Möglichkeit, die begangene Persönlichkeitsverletzung gerichtlich feststellen und beseitigen zu lassen sowie finanzielle Genugtuung und gegebenenfalls Schadenersatz einzufordern (Art. 28a Abs. l und 3 ZGB i.V.m. Art. 49 OR; Pahud de Mortanges/ Tanner, a. a. O., S. 435 ff.).
Die Klägerin fordert von der Beklagten für die geltend gemachte Persönlichkeitsverletzung unter anderem eine Genugtuung.
Da nur jene Persönlichkeitsverletzungen, welche als objektiv schwer zu qualifizieren sind und gleichzeitig von der Betroffenen auch als seelischer Schmerz empfunden werden, eine immaterielle Unbill hervorzurufen vermögen, ist zu fragen, ob die Äusserungen der Beklagten in der
E-Mail vom 31. August 2004 als derart gravierend zu qualifizieren sind, um bei der Klägerin eine solche hervorzurufen. Bei der Beurteilung der erfahrenen seelischen Unbill hat der Richter auf einen Durchschnittsmassstab abzustellen, da nicht jeder Mensch in gleicher Weise auf eine Verletzung seiner psychischen Befindlichkeit reagiert (BK-Brehm, N 21 f. und N 30 zu Art. 49 OR).
e) Vorab ist kurz auf den Begriff des Rassismus einzugehen. Rassismus ist eine Ideologie, die Menschen aufgrund realer oder fiktiver Merkmale körperlicher oder kultureller Art auf ihre ethnische, nationale oder religiöse Zugehörigkeit reduziert und «die Anderen» als moralisch und intellektuell minderwertig erachtet. Die Einteilung der Menschheit in Gruppen oder eben «Rassen» ist eine soziale Konstruktion, die aufgrund gesellschaftlicher Einteilungs- und Ausgrenzungskriterien entstanden ist. So wird eine Gruppe von Menschen anhand kultureller (z. B. Sprache, Religion, Herkunft) oder physischer (z. B. Hautfarbe) Eigenschaften, ob tatsächlich vorhanden oder fiktiv, von der Gesellschaft als unterschiedlich eingestuft und in bestimmter Weise bewertet. Diese Werturteile werden verallgemeinert, verabsolutiert und stigmatisiert, und zur Rechtfertigung für Diskriminierungsmassnahmen herbeigezogen (vgl. Definitionen der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus unter http://www.edi. admin.ch/ekr).
f) aa) Die Klägerin sah sich im Rahmen ihrer Bewerbung um die Stelle bei der Beklagten mit Äusserungen, wie die Schweizer würden Leute aus dem Balkan nicht ertragen, Kopftücher, Moslems etc. würden nicht in die Schweiz gehören, in der Schweiz habe es nur Platz für Eidgenossen, die Schweiz sei keine Auffangstation für die ganze Welt und die Beklagte würde nicht das zugelaufene Volk finanzieren, konfrontiert.
bb) Der Verfasser der E-Mail der Beklagten bediente sich sämtlicher Kriterien und Merkmale, die definitionsgemäss als rassistisch gelten. Zunächst teilt er die Menschen in Ethnien beziehungsweise Rassen - die Begriffe überschneiden sich sprachlich, wobei kulturelle und historische Komponenten eine wichtige Rolle spielen - ein, indem von den «Leuten aus dem Balkan» gesprochen wird, welche hier nicht erwünscht seien.
Dabei ist auffallend, dass der Begriff «Balkan» seit langem negativ besetzt ist und heute als politisch unkorrekt durch «Südosteuropa» ersetzt wird. Während «Balkan» im ursprünglichen Sinn eine geografische Bezeichnung für die zwischen dem adriatischen und dem Schwarzen Meer gelegene Halbinsel ist, mutierte der Begriff immer mehr als Bezeichnung für die Länder und Völker, die im österreichisch-russisch-türkischen Spannungsfeld als Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie und des zerfallenen osmanischen Reiches auftraten und dauernd in Bürgerkriege, ethnische und andere Konflikte verwickelt waren («Pulverfass Balkan»; vgl. www.ilexikon.com/Balkan.html).
Der Begriff «Leute aus dem Balkan» impliziert schon aus dem historischen Zusammenhang eine Herabsetzung, nämlich das Unterstellen einer unfriedlichen, streitsüchtigen Haltung, herrührend aus zahlreichen Unruheherden und Konflikten in der Balkangegend.
cc) Die Geringschätzung wird dazu noch auf die Religion ausgedehnt, womit die Beklagte an ein weiteres verpöntes Unterscheidungsmerkmal anknüpft. Besonders herabwürdigend sind die Bemerkungen, «Kopftücher» würden nicht hierher gehören und die Beklagte würde keine «Kopftücher» anstellen. Das Kopftuch steht hier als Ausdruck einer islamischen Kleidungssitte bei Frauen, die bekanntlich schon mehrfach Anlass zu Auseinandersetzungen gegeben hat. Deshalb erlangte das islamische Kopftuch eine übertriebene symbolische Bedeutung für die islamische Religion und spezifisch für eine ihr vorgeworfene Intoleranz. Dabei können die Gründe, welche eine muslimische Frau dazu bewegen, das Kopftuch zu tragen, durchaus vielfältig sein. Die symbolhafte Personifizierung des islamischen Kopftuchs («Wir stellen keine Kopftücher ein») bewirkt, dass die islamische Religion nicht nur herabgesetzt, sondern auch lächerlich gemacht wird. Dieses Lächerlichmachen und die Mischung von Verabscheuung und Hohn, die der Verfasser gegenüber den Menschen, welche sich zur islamischen Religion zugehörig fühlen, zum Ausdruck bringt, ist in hohem Masse entwürdigend und abschätzig.
dd) Die Äusserungen in der E-Mail, mit welcher die Beklagte auf das Interesse der Klägerin an ihrer Reinigungsstelle reagierte, kommen nicht nur einer generellen Verunglimpfung aller Menschen, die ihre Wurzeln in Südosteuropa haben und muslimischen Glaubens sind, gleich, sondern verletzen insbesondere die Menschenwürde der Klägerin, indem die Beklagte ihr aufgrund der Herkunft, Ethnie und Religion abspricht, ein ehrbarer Mensch zu sein. Sie gibt der Klägerin, welche Schweizer Bürgerin mazedonischer Abstammung ist und seit 15 Jahren in der Schweiz lebt, klar zu verstehen, sie sei hier nicht erwünscht und gehöre zu einer minderwertigen Bevölkerungsgruppe, zum «zugelaufenen Volk». Sodann unterstellt sie der Klägerin sinngemäss, eine Schmarotzerin zu sein, für welche die Schweiz «keine Auffangstation» sei und die sie nicht finanzieren wolle. Für die Klägerin, die einen bedeutenden Teil ihres Lebens in der Schweiz verbrachte und zuvor mindestens während rund acht Jahren als Teilzeitangestellte tätig gewesen ist, bedeuten diese beleidigenden Vorwürfe eine schwere Verletzung ihrer Persönlichkeit.
g) Der Name als wesentliches Identifizierungs- und Individualisierungsmerkmal eines Menschen gehört ebenfalls zu den geschützten Persönlichkeitsgütern (BAK-Meili, N 18 zu Art. 28 ZGB). Die Beklagte sah sich allein wegen des Namens der Klägerin zu ihren rassistischen Äusserungen veranlasst. Diese pauschale, auf blossen Vorurteilen gründende Herabwürdigung alleine wegen des Namens der Klägerin, der auf eine bestimmte ausländische Herkunft schliessen lässt, verstärkt das Mass der Persönlichkeitsverletzung.
h) aa) Die Herabsetzung der Angehörigen eines bestimmten Glaubens stellt einen ungerechtfertigten Eingriff in die Persönlichkeit dar (Pahud de Mortanges/Tanner, a. a. O., S. 439). Es ist unzulässig, Bewerberinnen mit islamischem Kopftuch systematisch die Anstellung zu verweigern.
i) Daraus folgt, dass die Klägerin von der Beklagten in verschiedener Weise in ihrer Persönlichkeit schwer verletzt worden ist, wegen ihrer Herkunft, ihrer Ethnie, ihres Namens sowie ihrer Religion. Da die Beklagte, die eine Stelle ausgeschrieben hatte, eine erhöhte Sorgfaltspflicht traf, die Rechtsgüter der Klägerin nicht zu verletzen, worauf diese auch vertrauen durfte, ist die Persönlichkeitsverletzung als sehr schwer zu qualifizieren.
Solche persönlichkeitsverletzenden Erniedrigungen führen bei der betroffenen Person unweigerlich zu Wut, Hass und Komplexen (T. Göksu, Rassendiskriminierung beim Vertragsabschluss als Persönlichkeitsverletzung, Dissertation, Freiburg 2003, N 875). Die geschilder-ten Persönlichkeitsverletzungen sind massive Angriffe auf die seelische Integrität und verletzen das Gefühlsleben eines Menschen in starkem Masse. Daher führten die verschiedenen schweren Persönlichkeitsverletzungen bei der Klägerin zweifelsohne einen seelischen Schmerz herbei.
5.7 Genugtuung
Bei der Höhe der Genugtuung kommt es auf das Mass der Persönlichkeitsverletzung an. Unter Berücksichtigung, dass nicht nur ein, sondern mehrere Persönlichkeitsgüter der Klägerin in krasser Weise verletzt wurden und die Beklagte ihre erhöhte Sorgfaltspflicht aufgrund der culpa in contrahendo absolut missachtete, wiegt die Persönlichkeitsverletzung sehr schwer.
Die Beklagte ist daher zu verpflichten, der Klägerin ein Schmerzensgeld zu bezahlen, welches dazu dienen soll, die von der Klägerin erlittene seelische Unbill zu lindern. Die von ihr verlangten 5000 Franken bewegen sich ohne weiteres in der möglichen Grössenordnung, weshalb die Klage vollumfänglich gutzuheissen ist.
Die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung einer Genugtuung steht überdies im Einklang mit der von der Schweiz ratifizierten Rassendiskriminierungskonvention (RDK), welche seit 1994 in Kraft ist (SR 0.104). Diese sieht namentlich in Art. 6 vor, dass die Schweiz jeder Person in ihrem Hoheitsbereich einen wirksamen Schutz und wirksame Rechtsbehelfe durch die zuständigen nationalen Gerichte und sonstigen staatlichen Einrichtungen gegen alle rassistisch diskriminierenden Handlungen, welche ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten im Widerspruch zu diesem Übereinkommen verletzen, sowie das Recht, bei diesen Gerichten eine gerechte und angemessene Entschädigung oder Genugtuung für jeden infolge von Rassendiskriminierung erlittenen Schaden zu verlangen, zu gewährleisten hat.
(Urteil AN050401/U1 des Arbeitsgerichts Zürich, 2. Abteilung, 13. Januar 2006, nicht rechtskräftig)
Kommentar:
Das Arbeitsgericht Zürich lässt einem Arbeitgeber seine rassistischen Äusserungen gegenüber einer Stellenbewerberin nicht durchgehen und verpflichtet ihn, der Bewerberin eine Genugtuung von 5 000 Franken zu bezahlen. Im Ergebnis hat das Arbeitsgericht Zürich damit genau gleich entschieden wie der Tribunal de prud'hommes de Lausanne in einem Urteil vom 1. Juni 2005, wo es um den Fall einer Frau ging, die aufgrund ihrer Hautfarbe nicht angestellt worden war.
Im Unterschied zum Arbeitsgericht Zürich wickelte das Lausanner Gericht den Anspruch allerdings nicht über die Haftung aus culpa in contrahendo ab, sondern vertrat die Auffassung, dass der Schutz der Persönlichkeit zu einer Kontrahierungspflicht führen könne, wenn die Verweigerung
eines Vertragsschlusses eine Diskriminierung der anderen Person aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften darstellt (siehe plädoyer 6/05).
Viktor Goerffy
Erbrecht
Testament gültig - Anwalt aber erbunwürdig
Erbschleicherei führt bei einem Anwalt zur Erbunwürdigkeit. Das Bundesgericht bestätigte ein Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt. Das Erbe geht an den Kanton.
Sachverhalt:
Der Zürcher Rechtsanwalt Werner Stauffacher war ab 1991 als Rechtsanwalt für die Basler Erblasserin Hildegard Kirchbach tätig. Der Nachlass Hildegard Kirchbachs umfasst eine millionenschwere Kunstsammlung mit Gemälden von Franz Mark, Emil Nolde und Ferdinand Hodler sowie wertvolle Skultpuren. Am 20. Oktober 1992 stellte sie dem Beklagten eine Anwaltsvollmacht aus, die sich über die bloss anwaltliche Tätigkeit hinaus auf die Besorgung ihrer Geschäfte und auf ihre Betreuung insgesamt bezog.
Gemäss einemTestament vom 31. August 1987, dessen Original nicht vorliegt, setzte die Erblaserin Eckbert von Bohlen und Halbach, einen Spross der Krupp-Dynastie, als Alleinerben ein. In einem Nachtrag zu diesem Testament bestätigte sie am 10. März 1991 die Erbeinsetzung des Klägers.
In einem eigenhändigen Testament vom 16. November 1992 oder 1993 setzte sie den Beklagten Werner Stauffacher als ihren Alleinerben und Willensvollstrecker ein mit der Anweisung, dem Kläger Eckbert von Bohlen und Halbach ein Vermächtnis auszurichten. Sie bestätigte mit Testament vom 2. Dezember 1993 die Einsetzung des Beklagten als Alleinerben und Willensvollstrecker, hingegen nicht das Vermächtnis zu Gunsten des Klägers. Schliesslich widerrief die Erblasserin in einem Schreiben an den Beklagten vom 25. Februar 1995 alle früheren Vollmachten und Verfügungen mit Ausnahme jener zu Gunsten des Beklagten.
Der Kläger focht die Einsetzung des Beklagten als Alleinerben und Willensvollstrecker der Erblasserin an. Das Zivilgericht Basel-Stadt erklärte die letztwillige Verfügung vom 2. Dezember 1993 für ungültig wegen Verfügungsunfähigkeit und Willensmängeln sowie Sittenwidrigkeit.
Das von beiden Parteien angerufene Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt verneinte die Ungültigkeit der letztwilligen Verfügung vom 2. Dezember 1993. Es stellte fest, dass der Beklagte gegenüber der Erblasserin erbunwürdig und unfähig sei, das Amt des Willensvollstreckers auszuüben.
Der Beklagte wie auch der Kläger haben gegen das Urteil des Appellationsgerichts je staatsrechtliche Beschwerde erhoben und eidgenössische Berufung eingelegt.
Mit Urteil vom 6. Februar 2006 hat die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts die gleichzeitig gegen das nämliche Urteil erhobene staatsrechtliche Beschwerde des Beklagten abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte (5P.161/2005).
Aus den Erwägungen:
2 Wer auf unredliche oder unmoralische Weise zu einer Erbschaft zu gelangen versucht, wird gemeinhin als «Erbschleicher» bezeichnet (vgl. zum Stichwort: Metzger, Schweizerisches juristisches Wörterbuch, Basel 2005, S. 178). Das Gesetz erfasst «Erbschleicherei» weder als eigenen Ungültigkeitsgrund im Sinne von Art. 519 ZGB noch ausdrücklich als Erbunwürdigkeitsgrund gemäss Art. 540 ZGB. Es wird vertreten, dass in ganz schweren Fällen der Erbschleicherei etwa eine strenge Beurteilung der Testierfähigkeit, die Annahme eines Willensmangels, der Erbunwürdigkeit nach Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB oder sogar der Unsittlichkeit helfen könne (Spiro, Certum debet esse consilium testantis?, FS Druey, Zürich 2002, S. 259 ff., S. 261).
Unwürdig, Erbe zu sein oder aus einer Verfügung von Todes wegen irgendetwas zu erwerben, ist gemäss Art. 540 Abs. 1 ZGB, wer vorsätzlich und rechtswidrig den Tod des Erblassers herbeigeführt oder herbeizuführen versucht hat (Ziff. 1), wer den Erblasser vorsätzlich und rechtswidrig in einen Zustand bleibender Verfügungsunfähigkeit gebracht hat (Ziff. 2), wer den Erblasser durch Arglist, Zwang oder Drohung dazu gebracht oder daran verhindert hat, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten oder zu widerrufen (Ziff. 3) oder wer eine Verfügung von Todes wegen vorsätzlich und rechtswidrig unter Umständen, die dem Erblasser deren Erneuerung nicht mehr ermöglichten, beseitigt oder ungültig gemacht hat (Ziff. 4). Gemäss Art. 540 Abs. 2 ZGB wird die Erbunwürdigkeit durch Verzeihung des Erblassers aufgehoben.
3 Das Appellationsgericht hat dem Beklagten vorgehalten, er habe die ihn unter den gegebenen Umständen treffende Aufklärungspflicht gegenüber der Erblasserin nicht erfüllt und sie etwas tun lassen, das er hätte verhindern können und müssen (E. 6.3 und E. 6.4 S. 24 ff.). Es ist davon ausgegangen, der Beklagte habe die Erblasserin arglistig daran
gehindert, eine neue, anders lautende Verfügung von Todes wegen zu errichten bzw. diejenige vom 2. Dezember 1993 zu widerrufen (E. 6.5 S. 27 des angefochtenen Urteils). Nach Auffassung des Appellationsgerichts hat damit der Erbunwürdigkeitsgrund im Sinne von Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB vorgelegen, und zwar in der Variante des Verhinderns und nicht des Bewirkens der Errichtung oder des Widerrufs einer Verfügung von Todes wegen.
3.2 Erbunwürdig macht das Verhindern am Errichten oder Widerrufen einer Verfügung von Todes wegen. Die Verhinderung muss dauernd sein. Sie setzt nicht die tatsächliche Unmöglichkeit, letztwillig zu verfügen, voraus. Es genügt, dass der Erblasser subjektiv eine andere Verfügungsmöglichkeit nicht kannte, obwohl sie objektiv vielleicht bestand (vgl. Tuor/Picenoni, Berner Kommentar, 1964, N. 24 zu Art. 540/541 ZGB). Die Verhinderung ist durch physische Gewalt möglich, kann aber auch - im Falle der Arglist wohl stets - durch geistige Beeinflussung stattfinden, die dann freilich bis zum Tod des Erblassers aufrechterhalten bleiben muss (vgl.
Escher, Zürcher Kommentar, 1960, N. 11 zu Art. 540 ZGB).
Das Verhindern kann, wie es das Appellationsgericht angenommen hat, in einem Unterlassen bestehen, zum Beispiel im Ausnützen einer beim Erblasser vorhandenen Fehlvorstellung, die der Erbunwürdige korrigieren könnte und müsste (vgl. Schwander, Basler Kommentar, 2003, N. 15 zu Art. 540 ZGB).
3.3 Erbunwürdigkeit tritt - im Gegensatz zur Enterbung auf Anordnung des Erblassers (Art. 477 ZGB) und zur Ungültigerklärung auf Klage (Art. 519 Abs. 1 ZGB) -- von Gesetzes wegen ein und ist durch Behörden und Gerichte von Amtes wegen zu berücksichtigen (vgl. Schwander, a. a. O., N. 22 Abs. 4 und N. 24 zu Art. 540 ZGB). An der Erbunwürdigkeit besteht insoweit ein allgemeines Interesse. Es ist deshalb nicht der Begriff der Arglist im Sinne von Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB eng auszulegen.
3.4 Im Gegensatz zu den anderen Erbunwürdigkeitsgründen gemäss Art. 540 Abs. 1 ZGB wird in Ziff. 3 Vorsatz und Rechtswidrigkeit des Handelns bzw. Unterlassens nicht ausdrücklich erwähnt. Die beiden Voraussetzungen sind indessen regelmässig erfüllt, wenn durch Arglist, Zwang oder Drohung die Errichtung oder der Widerruf einer Verfügung von Todes wegen bewirkt oder verhindert wird (vgl. Escher, a. a. O., N. 7 zu Art. 540 ZGB).
4 Nach Abweisung der Willkürbeschwerde, die der Beklagte gegen die Beweiswürdigung erhoben hat, muss von folgendem, verbindlich festgestellten Sachverhalt ausgegangen werden:
4.1 Der Beklagte ist ab 1991 der Anwalt der Erblasserin gewesen und hat mit ihr auch erbrechtliche Fragen besprochen. Bei der Frage nach ihren Nachlasswünschen soll die Erblasserin zu ihm gesagt haben: «Das sind Sie.» Im April 1994 hat der Beklagte vom Testament und von seiner Einsetzung als Alleinerbe Kenntnis erhalten und das Testament vom 2. Dezember 1993 mitgenommen.
4.2 Über die ihm als mandatiertem Anwalt zukommende Vertrauensstellung hinaus hat der Beklagte grossen Einfluss auf die Erblasserin gehabt und ausgeübt. Die Erblasserin ist zu ihm nicht bloss in einem Vertrauensverhältnis gestanden, sondern weitergehend in einem eigentlichen Abhängigkeitsverhältnis.
4.3 Die Erblasserin ist davon ausgegangen, die Zuwendung des Beklagten ihr gegenüber entspringe echter Freundschaft und Zuneigung, und in diesem Zusammenhang steht die Einsetzung des Beklagten als Alleinerbe. Der Beklagte hingegen hat nicht aus Freundschaft gehandelt, sondern sich bereichern wollen.
5 Das Appellationsgericht hat angenommen, der Beklagte habe die Erblasserin angesichts gezielter Ausnützung des bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses, durch Unterlassen jeglicher Aufklärung sowie unter Mitnahme des Testaments daran gehindert, eine neue, anders lautende Verfügung von Todes wegen zu errichten beziehungsweise diejenige vom 2. Dezember 1993 zu widerrufen, auch wenn es der Erblasserin theoretisch möglich gewesen wäre, das Testament vom 2. Dezember 1993 nachträglich wieder aufzuheben und anders zu verfügen.
Zur Hauptsache hat das Appellationsgericht das Verhindern im Sinne von Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB darin gesehen, dass der Beklagte die ihn treffende Pflicht zur Aufklärung unterlassen hat und dass er die Erblasserin etwas hat tun lassen, das er hätte verhindern können und müssen.
Danach hatte der Beklagte die Pflicht, die Erblasserin von der Unzulässigkeit und Unzweckmässigkeit der getroffenen Nachlassregelung zu überzeugen und ihr andere Lösungen aufzuzeigen. Zumindest hätte er sie auf seinen Interessenkonflikt hinweisen und sie zu einem anderen, unabhängigen Berater schicken müssen.
Gemäss den verbindlichen Feststellungen des Appellationsgerichts steht die Erbeinsetzung im Zusammenhang mit der Annahme der Erblasserin, «die Zuwendung des Beklagten ihr gegenüber entspringe echter Freundschaft und Zuneigung».
6 Es bleibt zu prüfen, ob eine Erbunwürdigkeit darin begründet liegt, dass der Beklagte die Erblasserin als seine Klientin in der Fehlvorstellung belassen hat, seine Bemühungen beruhten auf echter Freundschaft und Zuneigung, und ihr nicht klargelegt hat, dass es sich dabei um seine Gegenleistung für die Bezahlung des von ihm in Rechnung gestellten Anwaltshonorars handle.
6.1 Nach dem Gesagten ist ein Verhindern im Sinne des Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB auch durch blosses Unterlassen möglich, namentlich durch unterlassene Aufklärung, wo hätte aufgeklärt werden können und müssen. Eine Pflicht zur Aufklärung hat das Appellationsgericht aus Auftrags- und Berufsrecht abgeleitet und im Hinblick auf die Rolle des Beklagten als Anwalt der Erblasserin bejaht. Selbständige Mitteilungspflichten können sich aus dem Gebot ergeben, nach Treu und Glauben zu handeln (Merz, Berner Kommentar, 1962/66, N. 262 f. zu Art. 2 ZGB). Wann dies zutrifft, ist im konkreten Einzelfall zu bestimmen. Massgebende Kriterien sind unter anderem das Vorliegen eines besonderen Vertrauensverhältnisses oder eines Dauerschuldverhältnisses, der Grad der Erkennbarkeit und die Schwere des Mangels (Hausheer/Jaun, Der Einleitungstitel des ZGB, Bern 2003, N. 61 zu Art. 2 ZGB, bei Anm. 95; vgl. Honsell, Basler Kommentar, 2002, N. 16 zu Art. 2 ZGB). Eine Pflicht des Beklagten zur Aufklärung muss aufgrund der verbindlichen Feststellungen des Appellationsgerichts bejaht werden. Danach hat zwischen dem Beklagten und der Erblasserin ein Vertrauensverhältnis von rund vier Jahren - ab 1991 bis zum Tod der Erblasserin am 9. Juli 1995 - Dauer bestanden. Der Beklagte war in dieser Zeit beinahe die einzige Bezugsperson der Erblasserin. Aus der Sicht der Erblasserin ist es dabei nicht bloss um eine Arbeitsbeziehung zwischen ihr als Klientin und ihm als Anwalt gegangen. Sie hat dem Verhältnis eine weitergehende Bedeutung beigemessen und ihr Verständnis durch grosszügige Schenkungen an den Beklagten offenbart. Er selber hat ebenfalls Freundschaft behauptet, sich gemäss den verbindlichen Feststellungen des Appellationsgerichts aber bereichern wollen. Unter diesen Umständen wäre der Beklagte verpflichtet gewesen, die Erblasserin über sein tatsächliches Verhältnis zu ihr aufzuklären. Er hat seine Pflicht verletzt, und zwar dauernd, zumal die Fehlvorstellung der Erblasserin über ihr Verhältnis zum Beklagten bis zum Tod bestanden hat. Dass sie die theoretische Möglichkeit gehabt hätte, auch anders zu verfügen, ist rechtlich belanglos. Entscheidend ist, dass durch unterlassene Aufklärung ihre falsche Vorstellung über das Verhalten des Beklagten ihr gegenüber bis zum Schluss aufrechterhalten geblieben ist, wie das im Übrigen durch ihr Schreiben vom 25. Februar 1995 belegt wird, in dem sie alle früheren Vollmachten und Verfügungen mit Ausnahme jener zu Gunsten des Beklagten widerrufen hat.
6.2 Arglist gemäss Art. 540 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB kann im Ausnützen einer schon vorhandenen falschen Vorstellung beim Erblasser bestehen, soweit dieses Ausnützen aufgrund sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls eine schwere Verfehlung gegen den Erblasser bedeutet. Gemäss den Feststellungen des Appellationsgerichts ist der Beklagte seiner Aufklärungspflicht auch dann nicht nachgekommen, als er im April 1994 von seiner testamentarischen Einsetzung als Alleinerbe Kenntnis erhalten hat. In Anbetracht des mehrjährigen Vertrauensverhältnisses, der Schenkungen - neben der Bezahlung des Anwaltshonorars - an den Beklagten von Seiten der Erblasserin und deren festgestellten Abhängigkeit von ihm erscheint die unterlassene Aufklärung verbunden mit Bereicherungsabsicht als schwere Verfehlung des Beklagten, die als unerträglich erscheint und zu missbilligen ist.
6.3 Die Voraussetzung des Vorsatzes ist erfüllt, zumal der Beklagte als Grundlage seiner Beziehung zur Erblasserin - übereinstimmend mit ihr - «Freundschaft» behauptet hat, sich in Wirklichkeit aber hat bereichern wollen. Es genügt das Bewusstsein, dass die Erblasserin ihr Testament vom 2. Dezember 1993 nicht widerrufen oder anders und neu verfügen würde, solange ihre Vorstellung über ihr Verhältnis zum Beklagten erhalten bleibt.
6.4 Vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen dem Beklagten und der Erblasserin ist nach allgemeiner Lebenserfahrung anzunehmen, die unterlassene Aufklärung sei kausal dafür gewesen, dass die Erblasserin ihr Testament vom 2. Dezember 1993 nicht widerrufen und nicht neu und anders verfügt hat (vgl. E. 3.5 hiervor).
6.5 Aus den dargelegten Gründen verletzt es kein Bundesrecht, dass das Appellationsgericht festgestellt hat, der Beklagte sei erbunwürdig. Bei diesem Ergebnis ist nicht bestritten, dass der Beklagte das Amt des Willensvollstreckers nicht ausüben kann
(S. 43 Rz. 186 f. der Berufungsschrift).
Die Berufung muss insgesamt abgewiesen werden, soweit darauf eingetreten werden kann. Entgegen der Annahme des Beklagten steht die Bejahung der Erbunwürdigkeit im vorliegenden Fall nicht ausserhalb jeglicher Rechtsordnung. Die Beispiele, die sich in Lehre und Praxis zum schweizerischen Recht finden lassen, mögen zwar spärlich sein. Auch in ausländischen Rechtsordnungen wird jedoch die rechtswidrige Beeinträchtigung des freien erblasserischen Willens als Erbunwürdigkeitsgrund erfasst (zum Beispiel in § 2339 des deutschen BGB, in § 542 des österreichischen ABGB und in Art. 463 des italienischen CC, nicht hingegen in den Art. 727 ff. des französischen CC). In der Lehre wird der mit dem vorliegenden ähnliche Fall erörtert, wo gerichtlich auf Erbunwürdigkeit erkannt wurde, weil eine Ehefrau ihr fortdauerndes ehewidriges Verhältnis in Kenntnis der Tatsache verschwieg, dass ihr Ehemann im Vertrauen auf ihre eheliche Treue eine Verfügung von Todes wegen zu ihren Gunsten errichtet hat (vgl. Lange/ Kuchinke, Lehrbuch des Erbrechts, 4. A. München 1995, S. 145 Anm. 32, mit Hinweisen, zuletzt: Helms, Münchener Kommentar, 2004, N. 25 zu § 2339 BGB; ähnlich für Österreich: Kralik, Das Erbrecht, Wien 1983, S. 38 f.; für Italien: Palazzo, Le successioni, I, Milano 1996, S. 217, und Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice civile, Padova 2005, N. V/1 zu Art. 463 CC, je mit Hinweisen auch zum Fall der Erbschleicherei).
7 Der unterliegende Beklagte wird kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). Demnach erkennt das Bundesgericht: 2. Die Berufung wird abgewiesen. 3. Die Gerichtsgebühr von 40 000 Franken wird dem Beklagten auferlegt. 4. Der Beklagte hat den Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren mit 50 000 Franken zu entschädigen.
(Urteil 5C.121/2005 der II. Zivilabteilung vom 6. Februar 2006, siehe auch Urteil 5P.161/2005 der II.
Zivilabteilung vom 6. Februar 2006)
Sozialversicherungen
Krankengeschichte: Völlige Offenlegung nicht notwendig
Eine verunfallte Person muss dem Unfallversicherer nicht die ganze Krankengeschichte offen legen. Ihre Mitwirkungspflicht ist begrenzt durch die Zumutbarkeit.
Sachverhalt:
Eine Frau erlitt am 12. März 2001 und am 26. August 2002 je einen Verkehrsunfall mit HWS-Distorsion. Die Zürich als obligatorischer Unfallversicherer richtete Taggelder aus und übernahm die Behandlungskosten. Mit Verfügung vom 2. Oktober 2003 teilte sie der Frau mit, die Leistungen rückwirkend ab 1. September 2003 einzustellen. Grund: Es fehle der natürliche wie adäquate Kausalzusammenhang. Die Frau erhob daraufhin Einsprache. Die Zürich forderte sie am 5. November 2003 auf, innert 60 Tagen sämtliche Krankengeschichten aller behandelnden Ärzte und Spitäler seit 1991 zuzustellen und zu bestätigen, dass alle Unterlagen eingereicht worden seien. Darauf werde sie medizinisch begutachtet.
Am 11. Dezember 2003 erklärte die Versicherte unter anderem, dass wegen eines Unfalls aus dem Jahr 1992 noch weitere Abklärungen getätigt würden und sie die Ärzte Dr. R. und Dr. T. ermächtigen werde, einem Gutachter wegen ihres Vorzustandes Auskunft zu erteilen.
Am 15. Dezember 2003 beharrte die Zürich auf ihrer Anordnung vom 5. November 2003 und wies die Frau darauf hin, dass ohne die einverlangten Unterlagen keine Begutachtung durchgeführt und aufgrund der Akten entschieden werde. Darauf forderte sie die Frau auf, ihrem Vertrauensarzt die vollständigen Krankengeschichten zuzustellen, der eine Selektion vornehmen werde. In die verbleibenden Akten werde die Unfallversicherung Einsicht nehmen. Schliesslich schloss die Zürich das Einspracheverfahren mit Entscheid vom 8. Juli 2004 ab. Sie wies die Einsprache ab und war der Meinung, dass ohne Vorunfallakten, die infolge Verweigerung der Mitwirkung der Frau nicht vorlägen, ein Schleudertrauma nicht gesichert sei, weshalb der natürliche Kausalzusammenhang von Anfang an verneint werde. Auf eine Rückforderung verzichtete die Zürich.
Die Frau erhob am 1. Oktober 2004 Beschwerde ans Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Dieses heisst die Beschwerde gut und weist die Sache an die Zürich zurück.
Aus den Erwägungen:
2.1 Einen weiteren Streitpunkt zwischen den Parteien bildet die Frage, ob die Beschwerdeführerin im Verwaltungsverfahren ihre Mitwirkungspflicht verletzt hat und die Beschwerdegegnerin infolgedessen berechtigt war, ohne weitere Abklärungen gestützt auf die bisherigen Akten zu entscheiden. Diese Frage ist rechtsprechungsgemäss vorfrageweise zu prüfen (SVR 1998 UV Nr. 1).
2.2.1 Nach dem in der Sozialversicherung herrschenden Untersuchungsgrundsatz hat der Unfallversicherer den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen (Art. 43 Abs. 1 ATSG). Dabei ist es grundsätzlich Sache des Versicherers, die im Einzelfall als notwendig oder geboten erscheinenden Abklärungsmassnahmen festzusetzen.
Die versicherte Person hat bei den Abklärungen mitzuwirken und alle erforderlichen Auskünfte wahrheitsgetreu und unentgeltlich zu geben (Art. 28 Abs. 2 ATSG). Soweit ärztliche oder fachliche Untersuchungen notwendig sind, hat sich die versicherte Person diesen zu unterziehen (Art. 43 Abs. 2 ATSG und Art. 55 Abs. 2 der Verordnung über die Unfallversicherung, UVV). Gemäss Art. 55 Abs. 1 UVV müssen die versicherte Person oder ihre Hinterlassenen alle erforderlichen Auskünfte erteilen und ausserdem die Unterlagen zur Verfügung halten, die für die Klärung des Unfallsachverhaltes und die Unfallfolgen sowie für die Festsetzung der Versicherungsleistungen benötigt werden, insbesondere medizinische Berichte, Gutachten, Röntgenbilder und Belege über die Verdienstverhältnisse. Sie müssen Dritte ermächtigen, solche Unterlagen herauszugeben und Auskunft zu erteilen (vgl. dazu auch Art. 28 Abs. 3 ATSG).
2.2.2 Die Mitwirkungspflichten sind ganz allgemein begrenzt durch die Zumutbarkeit. Bei der Zumutbarkeit handelt es sich um einen Abwägungsbegriff. Die Interessen der Pflichtigen sind gegen jene des Versicherers abzuwägen (Maurer, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 254). In Art. 43 Abs. 1 ATSG wird dieses Prinzip zum Ausdruck gebracht, indem der Versicherer verpflichtet wird, die notwendigen Abklärungen vorzunehmen und die erforderlichen Auskünfte einzuholen.
2.2.3 Wenn die versicherte Person oder andere Personen die Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise verletzen, so kann der Versicherer aufgrund der Akten entscheiden oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen. Er muss diese Personen vorher schriftlich mahnen und auf die Rechtsfolgen unter Einräumung einer angemessenen Bedenkzeit hinweisen (Art. 43 Abs. 3 ATSG).
Wann der Unfallversicherer unter den erwähnten Voraussetzungen bei schuldhafter Unterlassung der notwendigen und zumutbaren Mitwirkung einen Nichteintretensentscheid beziehungsweise einen materiellen Entscheid aufgrund der vorhandenen Akten fällen kann, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Lässt sich beispielsweise der Sachverhalt ohne Schwierigkeiten und ohne besonderen Aufwand abklären, auch wenn die versicherte Person die Mitwirkung verweigert oder unterlässt, so wird die Verwaltung die betreffenden Erhebungen zu tätigen und anschliessend materiell zu entscheiden haben (vgl. BGE 108 V 231 f.; Maurer, a. a. O., S. 255).
Eine allfällige Beweislosigkeit wirkt sich zuungunsten der versicherten Person aus, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte für sich ableiten wollte (BGE 107 V 163 Erw. 3a mit Hinweisen; RKUV 2002 Nr. U 457 S. 221).
2.3 Der Streit um die Mitwirkungspflicht der Beschwerdeführerin nahm seinen Anfang mit dem Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 5. November 2003, mit welchem sie die Beschwerdeführerin aufforderte, zur Abklärung des Vorzustandes innert einer Frist von 60 Tagen sämtliche Krankengeschichten aller behandelnden Ärzte und Spitäler seit 1991 zuzustellen und gleichzeitig zu bestätigen, dass alle Unterlagen zugesandt worden seien. Daraufhin werde sie medizinisch begutachtet werden.
Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte der Unfallversicherer unter anderem bereits über eine Liste von Dr. R. vom 19. Juni 2001 zu sämtlichen bei ihr zur Untersuchung gelangten Beschwerden seit 24. Januar 1992, Akten der Winterthur Versicherungen zu einem am 17. April 1996 erlittenen Trauma der HWS, welches Heilungskosten von Fr. 54.45 zur Folge hatte, sowie über einen Leistungskatalog des Krankenversicherers Helsana Versicherungen AG für die Periode vom 2. August 1989 bis April 2000.
Wie die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin im Schreiben vom 15. Dezember 2003 zu Recht mitgeteilt hatte, kann die Abklärung von Vorzuständen für die Feststellung des sogenannten «status quo sine» oder des «status quo ante» und damit für die Feststellung der natürlichen Kausalität relevant sein (vgl. BGE 119 V 345). Auch ist der Beschwerdegegnerin darin zuzustimmen, dass die medizinischen Akten Hinweise auf möglicherweise relevante Vorzustände aufweisen, wie allfällige Degenerationen im Bereich der HWS, ein Sturz auf den Rücken im Jahr 1992 mit einer Kontusion der Brustwirbelsäule (BWS) und der Lendenwirbelsäule (LWS) sowie eine Kostengutsprache für Psychotherapie im Jahr 1994.
Selbst bei Vorliegen begründeter Anhaltspunkte für das Vorliegen relevanter Vorzustände ist aber die Aufforderung, sämtliche Krankengeschichten aller behandelnden Ärzte und Spitäler seit 1991 einzureichen, als unverhältnismässig zu betrachten. Dies gilt umso mehr, als die Beschwerdegegnerin bereits über diverse Akten zum Vorzustand der Beschwerdeführerin verfügte, und die Beschwerdeführerin gestützt darauf hätte auffordern können, konkrete Ärzte/Ärztinnen vom Arztgeheimnis zu entbinden, um die entsprechenden Abklärungen selber vorzunehmen. Mit der Verpflichtung zur Einreichung sämtlicher Krankengeschichten seit 1991 würde die Untersuchungspflicht in unhaltbarer Weise auf die versicherte Person abgewälzt.
In der Folge liess die Beschwerdeführerin Ermächtigungen zur Auskunftserteilung für Dr. V., für Dr. T., Dr. C. und Dr. R. sowie Unterlagen betreffend das Unfallgeschehen vom 17. Februar 1992 einreichen. Dass sie die Ermächtigungen zur Auskunftserteilung lediglich derart eingeschränkt ausgestellt hat, vermöchte zwar einer Prüfung unter dem Blickwinkel von Art. 28 Abs. 3 ATSG möglicherweise nicht standzuhalten, doch müsste eine Verletzung der Mitwirkungspflicht in unentschuldbarer Weise erfolgt sein (Art. 43 Abs. 3 ATSG). Als unentschuldbar könnte das Verhalten der Beschwerdeführerin nur dann betrachtet werden, wenn ihr Verhalten nicht nachvollziehbar wäre, mithin ein Rechtfertigungsgrund nicht einmal ansatzweise erkennbar oder das Verhalten schlechthin unverständlich wäre (vgl. Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 43 Rz 39). Davon aber kann vorliegend nicht ausgegangen werden. Dass die Beschwerdeführerin angesichts der nicht zumutbaren Forderungen des Unfallversicherers eine gewisse Zurückhaltung bei der Mitwirkung und Auskunftserteilung zeigte, erscheint entschuldbar, zumal es der Beschwerdegegnerin angesichts der Ausgestaltung der Ermächtigungen keineswegs verunmöglicht war, weitergehende Abklärungen zu tätigen. Zudem erscheint die Aufforderung der Beschwerdegegnerin, eine Bestätigung einzureichen, dass sämtliche Ärzte und Spitäler seit 1991 bekannt seien, angesichts der bis dahin bereits vorhandenen Vorakten wie erwähnt als unverhältnismässig.
Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass der Beschwerdeführerin keine unentschuldbare Verletzung der Mitwirkungspflicht vorzuwerfen ist, welche der Beschwerdegegnerin die Möglichkeit eingeräumt hätte, gemäss Art. 43 Abs. 3 ATSG aufgrund der Akten zu entscheiden.
(Urteil UV.2004.00261 I. Kammer des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. November 2005, rechtskräftig)
Strafrecht
Anyonme Zeugen: Verteidigerrechte eingeschränkt
Kann der Strafverteidiger einen anonymen Zeugen nicht befragen, sind die Verteidigungsrechte
massiv eingeschränkt. Ein faires Verfahren ist unmöglich.
Sachverhalt:
Einem Mann wurde vorgeworfen, er habe einen Landsmann durch Genickschuss aus nächster Nähe getötet. Der Mann bestritt die Täterschaft im ganzen Verfahren. Das Geschworenengericht des Kantons Zürich sprach ihn der vorsätzlichen Tötung schuldig und verurteilte ihn zu 14 Jahren und 9 Monaten Zuchthaus. Zum Beweis stützte es sich auf einen anonymen Zeugen. Bei der Einvernahme durch die Bezirksanwaltschaft sassen der Mann und der Verteidiger in einem separaten Raum. Die Einvernahme wurde über Lautsprecher direkt übertragen und die Stimme des anonymen Zeugen akustisch verzerrt. Nach der Befragung konnte der Verteidiger via Bezirksanwalt Zusatzfragen über das interne Telefon stellen.
Die Einvernahme vor dem Geschworenengericht erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Mann und dessen Verteidiger hielten sich in dieser Zeit im Beratungszimmer des Geschworenengerichts auf. Richter und Geschwore konnten den anonymen Zeugen unverdeckt im Gerichtssaal sehen. Die Personalien waren jedoch nur dem Gerichtspräsidenten bekannt. Im Beratungszimmer war die Stimme des anonymen Zeugen zwar klar und deutlich, jedoch verzerrt hörbar.
In Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen wurden der polizeiliche Sachbearbeiter und der Bezirksanwalt, die Kenntnis über die persönlichen Daten des anonymen Zeugen hatten, vom Gericht als Zeugen befragt. Dabei wurde bestätigt, dass er in keinem Vorstrafenregister verzeichnet sei, dass er weder bei Stadt- noch Kantonspolizei Akten aufweise, dass keine Anhaltspunkte für eine Drogenhändlertätigkeit oder Zugehörigkeit zum Drogenhändlermilieu bestünden und auch keine erkennbaren Anzeichen für Drogenkonsum vorlägen. Ferner bestünden nach Polizei und Untersuchungsbehörde nicht die geringsten Anhaltspunkte für eine Täterschaft oder sonstige Tatbeteiligung des anonymen Zeugen. Der Gerichtspräsident konnte sich über die polizeilichen Leumundsakten des Zeugen einen persönlichen Eindruck verschaffen, den er in die Urteilsberatung einbrachte.
Der Mann erhob gegen das Urteil des Geschworenengerichts Beschwerde ans Kassationsgericht des Kantons Zürich. Er machte geltend, durch die ergriffenen Zeugenschutzmassnahmen sei die Verteidigung massiv eingeschränkt, wenn nicht gar unmöglich gewesen. Der Zeuge habe nach eigenem Gutdünken bestimmen können, welche Fragen er beantworten wolle und welche nicht. Der Mann und sein Verteidiger hätten keine Informationen erhalten, um die Glaubwürdigkeit des anonymen Zeugen zu überprüfen. Eine erhebliche oder ernstliche Gefährdung des Zeugen sei nicht glaubhaft gemacht worden. Jedenfalls seien der Verteidigung entsprechende Informationen unzugänglich gewesen. Es handle sich um Spekulationen, die das zu beurteilende Tötungsdelikt in den Zusammenhang mit einem Krieg zwischen Drogenbanden stellen.
Aus den Erwägungen:
4.1 Der seit dem 1. Januar 2002 in Kraft stehende § 131a StPO bestimmt in den Absätzen 1
und 2:
«Zum Schutze der einzuvernehmenden Person oder Dritter sind geeignete Massnahmen zu treffen, wenn eine erhebliche oder ernstliche Gefahr glaubhaft ist. Insbesondere können
1. die Öffentlichkeit ausgeschlossen,
2. die Personalien vertraulich behandelt,
3. die direkte Konfrontation der einzuvernehmenden Person mit dem Angeschuldigten und Dritten ausgeschlossen und
4. das Aussehen und die Stimme der einzuvernehmenden Person durch technische Mittel unkenntlich gemacht werden.
Diese Massnahmen müssen verhältnismässig und die drohende Gefahr darf nicht anders abwendbar sein.»
Diese Norm stellt eine lex specialis zu § 14 Abs. 1 StPO dar, wonach dem Angeschuldigten und seinem Verteidiger Gelegenheit gegeben wird, den Einvernahmen von Zeugen beizuwohnen. Zu beachten ist sodann die übergeordnete Bestimmung von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, wonach der Angeschuldigte insbesondere Anspruch darauf hat, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen.
7. Im Folgenden ist eine Würdigung unter dem Aspekt des Anspruchs auf ein faires Verfahren bzw. des Anspruchs auf Konfrontation gemäss Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK vorzunehmen. Nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Beschuldigte bzw. Angeklagte (unter anderem) das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Dieses Recht ergibt sich ebenfalls aus Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV sowie Art. 14 Ziff. 3 lit. e IPBPR, wobei diese Bestimmungen ihrerseits nicht über Art. 6 EMRK hinausgehen. Die Garantien von Art. 6 Ziff. 3 lit. a- e EMRK stellen besondere Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar. Die spezifischen Anforderungen der Befragung von Belastungszeugen nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK werden daher am allgemeinen Prinzip des fairen Verfahrens gemessen und entsprechende Rügen sind unter dem Blickwinkel beider Bestimmungen zu prüfen (vgl. BGE 125 I 127 [S. 132] E. 6a, m. H.; vgl. Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Auflage, Zürich 2004, N 653 ff.). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu den genannten EMRK-Bestimmungen, die sich auf die Praxis des EGMR bezieht, ist zur Wahrung der Verteidigungsrechte erforderlich, dass die (zumindest einmalige) Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann (a. a. O., S. 133).
Zu diesem Recht auf Stellung von Fragen, bei welchem es darum geht, anhand der Aussagen die Glaubwürdigkeit des Befragten auf die Probe zu stellen, zum Beispiel dessen persönliche Beziehungen zum Angeschuldigten oder allenfalls eine eigene Beziehung zum Delikt aufzuzeigen, Widersprüche in der Schilderung des Sachverhaltes aufzudecken sowie auf allfällige falsche Anschuldigungen hinzuwiesen, kommt das Teilnahmerecht des Angeschuldigten hinzu, welches dazu dient, aus dem Verhalten, insbesondere der Körpersprache des Befragten (Mimik, Gestik etc.) Schlüsse auf die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu ziehen. Daneben dient das Teilnahmerecht aber auch der Ausübung einer wirksamen Verfahrenskontrolle durch den Angeschuldigten bzw. die Verteidigung (zum Vorstehenden Donatsch, in: Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich 2000, Vorbem. §§ 128 ff. N 14, m. w. H.).
7.1 Die optimale Möglichkeit der Wahrnehmung des Konfrontationsrechts mit dem Belastungszeugen durch den Angeschuldigten ist dann gegeben, wenn er über die Informationen verfügt, die es ihm ermöglichen, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen bzw. die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen zu hinterfragen (das heisst ihn beispielsweise in Widersprüche
zu verstricken) und allfällige «Zeugenausschluss- oder Ablehnungsgründe» (Verwandtschaftsverhältnisse, persönliche Beziehungen) überprüfen zu können.
Von zentraler Bedeutung ist dabei zum einen die Kenntnis der Identität des Zeugen, zum anderen die Möglichkeit, das Aussageverhalten des Zeugen selbst unmittelbar wahrnehmen zu können, das heisst die (unverfälschte) Stimme zu hören und den Zeugen bei der Aussage zu beobachten. Schliesslich kommt die Möglichkeit hinzu, Fragen an den Zeugen zu stellen und diesem Vorhaltungen zu machen, und zwar in direkter Kommunikation («face to face») mit dem Zeugen (BGE 129 I 151 E. 4.2, 125 I 127 [S. 137 ff.] E. 6c/ff und 6d/aa; ZR 98 Nr. 63 E. 2d/aa [a.E.] und bb, m. w .H.; vgl. ferner Wolfgang Wohlers, Aktuelle Fragen des Zeugenschutzes. Zur Vereinbarkeit der im Strafprozessrecht des Kantons Zürich anwendbaren Zeugenschutznormen mit Art. 6 Abs. 3 lit d EMRK, ZStrR 2005, S. 165 f., mit zahlreichen Hinweisen auf die Praxis der Strassburger Instanzen).
Auf der anderen Seite haben der EGMR und ihm folgend das Bundesgericht wiederholt anerkannt, dass Abweichungen bzw. Einschränkungen vom eben dargestellten optimalen Vorgehen nicht notwendigerweise zur Annahme eines Verstosses gegen Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK führen (vgl. BGE 124 I 274 [S. 285] E. 5b). Einschränkungen, wie sie namentlich zum Schutz gefährdeter Zeugen angeordnet werden können, dürfen aber nicht zu einer «untragbaren Schmälerung elementarer Verteidigungsrechte» führen (BGE 125 I 127 [S. 139] E. 6d/dd; Wohlers, a. a. O., S. 166, je m. H.).
Die Strassburger Rechtsprechung anerkennt insbesondere, dass unter gewissen Umständen - bei Vorliegen «guter Gründe» bzw. «sachlich gerechtfertigter Gründe» («relevant and sufficient grounds») - und namentlich bei Opfern von Straftaten aus dem Umfeld des organisierten Verbrechens und des Terrorismus bzw. im Bereich von Sittlichkeitsdelikten das Interesse an der Wahrung der Anonymität eines Zeugen dem Interesse des Angeschuldigten an uneingeschränkter Hinterfragung der Glaubwürdigkeit des Zeugen vorgehen kann (BGE 125 I 127 [S. 138] E. 6d/cc; vgl. Donatsch, a. a. O., N 14 Vorbem. §§ 128 ff. m .w. H.; Dorrit Schleiminger, Konfrontation im Strafprozess, Basel u.a. 2000, S. 10 ff.; Daniela Demko, Das Fragerecht des Angeklagten nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK aus Sicht des EGMR, der schweizerischen sowie der deutschen Rechtsprechung, ZStrR 2004, S. 416 ff., 419; vgl. ferner Robert Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, Berlin 2002, S. 658 ff.). Die Tatsache, dass es vorliegend zu solchen Einschränkungen bzw. Abweichungen vom optimalen Vorgehen gekommen ist, stellt daher als solche noch keine Konventionsverletzung dar.
7.2 Abweichungen von der optimalen Gewährleistung des Konfrontationsrechts werden dann als zulässig erachtet, wenn einerseits namentlich der Schutz von Leib und Leben des Zeugen oder diesem nahestehender Personen auf dem Spiel steht und andererseits die daraus resultierenden Einschränkungen des Konfrontationsrechts auf eine Art «kompensiert» bzw. «ausgeglichen» («counterbalanced») werden, dass insgesamt noch von einer «angemessenen und geeigneten» Gelegenheit zur Konfrontation mit dem bzw. zur Befragung des Zeugen die Rede sein kann ( Wohlers, a. a. O., S. 166; Donatsch, a. a. O., N 14; Esser, a. a. O., S. 663 ff., je m. H.). Genau besehen wird es dabei allerdings in aller Regel nicht um eine eigentliche Kompensation - das heisst ein Aufwiegen mit sonst nicht bestehenden Vergünstigungen für die Verteidigung - gehen, sondern vielmehr darum, dass die Einschränkungen des Konfrontationsrechts ihrerseits auf das Notwendigste eingeschränkt werden (kritisch zur Kompensationstheorie Schleiminger, a. a. O., S. 17 f.; Demko, a. a. O., S. 431 f.).
7.2.1 Bei der Verheimlichung der Identität des Zeugen gegenüber dem Angeklagten und/oder seinem Verteidiger handelt es sich um eine schwerwiegende Einschränkung des Konfrontationsrechts (vgl. Wohlers, a. a. O., S. 167). Der EGMR und das Bundesgericht haben gleichwohl - wie bereits erwähnt - die Verwertung von belastenden Aussagen anonym bleibender Zeugen mehrfach als zulässig bezeichnet, sofern die angeordneten Massnahmen verhältnismässig waren (Ziff. 7.1 vorstehend; Wohlers,
a. a. O., S. 171 m. H.).
Vorliegend ist von besonderer Bedeutung, dass einerseits die Identität des Zeugen gegenüber den Verfahrensbeteiligten verheimlicht wurde und dass überdies das Konfrontationsrecht insoweit eingeschränkt wurde, als sämtliche Einvernahmen des Zeugen unter optischer Abschirmung und gleichzeitiger akustischer Verfremdung gegenüber Angeschuldigtem und Verteidiger erfolgten. Diese Massnahmen stellen schon je für sich allein eine gravierende Einschränkung des Konfrontationsrechts dar (vgl. BGE 125 I 127 [S. 147 ff.] E. 8c und 8d); allerdings handle es sich nach Auffassung des Bundesgerichts bei der optischen und akustischen Abschirmung des Zeugen nicht um eine Einschränkung von grossem Gewicht, da sie noch immer die Zeugenbefragung mit den Vorteilen der unmittelbaren Beweisabnahme ermögliche (BGE 125 I 127 [S. 150] E. 7d a. E.). Dagegen wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, die völlige Anonymisierung verbunden mit optischer und akustischer Abschirmung führe zur Aushöhlung des Konfrontationsrechts im Kerngehalt (Schleiminger, a. a. O., S. 315 ff., 322; dies., Das Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, AJP 1999, S. 1223 ff., 1230 f.; vgl. auch Hinweise in ZR 103 Nr. 3 Erw. 4a).
7.2.3 Eine angemessene Kompensation (bzw. Beschränkung der Schutzmassnahmen) könnte, wie bereits angetönt, allenfalls darin liegen, dass zwar nicht der Angeschuldigte, wenigstens aber die Verteidigung unmittelbar an der Zeugenbefragung teilnehmen und anhand des Aussageverhaltens des Zeugen eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen bzw. der Glaubhaftigkeit seiner Aussagen vornehmen kann; auch diese Möglichkeit war vorliegend nicht gegeben, denn auch der Verteidiger konnte der Befragung des Zeugen nur akustisch (verzerrt) folgen. Dem hält das Geschworenengericht die Gefahr eines «unzumutbaren Spannungsfeldes» für den Verteidiger entgegen, tatsächlich verhält es sich hier nicht gleich wie beim Opferzeugen (vgl. § 14 Abs. 3 Satz 2 StPO), wo der Hintergrund der Schutzmassnahme ein anderer ist und der an der Befragung teilnehmende Verteidiger einem solchen Spannungsfeld nicht ausgesetzt ist, da der Opferzeuge dem Angeschuldigten in der Regel ohnehin bereits bekannt sein wird. Nichtsdestotro