Haftpflichtrecht
Wahrscheinlichkeit von 51 Prozent genügt nicht
Für die Einstufung als überwiegend wahrscheinlich genügt eine Wahrscheinlichkeit von 51 Prozent nicht. Das Bundesgericht schützt einen gleichlautenden kantonalen Entscheid und erachtet die Klage als aussichtslos.
Sachverhalt:
Eine Frau erlitt in den Jahren 1973 bis 1976 drei Unfälle, die dazu führten, dass ihr wegen eines Rückenleidens ab 1. Oktober 1978 eine Invalidenrente zugesprochen wurde. Verschlimmerungen des Gesundheitszustandes machte sie bei den diversen Rentenrevisionen geltend, so auch 1993 und 1995 .
Am 5. Oktober 1997 erlitt sie einen Verkehrsunfall. Ein entgegenkommendes Fahrzeug geriet auf die Gegenfahrbahn und kollidierte seitlich mit dem Fahrzeug, in welchem die Beschwerdeführerin auf dem vorderen Beisitz mitfuhr. Der am Folgetag konsultierte Arzt diagnostizierte eine «HWS-Distorsion mit Ausstrahlung in den linken Arm, Ellbogenkontusion links, Gurtenschmerzen, Thorax- und Bauchschmerz, Hypästhesien linker Arm, Kopfschmerzen, Ohrensausen» und Nackenschmerzen. Er bescheinigte bis auf weiteres eine Arbeitsunfähigkeit zu 100 Prozent. Gleichentags wurde eine radiologische Untersuchung durchgeführt.
Bald im Anschluss wurde eine reaktive Depression auf das Unfallereignis diagnostiziert. Die von der Beschwerdeführerin geklagten Beschwerden besserten nicht. Daraufhin wurden verschiedene medizinische Abklärungen getätigt und ein stationärer Therapieaufenthalt in einer Rehabilitationsklinik durchgeführt. Eine Verbesserung des geklagten Zustandes resultierte nicht.
Am 7. Oktober 2002 beauftragte die A. Versicherungsgesellschaft als Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers die B. mit der Erstattung eines Gutachtens zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin. Das Gutachten wurde von einem polydisziplinären Ärzteteam am 15. April 2004 erstattet. Die A. Versicherungsgesellschaft leistete der Beschwerdeführerin aufgrund des Unfalls Zahlungen von 45000 Franken. Am 5. Oktober 2005 belangte die Beschwerdeführerin die A. Versicherungsgesellschaft beim Kreisgericht Gaster-See und begehrte im Sinne einer Teilklage den Betrag von 570669 Franken.
Das Gericht holte zur Frage der Kausalität des Unfalls für die aktuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein gerichtliches Gutachten ein. Dieses wurde beim Ärzteteam der B. in Auftrag gegeben, das seinen Bericht am 22. Juni 2007 im Sinne eines Ergänzungsgutachtens zum Gutachten vom 15. April 2004 erstattete. Mit Entscheid vom 17.Dezember 2007 wies das Kreisgericht die Klage ab.
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen. Ferner beantragte sie die unentgeltliche Rechtspflege für das Berufungsverfahren. Mit Entscheid vom 13. August 2008 wies das Kantonsgericht, III. Zivilkammer (Vizepräsident), das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ab. Es beurteilte die Berufung als aussichtslos, da der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 5. Oktober 1997 und der Verschlimmerung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin aufgrund der Gutachten zu verneinen sei. Die Frau erhob Beschwerde ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
1. Angefochten ist ein Entscheid, mit dem die unentgeltliche Rechtspflege verweigert wurde. Dabei handelt es sich um einen Zwischenentscheid, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; Urteil 4A_350/2007 vom 3. Oktober 2007 E. 2; siehe auch BGE 129 I 129 E. 1.1).
2. Die Vorinstanz hat das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen, weil es deren Prozessbegehren als aussichtslos beurteilte. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe mit diesem Entscheid ihren Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nach Art. 29 Abs. 3 BV verletzt.
Nach dieser Verfassungsbestimmung hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege. Falls es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Prozessbegehren anzusehen, bei denen aufgrund einer summarischen Prüfung nach den Verhältnissen zur Zeit, zu der das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt wird, die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können.
Die Rüge einer Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV prüft das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei. Soweit es um tatsächliche Feststellungen der kantonalen Instanz geht, ist seine Prüfungsbefugnis auf Willkür beschränkt (BGE 134 I 12 E. 2.3; 133 III 614 E. 5, je mit Hinweisen).
Dabei ist es nicht seine Aufgabe, dem Sachgericht vorgreifend zu prüfen, ob das vom Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren gestellte Begehren zu schützen sei oder nicht. Bei der Abklärung, ob die fehlende Aussichtslosigkeit als Voraussetzung für einen grundrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege gegeben ist, hat das Bundesgericht lediglich zu prüfen, ob der vom Bedürftigen verfolgte Rechtsstandpunkt im Rahmen des sachlich Vertretbaren liegt oder nicht von vornherein unbegründet erscheint (BGE 119 III 113 E. 3a).
Die prognostische Beurteilung der Erfolgsaussichten eröffnet dem Sachgericht einen Beurteilungsspielraum, in den das Bundesgericht auch bei freier Prüfung der Rechtsfragen nur mit Zurückhaltung eingreift.
Erforderlich ist, dass das Sachgericht von anerkannten Rechtsgrundsätzen abgewichen ist, dass es Umstände berücksichtigt hat, die für die Prognose im Einzelfall keine Rolle spielen dürfen oder umgekehrt Umstände ausser Betracht gelassen hat, die hätten beachtet werden müssen (siehe BGE 133 III 201 E. 5.4 S. 211; 131 III 26 E. 12.2.2; 130 III 213 E. 3.1 S. 220).
3. Im Hauptverfahren ist streitig, ob zwischen der Verschlimmerung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin und dem Unfall vom 5. Oktober 1997 ein natürlicher Kausalzusammenhang gegeben ist oder nicht.
Die Vorinstanz stützte sich zur Beantwortung dieser Frage auf die in den Gutachten vom 15. April 2004 und 22. Juni 2007 dazu enthaltenen Aussagen der medizinischen Gutachter.
Sie erblickte darin eine klare gutachterliche Stellungnahme: Die Gutachter bescheinigten für eine Teilursächlichkeit des Unfalls eine blosse Wahrscheinlichkeit, die sie mit 51 Prozent bezifferten. Damit sei nicht mit der für das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlichen Bestimmtheit nachgewiesen, dass die Verschlimmerung des Zustands der Beschwerdeführerin auf den Unfall zurückzuführen sei.
4. Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Darlegungen der Vorinstanz zu den Einwendungen der Beschwerdeführerin gegenüber dem erstinstanzlichen Entscheid seien nicht überzeugend. Die Vorinstanz habe die Beweismassfrage (in Verletzung von Art. 8 ZGB) beantwortet und die vorliegenden Beweismittel anders interpretiert als die Beschwerdeführerin. Hier gehe es aber ausschliesslich darum, ob die Sache der Beschwerdeführerin aussichtslos sei.
Letzteres trifft zwar zu. Um jedoch beurteilen zu können, ob die Vorinstanz die Erfolgsaussichten der kantonalen Berufung zu Recht als nicht ernsthaft bezeichnet hat, muss geprüft werden, ob ihre Würdigung der vorhandenen Gutachten zur streitigen Frage der natürlichen Kausalität standhält und sie demzufolge die anders lautende Interpretation der Beschwerdeführerin als aussichtslos betrachten durfte.
4.1 Dies ist zu bejahen. Den Gutachtern wurde vom Gericht die Frage gestellt, in welchem Umfang die seit dem Unfall eingetretene Verschlimmerung auf das Unfallereignis vom 5. Oktober 1997 als Allein- oder Teilursache zurückzuführen sei und mit welchem Grad der Wahrscheinlichkeit (fast 100 Prozent; 70–80 Prozent; 51 Prozent; weniger als 49 Prozent) welche Verschlimmerungen auf das Unfallereignis zurückzuführen seien. Diese Frage beantworteten die Gutachter im gerichtlichen Gutachten vom 22. Juni 2007 wie folgt (S. 3):
«Wir Gutachter sind der Meinung, dass die Verschlimmerung mit neuen Beschwerden und Verstärkung der vorbestehenden Beschwerden auf das Unfallereignis vom 5. Oktober 1997 mit 51 Prozent Wahrscheinlichkeit als Teilursache zurückzuführen ist. Als Teilursache deshalb, weil in der Gesamtbeurteilung unfallfremde Faktoren mit zu berücksichtigen sind, die wir unter Frage 5 unseres Gutachtens, datiert vom 15. April 2004, detailliert beschrieben haben.»
Diese gutachterliche Aussage durfte von der Vorinstanz so aufgefasst werden, dass der Unfall vom 5. Oktober 1997 für die Verschlimmerung der Beschwerden zwar als Teilursache in Betracht fällt, dies aber nicht mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit, sondern eben nur mit 51 Prozent Wahrscheinlichkeit. Es trifft wohl zu, dass derUnfall nicht die einzige oder unmittelbare Ursache bilden muss; es genügt, wenn er eine Teilursache bildet (BGE 133 III 462 E. 4.4.2 S. 470 mit Hinweisen).
Indessen muss dies mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zutreffen. Das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gilt nach ständiger Rechtsprechung namentlich für den natürlichen Kausalzusammenhang (BGE 133 III 462 E. 4.4.2 S. 470 mit Hinweisen).
4.2 Die Beschwerdeführerin interpretiert die Gutachten in der Weise, dass die Gutachter aus-gesagt hätten, der Verschlimmerungsschaden sei zu 51 Prozent als Teilursache auf das Unfallereignis zurückzuführen, in diesem Ausmass aber sicher. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Gutachter wurden im gerichtlichen Gutachten vom 22. Juni 2007 klar nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit gefragt. Sie haben diese Frage mit der Angabe von 51 Prozent beantwortet und somit den Grad der Wahrscheinlichkeit angegeben und nicht den Ursachenanteil.
4.3 Dass die Vorinstanz ihrer Beurteilung ein unzutreffendes bundesrechtliches Beweismass zugrunde gelegt hätte, vermag die Beschwerdeführerin nicht dar zu tun. Sie vertritt zwar die Auffassung, eine 51-prozentige Wahrscheinlichkeit sei überwiegend.
Sie beruft sich auf ein Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 19. Oktober 2001 (U.50/2001). Die zitierte Judikatur sei sozialversicherungsrechtlich, müsse aber auch haftpflichtrechtlich gelten, weil sonst der Regress des Unfallversicherers in Frage gestellt wäre.
Aus dem zitierten Urteil muss nicht abgeleitet werden, dass eine 51-prozentige Wahrscheinlichkeit als überwiegend zu betrachten ist.
In diesem Fall kamen drei Möglichkeiten als Ursache für die Erkrankung in Betracht. Das EVG erwog, in einer solchen Situation sei jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die das Gericht von allen möglichen Geschehensabläufen als die Wahrscheinlichste würdige, wobei diese nicht notwendigerweise mindestens 50 Prozent (oder mehr als 50 Prozent) zu betragen habe (Erwägung 2b). In jenem Kontext ging es mithin um ein Gegenüberstellen mehrerer möglicher Geschehensabläufe und nicht um die Definition des Beweismasses der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gilt ein Beweis nach dem Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als erbracht, wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich in Betracht fallen (BGE 132 III 715 E. 3.1. S. 720; 130 III 321 E. 3.3 S. 325).
Dass die Vorinstanz das so definierte Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit unrichtig angewendet hätte, zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf. Im Übrigen haben vorliegend die Gutachter an anderer Stelle klar festgehalten, dass sie der Auffassung seien, ein kausaler Zusammenhang des jetzigen Beschwerdebildes der Beschwerdeführerin mit dem Unfall vom 5. Oktober 1997 sei wahrscheinlich, «jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich» (Gutachten vom 15. April 2004, S. 64).
4.4 Die Beschwerdeführerin wendet schliesslich ein, die Aussage der Gutachter im Gutachten vom 15. April 2004, S. 72, wonach sie den Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Versicherten mit wahrscheinlich, das heisst zirka 50 Prozent beurteilten, sei nicht einschlägig, da sich diese Beurteilung nicht auf den Verschlimmerungsschaden, sondern auf den Zustand der Beschwerdeführerin insgesamt, also auch auf den Vorzustand, beziehe. Die vage Antwort erkläre sich aus der unrichtigen Frage der Beklagten.
Die Vorinstanz hat zu diesem Einwand überzeugend Stellung genommen, namentlich indem sie ihn in den Kontext der weiteren Aussage der Gutachter stellte, wonach es ihnen nicht möglich sei, einen Zeitpunkt für einen status quo ante vel sine festzulegen, dies vor dem Hintergrund des Problems, dass nach den Gutachtern bereits vor dem Unfall ein chronifizierter Beschwerdekomplex mit psychischer Überlagerung festzustellen war, auf den sich die nach dem Unfall geklagten zusätzlichen Beschwerden bei ähnlicher Symptomatik und ebenso vorhandener psychischer Überlagerung aufgepfropft hätten.
Vor allem führt die Vorinstanz zu Recht an, dass die Gutachter im gerichtlichen Gutachten auf die präzisere Frage des Gerichts explizit erklärten, dass sie auch eine Teilkausalität des Unfalls für die Verschlimmerung des Leidens der Beschwerdeführerin nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 51 Prozent bewerteten. Diese Aussage bezieht sich mithin klar auf den Verschlimmerungsschaden.
6. Es besteht kein Grund, in die Beurteilung der Vorinstanz einzugreifen (siehe Erwägung 2 hiervor). Die Vorinstanz hat mithin Art. 29 Abs. 3 BV nicht verletzt, indem sie zufolge Aussichtslosigkeit der Begehren der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege abwies.
7. Demnach ist die Beschwerde abzuweisen. Die Beschwerdeführerin hat auch für das bundesgerichtliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht. Das Bundesgericht befreit eine bedürftige Partei, deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, auf Antrag von der Bezahlung der Gerichtskosten und von der Sicherstellung der Parteientschädigung. Nötigenfalls ist ihr ein Rechtsanwalt beizugeben (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Beschwerde aussichtslos ist. Da es bereits an der Erfolgsaussicht mangelt, erübrigt sich die Prüfung der weiteren Voraussetzungen. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht ist abzuweisen. Die Gerichtskosten sind damit von der unterliegenden Beschwerdeführerin zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
(Urteil 4A_397/2008 der I. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 23. September 2008)
Kommentar
Das Bundesgericht äussert sich in diesem Entscheid ein weiteres Mal zum herabgesetzten Beweismass der «überwiegenden Wahrscheinlichkeit» und versucht, dieses inhaltlich einzufangen. Der Beschwerdeführer hatte sich unter Hinweis auf das Urteil U 50/2001 auf die sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung berufen, wonach überwiegende Wahrscheinlichkeit quantitativ bei einer Möglichkeit von mehr als 50 Prozent liege.
Zu einem anderen Schluss kommt das aktuelle Urteil. Das Bundesgericht verneint das Vor-liegen «überwiegender Wahrscheinlichkeit» beim Nachweiseiner Möglichkeit von 51 Prozent. Gleichzeitig vermeidet es, «überwiegende Wahrscheinlichkeit» prozentual festzumachen; es wird vielmehr eine wenig klare und vom Regelbeweismass kaum unterscheidbare Formel angerufen. So soll das Beweismass «überwiegende Wahrscheinlichkeit» dann erfüllt sein, «wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich ins Gewicht fallen».
Diese Definition stammt beinahe wörtlich von Isabelle Berger-Steiner, welche überwiegende Wahrscheinlichkeit im Prozentvergleich zudem erst ab 75 Prozent Möglichkeit annehmen will. Diese Autorin tritt generell für eine Anhebung der Beweismasslimiten ein und trägt damit den bestehenden Beweisschwierigkeiten von Lebenssachverhalten zu wenig Rechnung (Isabelle Berger-Steiner, Das Beweismass im Privatrecht, Stämpfli, Bern 2008, S. 268 f.).
Ganz abgesehen davon, dass die neue bundesgerichtliche Formel wenig praktikabel ist und bei Expertenfragen kaum Eingang finden kann (man versuche eine entsprechende Fragestellung !), ist damit die Latte für das Erfüllen des Beweismasses «überwiegende Wahrscheinlichkeit» eindeutig zu hoch angesetzt.
Dies ergibt allein schon der Vergleich mit dem Umschrieb des Regelbeweismasses. Bei diesem wurde das erlaubte Mass an Zweifeln im Vergleich zur erforderlichen Überzeugung bislang mit zirka 20 Prozent angesetzt (Alfred Bühler,«Beweismass und Beweiswürdigung bei Gerichtsgutachten», in: Fellmann/Weber, [Hrsg.], Der Haftpflichtprozess: Tücken in dergerichtlichen Schadenerledigung, Zürich 2006, S. 39; Peter Beck, «Die Beweisführung im Haftpflichtrecht», in: Murer, [Hrsg.], Freiburger SRT 2006: Nicht objektivierbare Gesundheitsbeeinträchtigungen, Bern 2006, S. 227 ff.).
Behilft man sich dieser Prozentvergleiche, so zeigt sich, dass überwiegende Wahrscheinlichkeit ab 75 Prozent, Regelbeweismass ab 80 Prozent vorherrschen soll. Damit wird die Dreiteilung der Beweismasse (Regelbeweismass, überwiegende Wahrscheinlichkeit, Glaubhaftmachen) faktisch aufgelöst; das in der Praxis wichtige Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit steckt in einem engen5-Prozent-Korsett; der Bereich von Wahrscheinlichkeiten über 50 Prozent bis zu 75 Prozent bleibtdaneben unbeachtet.
Das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit muss – anders als vom Bundesgerichtaktuell definiert – eine deutlich wahrnehmbare Beweisprivilegierung beinhalten und klar unterhalb des Regelbeweismasses angesetzt werden. Dies lässt sich an einem Beispiel schlüssig aufzeigen: Das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit kommt ins-besondere bei naturgemäss schwer nachweisbaren Sachverhalten zum Zug, so etwa der Nachweis eines künftigen Karriereverlaufs im Haftpflichtrecht.
Ein solcher kann nie derart dicht nachgewiesen werden, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich ins Gewicht fallen. Fordert man von einem Geschädigten einen solchen Nachweis ab, so muss er zwangsläufig damit scheitern, was faktisch einem Beweisverbot gleichkäme.
Zutreffend und interessant ist hingegen der im Urteil U 50/2001 aufgenommene und vom Bundesgericht jetzt implizit bestätigte Ansatz, bei mehreren Verläufen die überwiegende Wahrscheinlichkeit relativ – nämlich nach Anzahl der verschiedenen Möglichkeiten – zu bemessen. Spielen bei einer Kausalitätsfrage drei Ursachen mit und liegen zwei mit einer Wahrscheinlichkeit von je 30 Prozent, eine indessen mit 40 Prozent vor, so ist letztere im Vergleich mit den anderen überwiegend wahrscheinlich (siehe E. 4.3). Diese den Gesetzen der Logik folgende Ableitung ist stringent, stimmt aber wiederum inhaltlich nicht mit der vom Bundesgericht zu strengen Formel überein, zumal hier andere Varianten vernünftigerweise ebenfalls möglich sind. Herausforderung bleibt, wie die Anzahl der in Frage kommenden Ursachen bestimmt wird, zum Beispiel beim Vorliegen von Unfall, mehreren Krankheiten und psychosozialen Belastungsmomenten.
Fazit: Halten wir es weiterhin mit der Logik: Bei zwei möglichen Verläufen ist derjenige überwiegend wahrscheinlich, der in der Waagschale mehr als 50 Prozent wiegt, weshalb die einfache Formel «überwiegende Wahrscheinlichkeit = über 50 Prozent Möglichkeit» nach wie vor ihre Geltung haben sollte.
David Husmann, Rechtsanwalt
Prozessrecht
Im Grenzfall Anspruch auf Rechtsbeistand
Einem Mann, der die Entlassung aus der psychiatrischen Klinik verlangte, wurde die unentgeltliche Rechtsverbeiständung verweigert – zu Unrecht. Er konnte das Gesuch nur mit Hilfe eines Stationsleiters schreiben. Es lag daher ein Grenzfall vor, bei welchem zugunsten der betroffenen Person zu entscheiden ist.
Sachverhalt:
Ein Mann wurde am 23. Juni 2008 vorsorglich in die Psychiatrische Klinik Luzern eingewiesen. Ein Austrittsgesuch des Beschwerdeführers vom 1. Juli 2008 wies die Klinikleitung der Luzerner Psychiatrie am 2. Juli 2008 ab. Am 11 . Juli 2008 hiess die delegierte Richterin des Amtsgerichtspräsidenten II von Luzern-Stadt die vom Beschwerdeführer dagegen erhobene Beschwerde gut, weshalb er aus der Klinik zu entlassen war.
Sein Gesuch um Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistands wurde abgewiesen. Gegen diesen Entscheid erhob der Beschwerdeführer am 27. Juli 2008 beim Obergericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Aus den Erwägungen:
Ein unentgeltlicher Rechtsbeistand ist zu ernennen, wenn die Art der Streitsache es rechtfertigt (§ 204 Abs. 2 VRG). § 204 Abs. 2 VRG stimmt mit der in Art. 29 Abs. 3 BV festgehaltenen Minimalgarantie überein. Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat die bedürftige Partei Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen.
Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (BGE 128 I 225, 232 E. 2.5.2; 122 I 49, 51 E. 2c/bb; 122 I 275, 276 E. 3a; 120 Ia 43, 44 f. E. 2a, mit Hinweisen).
Dass das entsprechende Verfahren von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird, schliesst die unentgeltliche Verbeiständung nicht aus (BGE 122 I 8; 125 V 32, 336 E. 4b). Ein geistiges Gebrechen der betroffenen Person lässt indes für sich allein noch nicht auf deren Unfähigkeit schliessen, sich im Verfahren zurechtzufinden. In den Verfahren betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehung leiden die Betroffenen in der Regel an derartigen gesundheitlichen Störungen, wobei sich aber immer wieder zeigt, dass sie dennoch ihre Rechte im Zusammenhang mit der Anstaltseinweisung ausreichend wahrnehmen können (Spirig, Zürcher Komm., N 63 zu Art. 397d ZGB).
In Fällen, wo das Verfahren besonders stark in die Rechtsstellung der betroffenen Person eingreift, muss die unentgeltliche Verbeiständung grundsätzlich geboten sein (BGE 119 Ia 264, 265 E. 3b). Nichts anderes ergibt sich aus Art. 397f Abs. 2 ZGB, wonach das Gericht dem Betroffenen «wenn nötig» einen Beistand zu bestellen hat.
Auch wenn nach dem Gesagten eine rechtskundige Verbeiständung nicht generell geboten ist, muss angesichts der Schwere des Eingriffs bei Grenz- und Zweifelsfällen eher zugunsten der betroffenen Person entschieden werden (Urteil des Bundesgerichts 5A_368/2007 vom 18. September 2007 E. 3).
3.2 Gestützt auf diese Grundsätze hat das Bundesgericht eine gegen die Verweigerung der unentgeltlichen Verbeiständung erhobene Beschwerde gut geheissen, weil die Schwere der geistigen Störung begründete Zweifel aufkommen liess, dass die Betroffene auf sich allein gestellt in der Lage gewesen wäre, ihre Rechte vor Gericht wahrzunehmen (Urteil des Bundesgerichts 5A_393/2006 vom 08. November 2006 E. 2.3).
Eine weitere Gutheissung erfolgte in einem ähnlich gelagerten Fall, wobei hier die Schwere der geistigen Störung auf die Unfähigkeit zur selbständigen Wahrung der Interessen vor Gericht schliessen liess (Urteil des Bundesgerichts 5A_368/2007 vom 18. September 2007 E. 3.2).
In einem weiteren Fall wurde Art. 29 Abs. 3 BV als verletzt betrachtet, weil die Schwierigkeit beim Abfassen einer formell korrekten Beschwerde nicht zu unterschätzen war und die wirksame Anfechtung auf Grund widersprüchlicher Grundlagen nicht einfach erschien (Urteil des Bundesgerichts 5A_595/2007 vom 26. November 2007 E. 3.2; zu widersprüchlichen Gutachten: siehe auch Urteil 5A_90/2008 vom 08. April 2008 E. 3).
3.3 Die Vorinstanz stellte zu Recht fest, dass das Rechtsbegehren des Beschwerdeführers nicht aussichtslos sei und dass er als bedürftig gelte. Sie verweigerte die Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistands mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe das begründete Austrittsgesuch und die Beschwerde vom 4. Juli 2008 – wenn auch mit Hilfe des Stationsleiters – selber geschrieben.
Anlässlich der Anhörung vom 11. Juli 2008 habe er sich klar, verständlich und kohärent zu seiner Einweisung, den Therapien und seiner Behandlungsbedürftigkeit geäussert. Komplexe Rechts- oder Sachverhaltsfragen, zu deren Bewältigung der Beschwerdeführer eines Rechtsbeistands bedurft hätte, um sich im Verfahren zurechtzufinden, seien nicht erkennbar. Dazu ist festzustellen, dass aus den Äusserungen anlässlich der Verhandlung nicht zwingend auf das Vermögen, seine Rechte im Verfahren wirksam wahrnehmen zu können, geschlossen werden kann (Urteil des Bundesgerichts 5A_90/2008 vom 8. April 2008 E. 3.1).
Es ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer an Schizophrenie leidet und ein psychotisches Zustandsbild mit Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen, zerfahrenem Denken und wahnhaften Denkinhalten zeigt.
Daran ändert nichts, dass er sich vordergründig besonnen geben kann und sich beispielsweise bei der Begutachtung durch Dr. Hans Knüsel, abgesehen von einer in einem affektstarren Zustand eigenartiger Seelenruhe, keine Hinweise für inhaltliche Denkstörungen ergaben.
Der gesundheitliche Zustand des Beschwerdeführers stellt eine wesentliche Einschränkung bei der Wahrung seiner Rechte im Verfahren dar. Es ist zwar zutreffend, dass sich im Fall des Beschwerdeführers keine komplexen Rechts- oder Sachfragen stellten. Trotzdem ist in seinem Fall ein gewisses Ausmass an klarem Denkvermögen erforderlich, um sich mit den medizinischen Gutachten auseinanderzusetzen und die entsprechenden Rechtsbegehren zu stellen.
Das rationale Denkvermögen des Beschwerdeführers erscheint insbesondere bezüglich dem Verständnis über das eigene Leiden stark eingeschränkt. Er war denn auch nicht in der Lage, sein Austrittsgesuch und seine Beschwerde allein zu schreiben; er benötigte die Hilfe des Stationsleiters.
Beim Beschwerdeführer ist zumindest ein Grenzfall gegeben, bei welchem zu Gunsten der betroffenen Person zu entscheiden ist (Urteil des Bundesgerichts 5A_90/2008 vom 8. April 2008 E. 2.3). Die Beschwerde ist somit gut zu heissen und dem Beschwerdeführer für das amtsgerichtliche Verfahren Rechtsanwalt Roger Burges als unentgeltlicher Rechtsbeistand bei zu geben.
(Urteil 30 08 14 der II. Kammer des Obergerichts des Kantons Luzern vom 8. August 2008)
Strafprozess
Überwachungskosten zu Unrecht auferlegt
Die Kosten der Telefonüberwachung könne einem Angeschuldigten nicht auferlegt werden, wenn ihm die Überwachung nie mittels Verfügung mitgeteilt worden ist. Die Büpf sieht eine solche vor. Das entschied das Kassationsgericht des Kantons Zürich in einem aktuellen Urteil.
Sachverhalt:
Eine Strafuntersuchung gegen einen Mann betreffend Übergabe von einem Kilogramm Heroin wurde eingestellt, gleichzeitig wurde Anklage erhoben wegen fahrlässiger Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) und mehrfacher Geldwäscherei. Der Mann wurde am 17. Juni 2004 vom Bezirksgericht Zürich schuldig gesprochen und es wurden ihm Kosten auferlegt.
Er focht die Kostenauflage am Obergericht des Kantons Zürich und schliesslich am Kassationsgericht des Kantons Zürich an. Dieses hiess die Nichtigkeitsbeschwerde mit Beschluss vom 31. März 2006 gut und wies die Sache ans Obergericht zurück. In der Folge hiess das Obergericht den Rekurs des Mannes teilweise gut und nahm einen Teil der Kosten auf die Staatskasse. Der Mann erhob erneut kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ans Kassationsgericht.
Aus den Erwägungen:
II.3.2a) Wird der Angeklagte des ihm vorgeworfenen Delikts schuldig gesprochen, so ist davon auszugehen, dass er das Verfahren selbst verschuldete, das heisst das Tätigwerden der Justiz und die dadurch bewirkten Kosten selbst verursachte und deshalb die dem Staat erwachsenen Kosten zu tragen hat.
Im Normalfall hat der Verurteilte die gesamten Kosten, bestehend aus den besonderen Kosten der Untersuchung und des Gerichtsverfahrens, zu tragen. Dabei gilt der Grundsatz, dass dem Verurteilten nur jene Kosten auferlegt werden können, deren Entstehung die adäquate Folge des deliktischen Verhaltens bilden (Schmid, a.a.O., N 1 zu § 188). Unnötige Kosten sind dem Verurteilten nicht aufzuerlegen.
Es sind dies Kosten, deren Entstehung nicht die adäquate Folge des deliktischen Verhaltens des Verurteilten waren. Dies ist der Fall, wenn eindeutig unnötige, schon bei einer Betrachtungsweise ex ante unbehelfliche oder gar klarerweise fehlerhafte Untersuchungshandlungen vorgenommen werden (Schmid, a.a.O.).
b) In den häufigen Fällen, in welchen die Strafuntersuchung mehrere Delikte umfasst und nur bezüglich einiger Anklage erhoben wird, bezüglich der anderen jedoch eingestellt wird, hat – soweit dies geboten erscheint – eine effektive oder quotenmässige Kostenausscheidung auf den eingestellten oder angeklagten Teil der Strafuntersuchung zu erfolgen (siehe Schmid, a.a.O., N 39 zu § 42; Zindel, Kosten- und Entschädigungsfolgen im Strafverfahren des Kantons Zürich, Dissertation, Zürich 1972, S. 45).
Die Kosten können effektiv ausgeschieden werden, wenn eindeutig feststeht, dass die entsprechenden Untersuchungshandlungen ausschliesslich und unmittelbar im Zusammenhang mit dem eingestellten oder angeklagten Deliktsvorwurf entstanden sind. Betrafen die fraglichen Untersuchungshandlungen aber nicht nur den eingestellten, sondern auch den angeklagten Teil der Strafuntersuchung, weisen der eingestellte und angeklagte Untersuchungskomplex mithin einen Zusammenhang auf, hat eine (approximative) quotenmässige Kostenausscheidung zu erfolgen (siehe Schmid, a.a.O. und Zindel, a.a.O.).
3.3 Mit der Vorinstanz ist (insoweit unangefochten) fest zu halten, dass der eingestellte Teil der Strafuntersuchung und die angeklagten Straftaten zu einem einheitlichen Gesamtkomplexgehörten, nämlich der Tätigkeit eines Drogenhändlerrings. Weiter dienten – von zwei Ausnahme abgesehen (siehe nachstehend lit. b und c) – alle in den Akten dokumentierten Untersuchungshandlungen dazu, die einzelnen Tatbeiträge abzuklären, welche der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang geleistet hatte.
b) Ein chemisch-toxikologisches Gutachten des IRM dient der Sache nach ausschliesslich der Abklärung von Drogenkonsum. Für die Abklärung des deliktischen Verhaltens des Beschwerdeführers (Verdacht auf Drogenhandel) war es nicht erforderlich. Die Kosten für diese Untersuchungshandlung (594 Franken) erweisen sich daher nicht als adäquat kausal und können dem Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren nicht auferlegt werden. Hinsichtlich dieses Kostenpunktes erweist sich die Rüge als begründet.
c) Das Gleiche gilt für die ärztliche Untersuchung des IRM. Sie diente ebenfalls ausschliesslich der Abklärung von Drogenkonsum, wie aus dem Bericht selber hervorgeht (siehe BG act. 17/2). Es handelte sich also nicht um eine körperliche Untersuchung im engeren Sinne, bei welcher der Verdacht auf Drogenhandel (zum Beispiel Transport von sogenannten «bodypackages») im Vordergrund steht. Die Kosten für diese Untersuchungshandlung erweisen sich daher ebenfalls nicht als adäquat kausal und können dem Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren nicht auferlegt werden. Hinsichtlich dieses Kostenpunktes erweist sich die Rüge als begründet.
3.4a) In einem weiteren Beschwerdeabschnitt rügt der Beschwerdeführer, die Kosten der Telefonüberwachung könnten ihm mangels der gesetzlich vorgesehenen Eröffnung nicht auferlegt werden (siehe KG act. 1 S. 8, Ziff. 5.4). Die Gesetzeskonformität einer Telefonüberwachung sei erst dann gegeben, wenn der überwachten Person die Überwachung mitgeteilt worden sei und diese dagegen nicht Beschwerde erhoben habe oder die Beschwerde abgewiesen worden sei.
Werde eine Strafuntersuchung durch Anklage an das Gericht abgeschlossen, müsse die Mitteilung vor Anklageerhebung erfolgen. Die Mitteilung habe in Formeiner formellen fristauslösenden Verfügung mit Rechtsmittelbelehrung zu erfolgen. Eine nachträgliche Mitteilung dürfe nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen erfolgen und bedürfe der Zustimmung der Genehmigungsbehörde.
Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Mitteilung seien hier nicht erfüllt. Die bei den Akten liegenden Telefonüberwachungen seien dem Beschwerdeführer nicht eröffnet worden. Eine nicht eröffnete Verfügung entfalte keine Rechtswirkungen. Die Kosten der nicht gesetzeskonform durchgeführten und mitgeteilten Telefonüberwachung dürften ihm deshalb nicht auferlegt werden (siehe KG act. 1, S. 7–8). Die diesbezügliche Argumentation der Vorinstanz – so der Beschwerdeführer weiter – überzeuge nicht.
Die Unterlassung der Mitteilung könne nicht als Missachtung einer blossen Ordnungsvorschrift qualifiziert werden. Die Unterlassung bewirke vielmehr, dass zu-folge der Beschneidung der gesetzlich vorgesehenen Überprüfungsmöglichkeit offen bleiben müsse, ob die Telefonüberwachung rechtmässig gewesen sei oder nicht. Damit sei ungeklärt, ob es sich bei den Telefonüberwachungen um rechtskonforme oder rechtswidrige Untersuchungshandlungen handle. Die Auferlegung der diesbezüglichen Kosten komme deshalb nicht in Frage (siehe KG act. 2, S. 8, Ziff. 5.5).
b) Die Rüge ist begründet. Die nachträgliche Mitteilung der Überwachung soll sicherstellen, dass der Überwachte Beschwerde wegen fehlender Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit der Überwachung erheben kann (siehe Art. 10 Abs. 2 und 5 Büpf).
Da die Beschwerde innert 30 Tagen seit Mitteilung der Überwachung erhoben werden muss, ist eine formelle fristauslösende Verfügung mit Rechtsmittelbelehrung erforderlich (siehe Hansjakob, Kommentar zum Büpf/Vüpf, 2. Auflage, St. Gallen 2006, N 23 zu Art. 10 m.H. auf BGE 1P_15/2003 vom 14. Februar 2003).
Eine solche förmliche Mitteilung ist nicht erfolgt. Dem Beschwerdeführer war es somit nicht möglich, im vom Büpf vorgesehenen Verfahren die Überwachung seines Mobiltelefonverkehrs wegen fehlender Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit anzufechten. Hätte er eine solche Beschwerde erhoben und wäre er damit erfolgreich gewesen, so wären die Kosten der rechtswidrigen/ unverhältnismässigen Überwachung vom Staat zu tragen gewesen (siehe Hansjakob, a.a.O., N 51 zu Art. 10 m.H.). Es geht nicht an, dem Beschwerdeführer Kosten einer Telefonüberwachung aufzuerlegen, obwohl es ihm verunmöglicht wurde, deren Rechtswidrigkeit/Unverhältnismässigkeit im Rahmen des vom Büpf statuierten Verfahrens geltend zu machen.
Es wäre für die Staatsanwaltschaft ein Leichtes gewesen, durch Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften sicherzustellen, dass die Kosten der Überwachung des Telefonverkehrs des Beschwerdeführers diesem überbunden werden könnten.
Aus diesem Grund können die mit der Telefonüberwachung verbundenen Kosten (8872 Franken [Uvek] und 5200 Franken [Kapo]) nicht dem Beschwerdeführer auferlegt werden, sondern sind auf die Staatkasse zu nehmen.
4. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Kosten für das chemisch-toxikologische Gutachten des IRM (594 Franken) und die ärztliche Untersuchung des IRM (213.20 Franken) mangels Adäquanz dem Beschwerdeführer nicht auferlegt werden können.
Weiter können dem Beschwerdeführer die Kosten der Telefonüberwachung aus den genannten Gründen ebenfalls nicht auferlegt werden. Das Total Barauslagen «17279.20 Franken Auslagen Untersuchung» gemäss Dispositiv-Ziff. 1./4. des angefochtenen Entscheids ist somit mit mehreren Nichtigkeitsgründen im Sinne von § 430 Abs. 1 Ziff. 6 StPO behaftet. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Nach § 437 StPO fällt das Kassationsgericht einen neuen Sachentscheid.
Die im vorliegenden Verfahren ebenfalls strittige Kostenposition «Transporte 1600.– Franken» bildet Bestandteil des Kostentotals «17279.20 Franken Auslagen Untersuchung» gemäss Dispositiv-Ziff. 1./4. des angefochtenen Entscheids (siehe KG act. 2, S. 14). Da hinsichtlich dieser Disp.-Ziff. 1./4. ein neuer Sachentscheid zu fällen ist, braucht nicht geprüft zu werden, ob die Vorinstanz in diesem Zusammenhang einen weiteren Nichtigkeitsgrund gesetzt hat.
Über die Rechtmässigkeit der Kostenauflage dieser Position ist im Rahmen des Sachentscheids zu befinden (nachfolgend E. III.) und auf die entsprechenden Beschwerdevorbringen (KG act. 1, S. 10 –11, Ziff. 7) ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen.
III.1.a) Aus dem Kostenblatt (BG act. 23) ergibt sich, dass sich die Transportkosten von Total 1600 Franken aus 16 Transporten à 100 Franken zusammensetzen. Die Vorinstanz erachtete eine Pauschale von 100 Franken pro Transport aufgrund des jeweiligen durchschnittlichen Aufwandes des Transportdienstes der Kantonspolizei als ausgewiesen (siehe KG act. 2 S. 13).
b) Mit der Änderung der Verordnung über die Gebühren- und Entschädigungsansätze der Strafverfolgungsbehörde vom 28. November 2007 (LS 323.1, in Kraft seit 1. Januar 2008, anwendbar auf im Zeitpunkt des Inkrafttretens hängige Verfahren [Ziffer II Übergangsbestimmungen]) wurden (unter anderem) die bisherigen §§ 7–10 aufgehoben.
Die im (bisherigen) § 7 angeführten Barauslagen werden damit nicht mehr erwähnt, weil bereits § 201 Ziff. 2 GVG bestimmt, dass die Parteien nach Massgabe der Bestimmungen über die Kostenauflage Auslagen (wie Entschädigungen für Zeugen und Sachverständige, Unkosten bei Augenschein) zu bezahlen haben (siehe ABI 2007, S. 2226-2230). Diese Aufzählung in § 201 Ziff. 2 GVG ist nicht abschliessend. Die Auslagen der Untersuchungsbehörde sind somit vom Verurteilten zu bezahlen, sofern sie der Untersuchungsbehörde von Dritten für berechtigte Leistungen in Rechnung gestellt wurden.
Unklar ist zunächst, weshalb und inwieweit der Transportdienst der Kantonspolizei Zürich «als Dritte» der Untersuchungsbehörde Leistungen in Rechnung stellen sollte.
Es geht mit anderen Worten beim Transportdienst um eine spezielle Tätigkeit geht und nicht um eine gewöhnliche Verrichtung im Rahmen der allgemeinen polizeilichen Tätigkeit, welche durch eine Staatsgebühr im Sinne von § 1 Abs. 1 und 2 der Verordnung über die Gebühren- und Entschädigungsansätze der Strafverfolgungsbehörde vom 28. November 2007 abgegolten wäre.
Weiter ist eine Pauschalisierung von Auslagen nur in vertretbarem Rahmen zulässig (siehe Schmid, a.a.O., N 12 zu § 42 a.E.). Aus den Akten ergibt sich zwar – wie die Vorinstanz erwog –, dass der Beschwerdeführer während seiner Haftzeit achtmal durch die Kantonspolizei Zürich («Kripogebäude» an der Zeughausstrasse) oder die Staatsanwaltschaft und damals die Bezirksanwaltschaft II für den Kanton Zürich (Neue Börse Selnau) einvernommen wurde.
Der Beschwerdeführer war – soweit ersichtlich – zunächst im Polizeigefängnis Zürich (Kasernenstrasse) und anschliessend im Gefängnis Zürich (Rotwandstrasse) inhaftiert (siehe BG act. 2117-8). Im Rahmen der 16 Transporte (Hin- und Rückwege) wurden folglich unterschiedlich lange Distanzen in der Grössenordnung von (wenn überhaupt) wenigen Kilometern zurückgelegt. So gesehen lässt sich eine Pauschale von 100 Franken pro Transport nicht rechtfertigen. Mangels Belegen sind keine Detailangaben über mögliche weitere Kosten bekannt, namentlich ist unklar, ob und inwieweit Personalkosten entstanden, weil es sich beim Transportdienst nicht um eine gewöhnliche Verrichtung im Rahmen der allgemeinen polizeilichen Tätigkeit handelt.
Die Transportkosten können nach dem Gesagten nicht als ausgewiesen betrachtet werden und sind auf die Staatskasse zu nehmen.
(Sitzungsbeschluss AC070020 des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 25. August 2008)
Opferhilfe
Zeitpunkt des Erfolgseintritts massgebend
Das Bundesgericht hat entschieden, dass in der Opferhilfe für den Zeitpunkt der Begehung einer Straftat entscheidend ist, wann der Erfolg eingetreten ist. Damit kann eine Entschädigung auch für Taten geltend gemacht werden, die sich vor Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes ereignet haben.
Sachverhalt:
Ein Mann reichte am 18. Juli 2006 bei der kantonalen Opferhilfestelle der Direktion des Innern des Kantons Zürich ein Gesuch um Opferhilfe (Entschädigung und Genugtuung in noch zu bestimmender Höhe) ein. Gleichzeitig beantragte er die Sistierung des Gesuchs, da der Schaden und das Genugtuungsgesuch bei Gesuchseinreichung noch nicht beziffert werden konnten. Er begründete sein Gesuch damit, dass er seit Dezember 2005 an einem malignen Mesotheliom leide. Dieses führte er auf seinen ungeschützten Umgang mit Asbest zurück, als er in den Jahren 1963 bis 1967 als Elektromonteurlehrling gearbeitet habe.
Mit Verfügung vom 2. August 2006 trat die Opferhilfestelle auf das Gesuch um Genugtuung und Entschädigung nicht ein, da die mutmassliche Straftat vor dem Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes am 1. Januar 1993 begangen worden sei. Gegen die Verfügung der Opferhilfestelle führte der Mann Beschwerde am Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Das Sozialversicherungsgericht wies seine Beschwerde mit Urteil vom 7. Januar 2008 ab. Die Witwe des inzwischen verstorbenen Mannes erhob am 13. Februar 2008 Beschwerde ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
3.1 Nach Art. 12 Abs. 3 OHV gelten die Bestimmungen des Opferhilfegesetzes über die Entschädigung und Genugtuung (Art. 11–17 OHG) nur für Straftaten, die nach dem Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes am 1. Januar 1993 begangen wurden. Diese Formulierung von Art. 12 Abs. 3 OHV lässt nach Auffassung der Vorinstanzen keinen Raum für eine Anspruchsberechtigung auf Entschädigung und Genugtuung, wenn eine strafbare Handlung vor 1993 begangen wurde und nur der Erfolg nach Inkrafttreten des OHG eingetreten ist.
4. Das Bundesgericht hat mit Urteil 1A.139/1997 vom 10. November 1997 entschieden, dass Art. 12 Abs. 3 OHV auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage in Art. 19 Abs. 2 OHG beruhe. Mit Art. 19 Abs. 2 OHG wird der Bundesrat ermächtigt, den Zeitpunkt des Inkrafttretens des OHG festzulegen.
Diese Ermächtigung umfasst nach der Rechtsprechung die Kompetenz, den zeitlichen Geltungsbereich des OHG differenziert aus zu gestalten. Von dieser Kompetenzdelegation hat der Bundesrat beim Erlass von Art. 12 OHV in bundesrechtskonformer Weise Gebrauch gemacht (siehe erwähntes Urteil des Bundesgerichts 1A.139/1997 vom 10. November 1997 E. 4). Auf diese Rechtsprechung zurückzukommen, besteht auch unter Berücksichtigung der Kritik der Beschwerdeführerin kein Anlass.
5. Zu prüfen ist im Hinblick auf die erst rund vierzig Jahre nach der geltend gemachten Asbestexposition aufgetretene schwere Erkrankung, in welchem Zeitpunkt die mutmassliche Straftat gegen den verstorbenen Ehemann der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 12 Abs. 3 OHV «begangen» wurde.
Die Vorinstanzen verstehen unter der Begehung der Straftat im Sinne von Art 12 Abs. 3 OHV den Zeitpunkt, an dem der mutmassliche Täter die strafbare Handlung oder Tätigkeit ausgeführt hat. Sie halten somit den Zeitpunkt des tatbestandsmässigen Verhaltens und nicht den Zeitpunkt des Eintritts des zur Vollendung eines Delikts erforderlichen Erfolgs für massgebend.
Diese Auffassung entspricht der im Strafrecht vorherrschenden täterbezogenen Betrachtungsweise, welche unter anderem dazu führt, dass fahrlässige Erfolgsdelikte verjähren können, bevor der tatbestandsmässige Erfolg eingetreten und somit der Straftatbestand erfüllt ist (zum Ganzen: zur Publikation bestimmtes Urteil des Bundesgerichts 6B_627/2007 vom 11. August 2008 E. 4.2 und 4.3 mit zahlreichen Hinweisen). Aufgrund der von der Beschwerdeführerin erhobenen Rügen ist zu prüfen, ob die dargelegte, von der strafrechtlichen Betrachtungsweise beeinflusste Auffassung der Vorinstanzen mit dem Opferhilferecht vereinbar ist.
5.1 Das geltende Opferhilferecht des Bundes enthält keine Definition des Begriffs der Begehung der Straftat. Auch das revidierte Opferhilfegesetz vom 23. März 2007, das auf den 1. Januar 2009 in Kraft tritt (AS 2008 1607 ff.), bringt diesbezüglich keine Klärung. Das Bundesgericht hatte noch nie zu beurteilen, in welchem Zeitpunkt eine Straftat «begangen» wurde, wenn das tatbestandsmässige Verhalten vor Inkrafttreten des OHG erfolgte und der strafrechtlich relevante Erfolg nach dessen Inkrafttreten eintrat.
5.3 Das Opferhilferecht geht auf eine Volksinitiative der Zeitschrift «Der Schweizerische Beobachter» aus dem Jahr 1980 zurück, welche ein Gesetz über eine Entschädigung von Opfern von Straftaten gegen Leib und Leben durch den Staat forderte. Ein dieser Volksinitiative gegenüber gestellter inhaltlich weitergehender Gegenvorschlag der Eidgenössischen Räte wurde am 2. Dezember 1984 in der Volksabstimmung mit grosser Mehrheit angenommen (Art. 64ter aBV).
Die Verfassungsbestimmung wurde in die neue Bundesverfassung vom 18. April 1999 mit nur wenigen redaktionellen Anpassungen als Art. 124 BV übernommen (Peter Gomm/Dominik Zehntner, Kommentar zum OHG, 2. Auflage, Bern 2005, Einleitung, N. 13 ff.; Luzius Mader, St. Galler Kommentar, 2. Auflage, Zürich 2008, Art. 124 BV N. 1).
Nach dem Übergang des Strafanspruchs auf den Staat hat sich dieser vorwiegend mit den Tätern auseinandergesetzt und dabei für diese umfangreiche Mittel unter anderem für das Strafverfahren, den Strafvollzug und die Resozialisierung von Straftätern aufgewendet (Täteroptik des Strafrechts). Das Opferhilferecht wurde demgegenüber nach international verbreiteter Erkenntnis, dass die Opferinteressen im Strafrecht nur mangelhaft beachtet wurden, auf die Milderung der Folgen einer Straftat für das unfreiwillig davon betroffene Opfer ausgerichtet.
Das Opferhilferecht strebt mit seinem opferbezogenen Ansatz einen Ausgleich des täterbezogenen staatlichen Engagements zugunsten der Opfer an. Opfer von Straftaten und deren nahe Angehörige erleiden vielfach über den unmittelbaren Schaden hinaus gehende erhebliche und unter Umständen langwierige Beeinträchtigungen, die durch die Strafverfolgung mitunter eher noch verschlimmert als gelindert werden. Die Stellung des Opfers wurde innerhalb und ausserhalb des Strafverfahrens gestärkt. Seine Probleme und Bedürfnisse nach einer Straftat sollten mehr beachtet werden.
Diesen Anliegen dient das Gesetz mit den drei Hauptpfeilern der Beratung, des Ausbaus der verfahrensrechtlichen Stellung des Opfers sowie der Entschädigung und Genugtuung durch den Staat (Botschaft des Bundesrats zum OHG vom 25. April 1990, in BBl 1990 II 964 ff.; Eva Weishaupt, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des OHG, Diss. Zürich, 1998, S. 3 ff.,Peter Gomm/Dominik Zehntner, a.a.O., Einleitung N. 5 ff.).
5.6 Der beschriebene opferbezogene Ansatz lässt erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der von den Vorinstanzen vertretenen Argumentation zum zeitlichen Geltungsbereich des OHG aufkommen.
Zwar handelt es sich beim gesetzlich nicht geregelten zeitlichen Geltungsbereich des OHG nicht um die gleiche Problemstellung wie bei der Frage der Rechtzeitigkeit eines Gesuchs um Entschädigung oder Genugtuung. Indessen wird das Opferhilferecht insgesamt von einer opferbezogenen Betrachtungsweise beherrscht, weshalb auch der zeitliche Geltungsbereich aus der Opferperspektive zu beurteilen ist.
In der Literatur wird dargelegt, ein Delikt, dessen Begehung aus strafrechtlicher Sicht vor dem Inkrafttreten des Gesetzes liege, dessen schwerwiegende Folgen jedoch wegen einer langen Inkubationszeit erst danach aufträten, könne aus opferhilferechtlicher Sicht in der Weise beurteilt werden, dass von einer eigentlichen Tatbegehung erst im Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit gesprochen werden könne (zum Beispiel Auftreten von Krebs nach einer Asbestexposition).
Art. 12 Abs. 3 OHV sei im Hinblick auf die Opferbezogenheit des OHG nicht nachvollziehbar. Für ein Opfer sei eine Straftat im Gegensatz zur Sicht des Täters und der Strafverfolgungsbehörden klar erfolgsbezogen (Zehntner, a.a.O., Art. 19N. 6; siehe auch Eva Weishaupt, a.a.O., S. 55 f.).
5.7 Die erörterten Gesichtspunkte der Auslegung sind anhand des vorliegenden Sachverhalts zu würdigen (E. 5.2 hiervor). Ausgangspunkt für die opferhilferechtliche Beurteilung der Sache ist eine behauptete fahrlässige Verletzung des Ehemanns der Beschwerdeführerin. Während das angeblich als fahrlässige Körperverletzung (Art. 125 StGB) einzustufende Verhalten in der Verletzung von Sorgfaltspflichten durch den früheren Arbeitgeber des Verstorbenen in den Jahren 1963–1967 bestehen soll, wurde die vom Verstorbenen und der Beschwerdeführerin aus der Sorgfaltswidrigkeit abgeleitete Erkrankung erst im Januar 2006 festgestellt.
Der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung im Sinne von Art. 125 StGB setzt voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht hat (BGE 134 IV 193 E. 7 S. 203 f. mit Hinweisen; siehe auch BGE 127 IV 34 E. 2a S. 38; 126 IV 13 E. 7a/bb S. 16 f.). Eine Straftat im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 2 Abs. 1 OHG (E. 5.5 hiervor) konnte somit erst mit dem Eintritt des strafrechtlich relevanten Erfolgs vorliegen, da erst in diesem Zeitpunkt der objektive Tatbestand erfüllt war.
Das angeblich sorgfaltswidrige Verhalten kann grundsätzlich eine tatbestandsmässige Begehung oder Unterlassung im Hinblick auf eine fahrlässige Körperverletzung darstellen (siehe vorne E. 2 und 5). Aus der im Opferhilferecht massgebenden Opferperspektive kann hingegen bei Beendigung des sorgfaltswidrigen Verhaltens noch nicht von der Begehung einer Straftat im Sinne des OHG gesprochen werden, solange noch kein tatbestandsmässiger Erfolg vorliegt.
Fahrlässigkeit allein ohne Erfolgseintritt stellt im Hinblick auf Art. 125 StGB keine Straftat dar, da es an der Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale mangelt.
Gestützt auf Art. 125 StGB in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 OHG können somit gar keine Ansprüche auf Opferhilfe entstehen, solange der strafrechtlich relevante Erfolg des fahrlässigen Verhaltens nicht eingetreten ist.
Die Auslegung von Art. 12 Abs. 3 OHV führt somit vor dem Hintergrund des geschilderten Sachverhalts und unter Beachtung der Zielsetzungen des Opferhilfegesetzes zum Ergebnis, dass zur «Begehung einer Straftat» im Sinne von Art. 12 Abs. 3 OHV nicht bloss das fahrlässige Verhalten als Ursache des Erfolgseintritts gehört. Vielmehr muss darüber hinaus der strafrechtlich relevante Erfolg des Fahrlässigkeitsdelikts vorliegen, welcher in der Realisierung der objektiven Tatbestandsmerkmale besteht. Für den zeitlichen Geltungsbereich der Art. 11–17 OHG ist somit nicht allein das sorgfaltswidrige Verhalten massgebend. Entscheidend ist vielmehr der Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs solchen Verhaltens.
5.8 Dieses Auslegungsergebnis lässt ein unterschiedliches Verständnis der «Begehung einer Straftat» nach Art. 12 Abs. 3 OHV und der «Ausführung der strafbaren Tätigkeit» bei den Verjährungsregeln von Art. 98 StGB (in der Fassung vom 13. Dezember 2002, in Kraft seit 1. Januar 2007) erkennen. Dieses unterschiedliche Verständnis liegt in den nicht identischen Zielsetzungen des OHG und der Verjährungsbestimmungen des StGB begründet.
Die strafrechtlichen Verjährungsregeln sind massgeblich unter täterbezogenen Gesichtspunkten zu würdigen (siehe zur Publikation bestimmtes Urteil des Bundesgerichts 6B_627/2007 vom 11. August 2008 E. 4.3.4). Sie tragen dem Umstand Rechnung, dass das staatliche Strafbedürfnis unter Berücksichtigung praktisch aller Strafzwecke in der Regel umso mehr zurückgeht, je länger das Täterverhalten zurückliegt.
Sie können dazu führen, dass die Verfolgung von Fahrlässigkeitsdelikten oder von Delikten, deren Strafbarkeit vom Eintritt einer objektiven Strafbarkeitsbedingung abhängt, verjähren kann, bevor sie hätte beginnen können (siehe Günther Stratenwerth/Wolfgang Wohlers, Handkommentar zum StGB, Bern 2007, Art. 98 Rz. 1 und Vorbemerkungen zu Art. 97 ff. Rz. 1; zur Publikation bestimmtes Urteil des Bundesgerichts 6B_627/2007 vom 11. August 2008).
Mit dem OHG sollte den durch eine Straftat unmittelbar in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität beeinträchtigten Personen die gesetzlich vorgesehene Hilfe gewährleistet werden. Zur Erreichung dieses Ziels wird im Opferhilferecht zum Teil von strafrechtlichen Grundsätzen abgewichen.
So wird die Opferhilfe unabhängig davon gewährt, ob die Täterschaft ermittelt worden ist und ob sie sich schuldhaft verhalten hat (Art. 2 Abs. 1 OHG). Gleichermassen kann es für die opferhilferechtliche Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung nicht darauf ankommen, ob der Strafanspruch des Staates verjährt ist. Das Opfer kann von einem strafrechtlich verjährten Delikt bei späterem Erfolgseintritt in derselben Weise betroffen sein, wie wenn im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG keine Täterschaft oder kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann.
Es erscheint daher gerechtfertigt, das Vorliegen einer Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG auch dann zu bejahen, wenn der Täter wegen der strafrechtlichen Verjährungsregeln vom Strafrichter nicht mehr verurteilt werden kann.
5.9 Der opferbezogene Ansatz hat insofern Auswirkungen auf den zeitlichen Geltungsbereich des OHG, als die Straftat dann als begangen zu gelten hat, wenn der strafrechtlich und aus Opfersicht relevante Erfolg eingetreten ist.
Diese Auffassung liegt auch den Bestimmungen betreffend den zeitlichen Geltungsbereich der Vorschriften über die Hilfe der Beratungsstellen und den Schutz und die Rechte des Opfers im Strafverfahren zu Grunde (Art. 12 Abs. 1 und 2 OHV). Danach hängt die Gewährung der Opferhilfe in diesen Bereichen nicht vom Zeitpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens ab.
Es ist kein unter opferhilferechtlichen Gesichtspunkten massgebender Grund ersichtlich, für die Anwendung der Bestimmungen über die Entschädigung und Genugtuung (Art. 11–17 OHG) auf den Zeitpunkt der Tathandlung abzustellen.
Jedenfalls erscheinen die von der kantonalen Opferhilfestelle angeführten Gründe der Rechtsgleichheit (E. 3.3 hiervor) nicht überzeugend. Indessen ist einzuräumen, dass bei grosser zeitlicher Differenz zwischen Täterverhalten und Erfolgseintritt in Bezug auf die Beurteilung von Entschädigungs- und Genugtuungsforderungen in verschiedener Hinsicht Beweisschwierigkeiten auftreten können (Sorgfaltsmassstab oder Kausalität; siehe zur Publikation bestimmtes Urteil des Bundesgerichts 6B_627/2007 vom 11. August 2008 E. 4.3.4).
Solche Schwierigkeiten haben mitunter negative Auswirkungen auf den Erfolg der Geltendmachung der Opferhilfe. Sie dürfen jedoch nicht dazu führen, dass das Opfer keine Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche geltend machen darf, nur weil das schädigende Täterverhalten, das für sich noch keine Straftat im Sinne des OHG darstellt, vor Inkrafttreten des OHG stattfand. Wäre eine solche Beschränkung vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen, hätte er sie zumindest im Rahmen der Revision des geltenden OHG in das neue Gesetz eingefügt.
5.10 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei fahrlässigen Erfolgsdelikten mit grossem zeitlichem Abstand der mutmasslichen Tathandlung zum Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs unter «Begehung einer Straftat» im Sinne von Art. 12 Abs. 3 OHV die Verwirklichung der subjektiven und der objektiven Tatbestandsmerkmale zu verstehen ist. Für den zeitlichen Geltungsbereich der Art. 11–17 OHG ist somit nicht allein auf das sorgfaltswidrige Verhalten abzustellen. Entscheidend ist vielmehr der Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs solchen Verhaltens.
(Urteil 1C_73/2008 der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts vom 1. Oktober 2008)
Kommentar
Auch wenn die «NZZ» unter dem Titel «Opferhilfe für Asbest-Erkrankung?» von einem «eigenwilligen» Entscheid des Bundesgerichtes berichtet hat, hat das oberste Gericht im Ergebnis in rechtspolitischer Hinsicht das einzig Richtige getan. Es hat die Rechte von unschuldigen Opfern gestärkt, welche ohne Wissen um dessen tödlicher Gefährlichkeit am Arbeitsplatz dem Asbeststaub ausgesetzt waren. Vorliegend betraf es einen Mann, der als Lehrling während weniger Monate in seinem Lehrbetrieb völlig ungeschützt dem Asbeststaub ausgesetzt worden war.
Inwiefern betreffend dieses Sachverhaltes den damals Verantwortlichen eine strafbare Handlung als Grundvoraussetzung für die Zusprechung von Leistungen aus dem Opferhilfegesetz vorgeworfen werden kann, hat nun die staatliche Opferhilfebehörde des Kantons Zürich zu prüfen. Dies, nachdem das Bundesgericht mit einem Grundsatzurteil vom 11. August 2008 entschieden hatte, dass auch bei Asbestopfern der Beginn der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung an die Tathandlung anknüpft und nicht an den Erfolg, sprich den Ausbruch der oft tödlich endenden Krankheit. Damit sind im Ergebnis praktisch keine strafrechtlichen Prozesse mehr durchführbar und folglich auch keine zivilrechtlichen Adhäsionsklagen im Rahmen eines solchen Strafprozesses.
Es ist darum in rechtspolitischer Hinsicht gerechtfertigt, dass die Asbestopfer nebst den sozialversicherungsrechtlichen Leistungen aus UVG auch gestützt auf das OHG entschädigt werden, zumal diverse Schadenspositionen wie Haushaltsführungsschaden oder Pflegeschaden sowie Genugtuungsansprüche eines an einem malignen Pleuramesotheliom Verstorbenen durch das UVG nicht abgedeckt sind. Zudem leistet das Grundsatzurteil des Bundesgerichtes auch der berechtigten Argumentation Vorschub, dass auch in zivilrechtlicher Hinsicht eine Verjährung berechtigter zivilrechtlicher Ansprüche nicht bereits eingetreten sein kann, bevor die Asbestopfer von ihrem Gesundheitsschaden überhaupt Kenntnis haben und dementsprechend auch ihre berechtigten Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche festgestellt werden können. Damit macht das Bundesgericht auch einen wichtigen und richtigen Schritt in Richtung der europäischen Rechtsentwicklung in diesem Bereich.