Standesrecht
Strafverteidiger darf Verwandteinformieren
Gibt der Strafverteidiger Informationen über das Haftrichterverfahren an die Eltern des Inhaftierten weiter, handelt er nicht pflichtwidrig, sofern er nicht annehmen muss, mit der Verwandteninformation werde der Untersuchungszweck gefährdet.
Sachverhalt:
In einem Strafverfahren wegen Verdachts auf Betäubungsmittelhandel gewährte der Bezirksanwalt dem Strafverteidiger Akteneinsicht. Der Strafverteidiger bestätigte am 6. Februar 2004 den Empfang der Akten mit Unterschrift, wobei er unter anderem Folgendes anführte: «Solange sich der Angeschuldigte in Haft befindet, ist jede Weitergabe der Akten und jede Mitteilung des Akteninhaltes an Dritte nur mit Zustimmung des Bezirksanwaltes zulässig.»
Am 16. Februar stellte der Strafverteidiger ein Haftentlassungsgesuch, das der Haftrichter am 20. Februar ablehnte. Der Strafverteidiger orientierte die Eltern des Inhaftierten am 2. März über den Entscheid und überliess ihnen dabei den Antrag des Bezirksanwalts auf Verlängerung der Untersuchungshaft, seine eigene Stellungnahme und den Entscheid des Haftrichters.
Am 25. März verfasste der Polizeibeamte und Mitarbeiter des Bezirksanwalts eine Notiz über ein Telefonat mit dem Vater des Inhaftierten. Inhalt: Der Vater habe ihm gesagt, er habe die gesamten Akten vom Strafverteidiger erhalten. Daraufhin erstattete der Bezirksanwalt bei der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich Anzeige gegen den Strafverteidiger.
Aus den Erwägungen:
1.3 Eine Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung betreffend Aktenweitergabe ergibt demnach Folgendes:
a) Als Grundsatz gilt, dass die Aktenweitergabe an Dritte durch den Rechtsanwalt zulässig ist, dieser jedoch im Rahmen der anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Sinne einer Ausnahme (lit. b) davon abzusehen hat, wenn öffentliche oder private Interessen entgegenstehen.
b) Konkretisiert wird das öffentliche Interesse (Ausnahmetatbestand) insbesondere mittels zweckmässiger Durchführung einer Strafuntersuchung. Diese kann vereitelt werden, wenn durch die Weitergabe von Akten an Dritte der Untersuchungszweck, das heisst die Feststellung von Straftaten, gefährdet oder verhindert wird (Kollusion). Der Rechtsanwalt hat dabei davon auszugehen, dass insbesondere bei einem ausdrücklichen Verbot der Aktenweitergabe an Dritte durch den Untersuchungsrichter eine Kollusionsgefahr anzunehmen ist.
c) Die anwaltliche Sorgfaltspflicht kann auch eine Ausnahme vom Ausnahmetatbestand begründen. Es besteht eine Antinomie zwischen dem öffentlichen Interesse des Staates in der Strafuntersuchung und dem privaten Interesse des Angeschuldigten und seiner Verteidigung.
Die Abwägung dieser Interessenlagen ist für den Rechtsanwalt keine leichte Aufgabe. Er hat alles zu unterlassen, was der Kollusionsgefahr Vorschub leisten könnte, gleichzeitig jedoch eine effektive Verteidigung und die Persönlichkeitsrechte des Angeschuldigten zu wahren.
Die Konkretisierung dieser entgegengesetzten Interessen lässt sich nicht ein für allemal festlegen, sondern ist vom Rechtsanwalt im Rahmen der anwaltlichen Sorgfaltspflicht von Fall zu Fall zu bestimmen. Dabei hat sich der Verteidiger grundsätzlich an das ausdrückliche Verbot der Aktenweitergabe an Dritte zu halten; dieses Verbot ist indessen nicht absolut und kann in Ausnahmefällen durchbrochen werden. Dazu gehört beispielsweise die Verwandteninformationspflicht des Verteidigers, wenn er in Abwägung aller Umstände davon ausgehen kann, dass damit keine Kollusionsgefahr verbunden ist.
2 Werden diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall angewendet, ergibt sich Folgendes:
2.1 Die Chronologie des Sachverhaltes zeigt, dass die mit dem Weitergabeverbot des Untersuchungsrichters an Dritte belegte Aktenübergabe am 6. Februar 2004 erfolgte und bis zum 9. Februar 2004 dauerte.
Die Haftrichterakten wurden später produziert, nämlich zwischen dem 16. und 20. Februar 2004. Aufgrund dieses Zeitablaufes ist erstellt, dass sie nicht zu jenen Akten gehören konnten, die dem Beschuldigten am 6. Februar 2004 herausgegeben worden waren. Dieser macht denn auch geltend, er habe die vorstehend bezeichneten Haftrichterakten nicht vom Bezirksanwalt, sondern vom Bezirksgericht zugestellt erhalten, was auch ohne weiteres einleuchtet. Insofern es vorliegend nur um die Haftrichterakten geht, ist der in der Anzeige vorgebrachte Verdacht bereits aufgrund des Zeitablaufes entkräftet.
2.2 Nun wird in der Anzeige indessen – aufgrund der Aktennotiz des polizeilichen Mitarbeiters – behauptet, der Beschuldigte habe dem Vater des Inhaftierten «die gesamten Akten zugestellt». Diese Feststellung wäre dann zutreffend, wenn es sich um jene Akten (oder Kopien davon) handelte, die dem Beschuldigten am 6. Februar 2004 unter Auflage des Weitergabeverbotes ausgehändigt worden waren. Diese Sachlage konnte nur durch ein Beweisverfahren geklärt werden, weshalb der Vater des Inhaftierten als Zeuge befragt wurde.
c) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich der Verdacht der Anzeige nicht erhärtete, der Beschuldigte habe die ihm am 6. Februar 2004 unter der Auflage des Weitergabeverbotes ausgehändigten Akten dem Vater des Inhaftierten und somit einem Dritten weitergegeben.
2.3 Im Folgenden stellt sich indessen die Frage, ob die vom Beschuldigten im Aufsichtsverfahren von Anfang an zugegebene Verwandteninformation über das Haftrichterverfahren eine Pflichtwidrigkeit darstellte. Entscheidend ist, ob der Beschuldigte als Verteidiger in Anwendung der gebührenden Sorgfalt davon ausgehen durfte, der Zweck der Verwandteninformation beeinträchtige nicht gleichzeitig denjenigen der Strafuntersuchung als solche.
a) Vorerst ist festzuhalten, dass es aus der Sicht der Verteidigung legitim ist, die Eltern über den Fortbestand einer Untersuchungshaft zu orientieren, zumal dies auch mit dem Persönlichkeitsrecht der beteiligten Angehörigen gerechtfertigt werden kann. Die Anzeige macht nun keinerlei konkreten Angaben darüber, inwiefern der Beschuldigte bestimmte Kollusionshandlungen mit dem Vater des Inhaftierten vollzogen hätte. Ein solcher konkreter Vorwurf wäre indessen – abgesehen vom widerlegten Verdacht der Aktenweitergabe von Untersuchungsakten – notwendig, damit sich der Beschuldigte im Rahmen des Aufsichtsverfahrens hinreichend rechtfertigen könnte.
Vorliegend bleibt demnach nur zu prüfen, ob mit der Verwandteninformation über den Ausgang des Verfahrens vor dem Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich ganz allgemein der
Untersuchungszweck gefährdet wurde (Kollusion).
b) Diese Frage durfte der Beschuldigte im Zeitpunkt der Verwandteninformation in Anwendung der gebotenen Sorgfalt klar verneinen. Beim Vater des Inhaftierten handelt es sich um einen 74-jährigen alten Mann, der sich massiv über die Verfehlungen seines Sohnes aufregte.
Aufgrund der protokollierten Befragung ist auch ersichtlich, dass es sich beim Vater des Inhaftierten um eine unbescholtene Person handelt, die ganz offensichtlich nicht in Drogenkreisen verkehrt und von der der Beschuldigte in guten Treuen annehmen durfte, dass er allfällige Informationen des Verteidigers nicht missbrauchen werde. Auf diese Einschätzung deutet auch der Umstand hin, dass der Vater in der Zeugenbefragung vom 14. Juni 2004 nach nur knapp vier Monaten seit der Verwandteninformation Anfang März 2004 keine Details kannte und sich einfach an das Informationsschreiben des Beschuldigten vom 2. März 2004 erinnern konnte. Unter solchen Umständen kann nicht angenommen werden, der Beschuldigte habe im Rahmen seiner anwaltlichen Sorgfaltspflicht mit der Verwandteninformation gleichzeitig der Kollusion Vorschub geleistet.
3 Gesamthaft liegt demnach kein pflichtwidriges Verhalten des Beschuldigten vor. Ein Disziplinartatbestand im Sinne von Art. 12 lit. A BGFA ist nicht gegeben. Das Verfahren ist einzustellen.
(Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich, Beschluss vom 2. Dezember 2004)
Familienrecht
Eheungültigkeit: Klage nach zwei Jahren verspätet
Ein Ehegatte, der zur Ehe genötigt worden sein soll, kann keine Ungültigkeitsklage mehr erheben, wenn er zwei Jahre lang zögerte. Er kann sich nicht auf den Scheidungsgrund der Unzumutbarkeit berufen, wenn die Mindest-Trennungsfrist abgelaufen ist.
Sachverhalt:
Die Klägerin verlangte, ihre Ehe mit dem Beklagten sei für ungültig zu erklären, weil diese unter dem Einfluss einer Drohung zustande gekommen sei, oder eventuell zu scheiden, weil es ihr nicht zumutbar sei, in einer inhaltsleeren Ehe auszuharren. Ihr damaliger Freund habe sie mit fortwährender Androhung von Schlägen unter Druck gesetzt, einen aus der Schweiz ausgewiesenen Landsmann zu heiraten, damit dieser zurückkehren könne.
Er habe sie gezwungen, in seinem Beisein die Heiratspapiere zu bestellen und dafür gesorgt, dass sie wirklich abreise. Sie sei dann von dem ihr zugewiesenen Bräutigam abgeholt worden, habe am 4. Oktober 2000 an einer Trauung teilgenommen, bei der sie kein Wort verstand, und sei gleich wieder ins Flugzeug gesetzt worden. Der Beklagte sei danach in die Schweiz gekommen, habe sich an ihrem Wohnort angemeldet und einmal im Monat die Post abgeholt. Nur in solchen zufälligen Momenten hätten sie persönlichen Kontakt gehalten.
Einige Monate später habe sie sich von ihrem Freund getrennt, weil er gewalttätig geworden sei. Sie sei ihm nie mehr begegnet und habe bloss gehört, er sei im Gefängnis. Sie habe sich aber weiter vor ihm geängstigt. Erst im März 2003 habe sie Mut geschöpft und den Entschluss zur Klage gefasst.
Aus den Erwägungen:
2. Grundsätzlich ist nicht auszuschliessen, dass eine erzwungene und nie gelebte Ehe wegen Unzumutbarkeit (Art. 115 ZGB) geschieden werden könnte. Die Optik wäre freilich eine andere: Mit der Ungültigkeitsklage sind Mängel geltend zu machen, die schon vor der Heirat bestanden haben; in der Scheidungsklage sind hingegen Tatsachen anzuführen, die sich erst während der Ehe ereigneten oder auswirkten (BaslerKomm/Geiser/Lüchinger, vor Art. 104 ff. ZGB N 1; BernerKomm/Götz, Vorbem. zu Art. 120 ff. a. F. ZGB N 12). Anzuknüpfen wäre dabei an die Gerichtspraxis zur Scheinehe.
Eine von beiden Seiten nur als Trugbild geschlossene Ehe dürfte nicht vor Ablauf der gesetzlichen Trennungszeit aufgelöst werden (BGE 127 III 347 ff.); eine Ehe, die vom klägerischen Teil in gutem Glauben und vom beklagten Teil in Umgehungsabsicht begründet wurde, könnte jedoch sogleich geschieden werden (BGE 127 III 342 ff.; siehe auch Steck, Die Praxisentwicklung zu den Scheidungsgründen, FamPra.ch 2004, 206, 220; Vetterli, Die Scheidung auf Klage, AJP 2002, 102, 106). Das liesse sich durchaus auf einen Fall übertragen, in dem der klagende Ehegatte zur Ehe gedrängt und danach vom anderen für seine Zwecke ausgenützt worden wäre. Er hätte es ja nicht freiwillig in Kauf genommen oder gar zum eigenen Vorteil gewollt, eine Ehe auf dem Papier zu führen, und dürfte in einer Verbindung, die stets nur der Form halber bestand, nicht länger festgehalten werden.
3. Die gesetzliche Reihenfolge der Klagegründe bildet aber zugleich eine Rangfolge. Der Scheidungsgrund des Getrenntlebens ist der Regelfall; der Scheidungsgrund der Unzumutbarkeit hat Ausnahmecharakter und stellt nur eine Art «Notventil» dar.
Ein Ehegatte kann den Scheidungsgrund nicht frei auswählen und sich etwa auf Unzumutbarkeit berufen, um die «Wahrheit» über eine Beziehung aufzudecken und sich auf diese Weise vielleicht ein Stück Genugtuung zu verschaffen. Wenn er lange genug getrennt gelebt hat, so muss er sich damit abfinden, dass die Ehe aus diesem Grund geschieden wird, weil der Ablauf der Trennungszeit eben einfacher festzustellen ist als eine unbillige Härte. Art. 115 wird im Verhältnis zu Art. 114 ZGB stets als subsidiär betrachtet (BGE 126 III 403, 407; 127 III 342, 346; PraxKomm/Fankhauser, Art. 115 ZGB N 2; Rumo-Jungo, Die Scheidung auf Klage, AJP 1999, 1530, 1540; BaslerKomm/Steck, Art. 114 ZGB N 2). Mit der am 1. Juni 2004 in Kraft gesetzten Änderung von Art. 114 ZGB wurde die gesetzlich vorgeschriebene Trennungsfrist von vier auf zwei Jahre herabgesetzt, und nach Art. 7c Schlusstitel ZGB gilt das auch für ein Scheidungsverfahren, welches bereits vor einer kantonalen Instanz anhängig gemacht, aber noch nicht beurteilt ist.
Die verkürzte Trennungszeit muss in einem solchen übergangsrechtlichen Fall nicht schon bei Anhebung der Scheidungsklage abgelaufen sein; es genügt, wenn sie beim Inkrafttreten des revidierten Rechts
erfüllt war (BGE 126 III 401; Bericht der Kommission für Rechtsfragen NR zur parlamentarischen Initiative «Trennungsfrist bei Scheidung auf Klage», BBI 2003, 3927, 3936). Nach der Version der Klägerin sollen die Ehegatten überhaupt nie zusammengewohnt haben. Sie hätten in einer nur zum Schein geschlossenen Ehe immer getrennt gelebt (PraxKomm/Fankhauser, Art. 114 ZGB N4) und ihre beiderseitige Weigerung, die eheliche Gemeinschaft je aufzunehmen, von Anfang an unmissverständlich ausgedrückt.
Die zweijährige Trennungsfrist hätte somit am Tag nach der Heirat vom 4. Oktober 2000 zu laufen begonnen und wäre im Zeitpunkt des Rechtswechsels längst beendet. Nach der Version des Beklagten sollen die Ehegatten eine normale Ehe gegründet und einen gemeinsamen Haushalt geführt haben, bis die Ehefrau ausgezogen sei und alle ihre Sachen mitgenommen habe. Seine im Frühjahr 2003 vor Gericht aufgestellte Behauptung, das sei erst «vor etwa sechs Monaten» geschehen, kann aber jedenfalls nicht zutreffen, nachdem die Mutter der Klägerin als Zeugin bestätigte, die Tochter sei schon im Mai 2001 wieder bei ihr eingezogen. Das Getrenntleben wäre also spätestens mit einem solchen nur als Trennungsentschluss zu deutenden Umzug aufgenommen worden und hätte auch dann bis zum Rechtswechsel weit über zwei Jahre gedauert, was selbst der Beklagte heute nicht mehr bestreitet. Demnach hat die Klägerin einen absoluten Anspruch auf Scheidung.
4. In seiner abschliessenden Stellungnahme vor dem Kantonsgericht anerkannte der Beklagte die Scheidungsklage ausdrücklich. Damit stellt sich die Frage, ob Art. 116 ZGB zu beachten sei, was bedeuten würde, dass die Parteien noch eine Bedenkzeit von zwei Monaten abzuwarten und ihren Scheidungswillen danach zu bestätigen hätten.
Der Sinn dieser Bestimmung ist der, dass scheidungswillige Ehegatten nicht mit einer fingierten Streitscheidung die Verfahrensregeln des Art. 111 ZGB sollen umgehen dürfen und damit womöglich leichter zum Ziel kommen als Ehepartner, welche die Scheidung gemeinsam verlangen. Dieser Zweck hätte sich geradezu in sein Gegenteil verkehrt, wenn das Verfahrensende nach einem langen Prozess, der in sein allerletztes Stadium getreten ist und zumindest klar und eindeutig gezeigt hat, dass der Scheidungsgrund des Getrenntlebens gegeben ist, nochmals verzögert würde. In einem solchen spruchreifen Fall ist Art. 116 ZGB nicht mehr anwendbar (PraxKomm/Fankhauser, Art. 116 ZGB N10; Hegnauer/Breitschmid, Grundriss des Eherechts, 4. Aufl., Rz. 9.38; Reusser, Die Scheidungsgründe und die Ehetrennung, in: Hausheer [Hrsg.], Vom alten zum neuen Scheidungsrecht, Rz. 1.95; BaslerKomm/Steck, Art. 116 ZGB N15). (Urteil BF 2004.5 der II. Zivilkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 11. August 2004)
Rechtsbeistandschaft
Unentgeltlicher Rechtsbeistand im Einspracheverfahren bejaht
Im Einspracheverfahren ist grundsätzlich die Erforderlichkeit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung anzunehmen, so weit die weiteren Anspruchsvoraussetzungen – finanzielle Bedürftigkeit und fehlende Aussichtslosigkeit – gegeben sind.
Sachverhalt:
Die Arbeitslosenversicherung lehnt den Anspruch von D auf Arbeitslosenentschädigung ab. Der Rechtsanwalt von D erhebt gegen die entsprechende Verfügung Einsprache und beantragt gleichzeitig, ihn zum unentgeltlichen Rechtsbeistand zu ernennen. Die Arbeitslosenkasse weist das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ab mit der Begründung, eine anwaltliche Rechtsverbeiständung sei nicht notwendig. Die sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Verwaltungsgerichts in Luzern heisst die dagegen erhobene Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
3. Das Einspracheverfahren ist kostenlos, Parteientschädigungen werden in der Regel nicht ausgerichtet (Art. 52 Abs. 3 ATSG). Im Einspracheverfahren besteht ein grundsätzlicher Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wobei diesbezüglich Art. 37 ATSG zu beachten ist (Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 52 Rz 30). Gemäss Art. 37 Abs. 1 A TSG kann sich die Partei, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, so weit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen. Wo die Verhältnisse es erfordern, wird der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt (Art. 37 Abs. 4 ATSG).
Art. 37 Abs. 4 ATSG ist in systematischer Hinsicht Teil des Gesetzesabschnittes über das Sozialversicherungsverfahren. Damit wird klargestellt, dass der Anspruch auf unentgeltliche Vertretung im gesamten Verwaltungsverfahren bestehen kann. Insbesondere entfällt eine dahingehende zeitliche Einschränkung, dass beispielsweise erst ab dem Einspracheverfahren ein entsprechender Anspruch geltend gemacht werden könnte. Dies ergibt sich im Übrigen nicht nur aus der systematischen Einordnung der Bestimmung, sondern mit Klarheit aus den Gesetzesmaterialien, wo nach einlässlicher Diskussion auf einen Einschub einer solchen zeitlichen Grenze verzichtet wurde. Damit ist in grundsätzlich jedem Verfahrensabschnitt des Verwaltungsverfahrens zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine unentgeltliche Vertretung erfüllt sind (Kieser, a. a. O., Art. 37, Rz. 18).
Was die Voraussetzungen der unentgeltlichen Vertretung betrifft, verwendet Art. 37 Abs. 4 ATSG eine Formulierung, welche nur teilweise der in Art. 61 lit. f ATSG verwendeten entspricht. Anstelle des Begriffs des «Rechtfertigens» wird derjenige des «Erforderns» verwendet, was auf einen bewussten gesetzgeberischen Entscheid zurückgeht. Damit wird die Rechtsprechung aufgenommen, welche eine strenge Prüfung der massgebenden Voraussetzungen verlangt, wenn die unentgeltliche Vertretung im Verwaltungsverfahren geprüft wird. Als Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung gelten die finanzielle Bedürftigkeit, die fehlende Aussichtslosigkeit sowie die Erforderlichkeit der Vertretung.
Die Konkretisierung der einzelnen Voraussetzungen erfolgt in Analogie zu den entsprechenden Kriterien im Gerichtsverfahren. Den höheren Anforderungen im Verwaltungsverfahren ist insoweit Rechnung zu tragen, als die Erforderlichkeit der Vertretung eingehend zu prüfen ist. Dabei ist auf die Schwierigkeit des Falles und auf dessen Verfahrensphase abzustellen. Grundsätzlich wird im Einspracheverfahren eine solche Erforderlichkeit anzunehmen sein, was auch der bisherigen Ausgestaltung entspricht. Für das vorangehende Verwaltungsverfahren kann eine unentgeltliche Vertretung unter dem Aspekt der
Erforderlichkeit etwa in Frage kommen, wenn sich komplexe sachverhaltliche oder rechtliche Fragen stellen. Gleichzeitig kommen aber auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (vgl. auch EVG-Urteil W. vom 1. Juni 2004, I 386/04).
Bei den beiden anderen Voraussetzungen – der finanziellen Bedürftigkeit und der fehlenden Aussichtslosigkeit – ist demgegenüber keine strengere Prüfung als diejenige, die im Gerichtsverfahren angenommen wird, angebracht (Kieser, a. a. O., Rz. 20 f.).
4. a) Vorliegend wurde das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung mit der Einsprache vom 28. November 2003 gegen die Verfügung verbunden. Mit Kieser ist – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – davon auszugehen, dass im Einspracheverfahren eine Erforderlichkeit der Verbeiständung grundsätzlich anzunehmen ist (siehe Erw. 3 oben). Im Übrigen ist im Gegensatz zur Ansicht der Arbeitslosenkasse vorliegend von komplexen sachverhaltlichen und rechtlichen Fragen auszugehen. Die Beschwerdeführerin musste, um alle Anspruchsvoraussetzungen zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung zu erfüllen, ihren Austritt aus der GmbH zuerst gerichtlich durchsetzen.
Dass zunächst noch ein Gerichtsverfahren vor dem Zivilrichter durchzuführen war, um einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung geltend machen zu können, zeigt auf, dass die Beschwerdeführerin sich ohne anwaltliche Unterstützung nicht alleine im hier zu beurteilenden Verfahren zurechtgefunden hätte. Schliesslich ist auch zu bemerken, dass die Einsprache gegen die Verfügung – dank dem durchgeführten Verfahren vor Amtsgericht – teilweise gutgeheissen wurde.
Vorliegend ist damit neben dem Kriterium der komplexen sachverhaltlichen und rechtlichen Fragen auch das Kriterium der fehlenden Fähigkeit des Betroffenen, sich im Verfahren zurechtzufinden, erfüllt.
(Urteil S 04 278 der Sozialversicherungsrechtlichen Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 3. Dezember 2004, nicht rechtskräftig bei Redaktionsschluss)
Strafprozess
Luzerner Haftanordnungen rechtswidrig
Es ist nicht mit der EMRK zu vereinbaren, wenn ein Amtsstatthalter in der gleichen Strafsache die Haft anordnet und mit Untersuchungs- und Anklagefunktionen betraut ist. Gleichzeitig ist Art. 31 Abs. 3 BV verletzt, wonach der Inhaftierte unverzüglich einem Richter vorgeführt werden muss.
Sachverhalt:
Das Amtsstatthalteramt Luzern-Stadt versetzt X in Untersuchungshaft. Später stellt es in derselben Sache eine Strafverfügung aus. Da X diese Strafverfügung nicht annimmt, überweist das Amtsstatthalteramt die Strafsache an das Amtsgericht Luzern-Stadt. Alle drei Anordnungen des Amtstatthalteramts werden durch denselben Amtsstatthalter vorgenommen. X erhebt gegen die Haftanordnung Rekurs ans Obergericht des Kantons Luzern. Dieses bestätigt die Haftanordnung. Daraufhin gelangt X mit staatsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2.3 Art. 5 Ziff. 3 EMRK verlangt, dass jede in strafprozessualer Haft gehaltene Person unverzüglich einem Richter oder einem anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden muss («doit être aussitôt traduite devant un juge ou un autre magistrat habilité par la loi à exercer des fonctions judiciaires» / «shall brought promptly before a judge or another officer authorised by law to exercise judicial power»). Nach übereinstimmender Lehre und Rechtsprechung muss es sich beim haftanordnenden Magistraten im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK um eine unparteiische Instanz handeln, die von der Exekutive und den Parteien unabhängig und bei der Ausübung ihres Amtes nicht weisungsgebunden ist. Sie muss in einem justiziellen Verfahren entscheiden, den Inhaftierten persönlich anhören, insbesondere die Angemessenheit der Haft prüfen und nötigenfalls die Haftentlassung anordnen können (BGE 119 Ia 221 E. 7a S. 231; 118 Ia 95 E. 3b S. 98; EGMR vom 5. April 2001 i. S. H. B. c. CH, JAAC 2001 Nr. 120 S. 1292, Ziff. 55, je mit Hinweisen; vgl. auch Jochen A. Frowein / Wolfgang Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Auflage, Kehl u. a. 1996, Art. 5 N. 117; Arthur Haefliger / Frank Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl., Bern 1999, S. 112).
Nach der bundesgerichtlichen Praxis ist Art. 5 Ziff. 3 EMRK namentlich verletzt, wenn die haftanordnende Amtsperson in gleicher Sache auch noch für die Anklageerhebung zuständig ist (BGE 124 I 274 E. 3c S. 279; 119 Ia 221 E. 7c S. 234; 118 Ia 95 E. 3c S. 98, E. 3d–e S. 99 f.; 117 Ia 199 E. 4b –c S. 201 f., je mit Hinweisen).
Im Fall Schiesser hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erwogen, dass Zürcher Bezirksanwälte die Voraussetzungen von Art. 5 Ziff. 3 EMRK grundsätzlich erfüllen könnten, sofern eine personelle Trennung zwischen haftrichterlicher Funktion einerseits und Untersuchungs- bzw. Anklagefunktion anderseits gewährleistet wird (EGMR vom 4. Dezember 1980 i. S. Schiesser c. CH, Série A, vol. 34, Ziff. 31 = EuGRZ 1980, S. 201). Im Fall Jutta Huber hat der EGMR eine Verletzung der EMRK durch die Schweiz festgestellt, da der gleiche Zürcher Bezirksanwalt sowohl für die Haftanordnung als auch für die Anklageerhebung zuständig war (EGMR vom 23. Oktober 1990 i. S. Huber c. CH, Série A, vol. 188, Ziff. 42 f. = EuGRZ 1990, S. 502).
Entscheidend für die Beurteilung, ob der haftanordnende Magistrat ausreichend unabhängig erscheint, ist nach der Praxis des EGMR der objektive Anschein im Zeitpunkt der Haftanordnung. Der Eindruck der Unvoreingenommenheit fällt grundsätzlich schon dahin, wenn aufgrund der Prozessordnung die Möglichkeit besteht, dass der haftanordnende Magistrat in der Folge Anklagefunktionen ausüben könnte (EGMR vom 26. November 1992 i. S. Brincat c. I, Série A, vol. 249-A = EuGRZ 1993, S. 389; EGMR vom 5. April 2001 i. S. H. B. c. CH, JAAC 2001 Nr. 120 S. 1292, Ziff. 55, 57, 62 f.; EGMR i. S. Huber c. CH, a. a. O., Ziff. 40, je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 118 Ia 95 E. 3a S. 97; 117 Ia 199 E. 4b S. 201).
Diese Praxis wurde vom EGMR (bezüglich des solothurnischen Untersuchungsrichters) im Fall H. B. bestätigt und präzisiert. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann es grundsätzlich nicht darauf ankommen, ob der haftanordnende Untersuchungsrichter in der Folge tatsächlich Anklagefunktionen ausübt, welche Gerichtsinstanz im Zeitpunkt der allfälligen Anklageerhebung zuständig ist und wer dort tatsächlich die Anklage vertritt. Falls im Zeitpunkt der Haftanordnung der spätere Erlass einer Schluss- bzw. Überweisungsverfügung des Untersuchungsrichters in Frage kommt, welche die faktische Bedeutung einer Anklageschrift hat, darf dieser Untersuchungsrichter in der gleichen Sache nicht als haftanordnender Magistrat tätig sein (EGMR vom 5. April 2001 i. S. H. B. c. CH, a. a. O., Ziff. 58–63). Ob der Untersuchungsrichter bei seiner Haftanordnung weisungsgebunden war und ob er oder die Staatsanwaltschaft später allenfalls die Anklage vor dem zuständigen Gericht erhebt, ist nach der Auffassung des EGMR nicht massgeblich (EGMR i. S. H. B., a. a. O., Ziff. 62–63). Da eine entsprechende Überweisungs- und Schlussverfügung des Untersuchungsrichters im Zeitpunkt der Haftanordnung nicht ausgeschlossen werden konnte, erkannte der EGMR im Fall H. B. auf eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK durch die Schweiz.
2.4 Der Wortlaut des am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Art. 31 Abs. 3 BV geht über Art. 5 Ziff. 3 EMRK hinaus. Die neue Bundesverfassung verlangt, dass der Inhaftierte «unverzüglich einer Richterin oder einem Richter vorgeführt» werden muss (vgl. BGE 126 I 172 E. 3b S. 173). Damit hat der Verfassungsgesetzgeber die Haftanordnung nach Art. 31 Abs. 3 BV (und nicht bloss die Haftprüfung nach Art. 31 Abs. 4 BV) ausdrücklich in die Hände des Haftrichters bzw. einer unabhängigen richterlichen Behörde gelegt. Ein weisungsgebundener Untersuchungsrichter erfüllt diese Voraussetzungen grundsätzlich nicht (vgl. Andreas Keller, Untersuchungshaft im Kanton St. Gallen – Vom alten zum neuen Strafprozessgesetz, AJP 2000, S. 936 ff., 944; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz: Im Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der Uno-Pakte und der EMRK, 3. Aufl., Bern 1999, S. 585; Hans Vest, in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender [Hrsg.], Die Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Zürich 2002, Art. 31 N. 24).
In der Lehre wird denn auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diejenigen Kantone – genannt wird unter anderen der Kanton Luzern –, bei denen noch Untersuchungsrichter als haftanordnende Magistraten fungieren, ihre Praxis und Gesetzgebung entsprechend anzupassen hätten (siehe Vest, a. a. O., N. 24). Auch der Entwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes aus dem Jahr 2001 für eine schweizerische Strafprozessordnung (VE/StPO) sieht als haftanordnende Behörde eine richterliche Instanz (Zwangsmassnahmengericht) vor (siehe Art. 235 Abs. 3 und Art. 237 f. VE/StPO).
2.5 Der luzernische Amtsstatthalter erfüllt im Strafprozess Untersuchungs- und teilweise auch Anklagefunktionen und hat grundsätzlich den Weisungen der Staatsanwaltschaft bzw. der hierarchisch übergeordneten Regierungs- und Verwaltungsinstanzen Folge zu leisten.
Es fragt sich, ob Art. 31 Abs. 3 BV in der Weise ausgelegt werden könnte, dass (unter den Voraussetzungen der bisherigen Praxis zu Art. 5 Ziff. 3 EMRK) nach wie vor auch Untersuchungsrichter ausnahmsweise als haftanordnende Magistraten walten könnten. Die Frage kann im vorliegenden Fall offen bleiben, da auch die Voraussetzungen der dargelegten Rechtsprechung zu Art. 5 Ziff. 3 EMRK (personelle Funktionenteilung) nicht erfüllt wären. Unbestrittenermassen hat hier der gleiche Amtsstatthalter die Haft angeordnet, die Untersuchung geführt, die Strafverfügung vom 13. September 2004 erlassen und die Strafsache (nach unterbliebener Annahme der Strafverfügung durch den Angeschuldigten) anschliessend an das Amtsgericht Luzern-Stadt überwiesen.
Der Einwand, dass eine allfällige persönliche Anklagevertretung vor Gericht und vor den Rechtsmittelinstanzen jeweils grundsätzlich durch die Staatsanwaltschaft als strafprozessualer Partei zu erfolgen hätte, vermag daran nichts zu ändern. Dies umso weniger, als die Staatsanwaltschaft gerade in kleineren Straffällen vor unterinstanzlichen Gerichten nur selten persönlich die Anklage vertritt. Die Luzerner Staatsanwaltschaft räumt selbst ausdrücklich ein, dass «der Staatsanwalt vor Amtsgericht sehr selten persönlich auftritt oder schriftlich Stellung nimmt». Eine separate Anklageschrift des Staatsanwaltes erfolgt grundsätzlich nur bei kriminalgerichtlicher Zuständigkeit. In den anderen Fällen bildet das Überweisungserkanntnis bzw. die Strafverfügung des Amtsstatthalters die Anklageschrift (vgl. § 158 Abs. 1 i. V. m. §§ 129 und 173 Abs. 1 StPO/LU).
Entscheidend ist hier, dass der die Haft anordnende Amtsstatthalter angesichts seiner Untersuchung, der Ausfällung seiner Strafverfügung und der anschliessenden Überweisung der Strafverfügung an das Strafgericht in der gleichen Strafsache mit Untersuchungs- und Anklagefunktionen betraut war. Die kantonalen Behörden bestreiten denn auch mit Recht nicht, dass der überwiesenen motivierten Strafverfügung des Amtsstatthalters die Funktion der Anklageschrift zukommt (welche angesichts des Anklagegrundsatzes obligatorisch ist) bzw. dass aufgrund der amtsgerichtlichen Zuständigkeit keine gesonderte Anklageschrift seitens der Staatsanwaltschaft erfolgt. Ist das Amtsgericht zuständig, stellt der Amtsstatthalter den «schriftlichen Antrag über Schuld, Strafe und Massnahmen» (§ 129 StPO/LU; s. auch §§ 126, 127 Abs. 1 Ziff. 2, 131 Abs. 1, 132 Ziff. 2 und 133ter Abs. 1 StPO/LU). Das Verlesen der «Anträge des Amtsstatthalters oder des Staatsanwaltes» durch den Gerichtspräsidenten gilt gemäss § 173 Abs. 1 StPO/ LU als «Eröffnung der Anklage».
Nach der dargelegten Praxis des EGMR wäre eine Haftanordnung bereits EMRK-widrig, wenn in der Folge der Erlass einer Überweisungsverfügung mit Anklagefunktion durch den haftanordnenden Magistraten möglich erscheint (siehe oben, E. 2.3). Dass ein haftanordnender Magistrat nicht zugleich Anklagefunktionen ausüben kann, ergibt sich im Übrigen auch direkt aus dem luzernischen Strafprozessrecht: Für den Fall, dass ein Staatsanwalt strafprozessuale Haft angeordnet oder einen Strafbefehl erlassen hat, bestimmt § 158 Abs. 2 StPO/LU ausdrücklich, dass «die Anklage nicht durch den gleichen Staatsanwalt erhoben werden» darf. Analoges muss nach der dargelegten Lehre und Praxis auch für den Amtsstatthalter gelten, so weit er gerichtliche Überweisungen mit Anklagefunktion vornimmt.
2.7 Im vorliegenden Fall hat keine unverzügliche Vorführung des Inhaftierten vor eine Richterin oder einen Richter stattgefunden. Die Rüge der Verletzung von Art. 31 Abs. 3 BV erweist sich daher als begründet. Insofern ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. (Urteil 1P.553/2004/gij der I. Öffentlich-rechtlichen Abteilung vom 2. November 2004, BGE-Publikation vorgesehen)
Kommentar
Das Bundesgericht hält fest, dass Art. 31 Abs. 3 BV über Art. 5 Ziff. 3 EMRK hinausgeht und dass die neue Bundesverfassung verlangt, dass der Inhaftierte «unverzüglich einem Richter oder einer Richterin vorgeführt werden muss». Angesichts dieser Rechtslage erstaunt es, dass der Kanton Luzern wie auch einige andere Kantone noch fast fünf Jahre nach Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung es bisher zugelassen haben, dass der weisungsgebundene Untersuchungsrichter, der die Strafuntersuchung führt und am Schluss faktisch sogar die Anklage erhebt, die Haft anordnet. Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass die Haftanordnung durch den Untersuchungsrichter im Kanton Luzern in der Regel nur eine Hafteröffnung war (das entsprechende Protokoll wurde auch als Hafteröffnung bezeichnet).
Es ging also nur darum, dass der Untersuchungsrichter dem Angeschuldigten mitteilte, dass er in Untersuchungshaft genommen wird. Der Inhaftierte hatte dabei keine Möglichkeit, seine Argumente dagegen vorzutragen und de facto hat er also nicht einmal die Möglichkeit gehabt, das rechtliche Gehör betreffend Untersuchungshaft auszuüben. Aufgrund dieses Bundesgerichtsurteils sollte der Kanton Luzern schnellstmöglich einen unabhängigen Haftrichter einführen. Die im Kanton Luzern nun neu eingeführte Übergangslösung, dass die Untersuchungshaft nicht durch den gleichen Untersuchungsrichter angeordnet wird, der die Strafuntersuchung führt, darf nicht genügen. Dies umso mehr als die eidgenössische Strafprozessordnung vermutlich in den nächsten fünf bis sieben Jahren noch nicht in Kraft tritt. Allenfalls muss mit weiteren staatsrechtlichen Beschwerden sichergestellt werden, dass in den betroffenen Kantonen nun schnellstmöglich unabhängige Haftrichter in allen Untersuchungshaftfällen amten.
In concreto hat das Obergericht des Kantons Luzern nach der Rückweisung durch das Bundesgericht vorliegend angeordnet, dass der Amtsgerichtspräsident II von Luzern-Stadt als ausserordentlicher Haftrichter zu amten hat. Der Amtsgerichtspräsident II von Luzern-Stadt hat die Untersuchungshaft dann aufgehoben, Thomas Wüthrich, Luzern
Medienrecht
IV-Sendung von”10 vor 10” verletzt Konzession
Die Unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) hiess eine Beschwerde von Geschädigtenanwälten gegen «10 vor 10» gut. Der Beitrag erweckte zu Unrecht den Eindruck, der Kampf für IV-Renten sei ein lukratives Geschäft.
Sachverhalt:
Am 16. Februar 2004 strahlte das Schweizer Fernsehen DRS (im Folgenden SF DRS) im Rahmen des Nachrichtenmagazins «10 vor 10» den Beitrag «IV-Rente» aus, der besonders die Rolle der Anwälte bei Verfahren im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung (IV) thematisiert (Dauer: rund sechseinhalb Minuten).
Aus den Erwägungen:
2. Die Beanstandung definiert das Anfechtungsobjekt und begrenzt insofern die Prüfungsbefugnis der UBI. Diese ist bei der Prüfung des anwendbaren Rechts frei und nicht an die Vorbringen der Parteien gebunden (vgl. dazu Dumermuth, a. a. O., Rz. 453). Der Beschwerdeführer macht geltend, der beanstandete Beitrag verletze mit «Fehlinformationen, Weglassungen, Verdrehungen und Unterstellungen» das Sachgerechtigkeitsgebot von Art. 4 Abs. 1, 1. Satz RTVG. Der von ihm zusätzlich angeführte Programmauftrag von Art. 3 der SRG-Konzession geht inhaltlich nicht weiter als Art. 4 RTVG, weshalb sich eine separate Prüfung erübrigt.
Da der Beschwerdeführer ebenfalls die mangelnde Anonymisierung im Zusammenhang mit der Darstellung von S rügt, muss die Sendung auch auf Vereinbarkeit mit dem programmrechtlich gebotenen Schutz der Privatsphäre geprüft werden.
4. Die UBI prüft im Zusammenhang mit dem Sachgerechtigkeitsgebot von Art. 4 Abs. 1, 1. Satz RTVG, ob dem Publikum aufgrund der in der Sendung oder im Beitrag vermittelten Fakten und Meinungen ein möglichst zuverlässiges Bild über einen Sachverhalt oder ein Thema vermittelt worden ist, so dass es sich darüber frei eine eigene Meinung bilden kann (VPB 62/1998, Nr. 50, S. 459; 60/1996, Nr. 24, S. 183). Fehler in Nebenpunkten, welche nicht geeignet sind, den Gesamteindruck der Ausstrahlung wesentlich zu beeinflussen, sind programmrechtlich nicht relevant. In einem zweiten Schritt gilt es allenfalls noch zu prüfen, ob der Veranstalter zentrale journalistische Sorgfaltspflichten (vgl. Dumermuth, a. a. O., Rz. 73–84) wie die Prinzipien der Wahrhaftigkeit, der Transparenz (Art. 4 Abs. 2 RTVG), der fairen Berichterstattung und des Überprüfens übernommener Fakten im Rahmen des Möglichen respektiert hat.
4.1 Bei Sendungen, die schwerwiegende Vorwürfe erheben und so ein erhebliches materielles und immaterielles Schadensrisiko für Direktbetroffene oder Dritte beinhalten, gelten qualifizierte Anforderungen bezüglich der Einhaltung der journalistischen Sorgfaltspflichten. In diesem Falle ist eine sorgfältige Recherche angezeigt, die sich auf Details der Anschuldigungen erstreckt (VPB 62/1998, Nr. 27, S. 201; 60/1996, Nr. 83, S. 745).
Wenn massive Anschuldigungen an Personen, Unternehmen oder Behörden gerichtet werden, ist es unabdingbar, den Standpunkt der Angegriffenen in geeigneter Weise darzustellen. Das Sachgerechtigkeitsgebot verlangt aber nicht, dass alle Standpunkte qualitativ und quantitativ gleichwertig dargestellt werden (unveröffentlichter BGE vom 12. September 2000, 2A.32/2000).
4.2 Gemäss Praxis der UBI ist zur Beurteilung einer Sendung oder eines Beitrags im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Sachgerechtigkeitsgebot neben der Würdigung jeder einzelnen Information auch der Gesamteindruck entscheidend (VPB 62/1998, Nr. 27, S. 200; 58/1994, Nr. 46, S. 373; BGE 114 Ib 334, 343). Bei der Würdigung einer Sendung im Hinblick auf die programmrechtlichen Anforderungen steht der Schutz des Publikums im Vordergrund (VPB 62/1998, Nr. 27, S. 200; BGE 119 Ib 166, 169). Dabei gilt es auch den Charakter und die Eigenheiten des in Frage stehenden Sendegefässes zu beachten.
5. Der Grossteil der Rügen des Beschwerdeführers bezieht sich auf den ersten Teil des Filmberichts, welcher in allgemeiner Weise die Rolle der Anwälte bei IV-Verfahren thematisiert.
5.1 Dieser erste Teil des Filmberichts verfolgt den Zweck, die Behauptung in der Anmoderation, wonach IV-Fälle für Rechtsanwälte ein «gutes Geschäft» seien, zu belegen.
Beatrice Breitenmoser und Hans-Heinrich Brunner als Experten erklären, die Anwälte hätten die IV entdeckt und würden «fleissig» Einsprachen gegen negative Rentenentscheide machen. Erwin Murer als weiterer Experte spricht von 12 000 Einsprachen im letzten Jahr. Der Off-Kommentar folgert daraus, dass dies offensichtlich ein Geschäft für die Anwälte sei. Als weiterer Beleg dafür dient «10 vor 10» die «hohe» Zahl der auf der Website des Schweizerischen Anwaltsverbandes angeführten spezialisierten Anwälte. Die Rechtsanwälte seien gemäss Off-Kommentar im Übrigen auch verantwortlich dafür, dass mehr IV-Renten zugesprochen würden, was zu einer Steigerung der Verluste der IV führe («1,5 Milliarden Franken Verlust allein im letzten Jahr. Der Grund: Immer mehr Menschen erhalten eine IV zugesprochen, nicht zuletzt dank der Hilfe von Rechtsanwälten.»).
5.2 Die Behauptung, wonach erfolgreiche IV-Einsprachen Rechtsanwälten «happige Honorare» ermöglichen, begründet «10 vor 10» ausschliesslich mit der angeblich hohen Zahl von Einsprachen gegen IV-Entscheide und mit den angeblichen vielen auf das Sozialversicherungsrecht spezialisierter Anwälte.
Für den Grossteil der Zuschauer mag diese Schlussfolgerung vor allem auch aufgrund der Statements von Experten, welche sich nicht auf die Honorare, sondern auf die Zahl involvierter Anwälte beziehen, zutreffend erscheinen. «10 vor 10» hat es denn auch unterlassen, die genannten Zahlen kritisch zu hinterfragen bzw. zusätzliche Begründungen für das angeblich lukrative Geschäft der Anwälte mit IV-Renten anzuführen.
5.2.1 Das Statement von Prof. Erwin Murer, wonach in der Schweiz im ersten Jahr rund 12 000 Einsprachen gegen IV-Entscheide eingegangen seien, dürfte zutreffen, wird aber ohne weitere Erklärung im Raum stehen gelassen. Die Aussage «im ersten Jahr» bezieht sich auf das erste Jahr seit Inkrafttreten des Allgemeinen Teils zum Sozialversicherungsrecht (ATSG, SR 830.1). Der Grossteil des Publikums überhört «das erste Jahr», da er keine Kenntnis vom Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 hat.
Das Publikum kommt zum Schluss, dass die Anwälte nun wirklich die IV entdeckt hätten und ein wahrer Boom eingesetzt habe. Auch die nachfolgenden, allgemein gehaltenen Aussagen von Professor Murer bringen für das Publikum keine Aufklärung. Erst mit diesem Wissen über die neue gesetzliche Grundlage könnte dieses die Anzahl der mutmasslichen Einsprachen von 12 000 im vergangenen Jahr und die Aussage, wonach der Markt zu beobachten sei, einordnen. Dabei ist davon auszugehen, dass nicht zwangsläufig alle Eingaben von Rechtsanwälten verfasst wurden.
5.2.2 Die Aussage, wonach die Anwälte bei erfolgreichem Ausgang in einem Verfahren um eine IV-Rente ein happiges Honorar erzielen würden, ist in diesem Kontext unzutreffend. Vielmehr sind die Entschädigungen bei Einsprachen und Beschwerden im IV-Verfahren relativ bescheiden; sie werden zum grössten Teil nach dem angemessenen Zeitaufwand, zum Teil auch nach festen Tarifen festgesetzt. Bei Einsprachen muss in Sozialversicherungsverfahren in der Regel keine Parteientschädigung ausgerichtet werden (Art. 52 Abs. 3 ATSG).
Gemäss Botschaft soll damit ermöglicht werden, einer Partei, welcher eine unentgeltliche Vertretung bestellt wurde, bei Gutheissung der Einsprache eine Parteientschädigung zuzusprechen (BBl 1999, S. 4612; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, N 28 zu Art. 52). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass im Einsprache- und Einsprachebeschwerdeverfahren der Partei ohnehin häufig ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt wird.
In solchen Fällen kommt regelmässig ein reduzierter Ansatz zur Anwendung (vgl. Kieser, a. a. O., N 92 zu Art. 61 ATSG). Schliesslich bleibt zu berücksichtigen, dass im Beschwerdeverfahren die Parteientschädigung an die obsiegende Partei ohne Rücksicht auf den Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses zu bemessen ist (Art. 61 Bst. g ATSG; auch Kieser, a. a. O., N 101 ff. zu Art. 61 ATSG).
5.2.7 Weder Rechtsanwalt D, über den und dessen Klienten S im zweiten Teil der Reportage berichtet wird, noch ein anderer auf das Sozialversicherungsrecht spezialisierter Anwalt können zu den gegen sie gerichteten Vorwürfen Stellung nehmen. Ihnen wird insbesondere vorgehalten, dass sie ausschliesslich von materiellen Interessen geleitet würden. Implizit wird ihnen aber auch eine Verantwortung für das wachsende Defizit bei der IV zugesprochen. Entsprechende Vorwürfe sind von so gravierender Natur, dass die angegriffene Berufsgruppe damit konfrontiert werden muss und ihr Standpunkt in angemessener Form im Beitrag zu präsentieren ist.
5.2.8 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der erste Teil des Filmbeitrags erhebliche Mängel aufweist. Wesentliche Fakten, welche zur Meinungsbildung über die Attraktivität von IV-Einspracheverfahren für Anwälte beigetragen hätten, wie beispielsweise Grundlagen über die Honorarordnung, werden nicht erwähnt. Weder ein auf das Sozialversicherungsrecht spezialisierter Rechtsanwalt noch ein Vertreter des Schweizerischen Anwaltsverbands konnten sich äussern. Argumente wie die angeblich hohe Zahl von spezialisierten Anwälten und von Einsprachen in IV-Verfahren erhielten dadurch zu viel Gewicht, auch weil sie nicht kritisch hinterfragt wurden. Das Publikum konnte sich daher keine zutreffende Meinung zum ersten, allgemeinen Teil des Filmberichts bilden.
5.3 Der Beschwerdeführer rügt ebenfalls den zweiten Teil des Filmbeitrags. Der darin dargestellte Fall von S, vertreten durch einen Rechtsanwalt, soll offenbar die Rolle von Anwälten bei IV-Verfahren, wie sie im ersten Teil des Filmbeitrags in genereller Weise dargestellt wird, exemplarisch veranschaulichen.
5.3.1 Angesichts der im ersten Teil des Filmbeitrags vertretenen Behauptung, die Anwälte hätten die IV insbesondere im letzten Jahr entdeckt, erstaunt, dass ein Fall aus dem Jahre 1991 als Beispiel dient. Die Sendung «Kassensturz» hatte damals über den Fall von S berichtet, weshalb auch Archivaufnahmen von ihm bestehen, woraus im beanstandeten Beitrag mehrere Sequenzen gezeigt werden. «10 vor 10» hat, mit der nicht ganz unwesentlichen Ausnahme der Schlusssequenz, die entsprechenden Bilder mit der Einblendung «Archiv» gekennzeichnet. Nicht Erwähnung findet dagegen, dass S im damaligen «Kassensturz»-Beitrag sehr positiv dargestellt worden ist, als einer, der lange kämpfen musste, um sich und damit auch anderen Schleudertrauma-Patienten zum Recht zu verhelfen.
5.3.2 Im vorliegend beanstandeten Beitrag wird S in einem ganz anderen Licht gezeigt. Der Off-Kommentar führt etwa aus, dass sein Hausarzt ihn als Person erlebt habe, die auf eine IV-Rente aus gewesen sei. Der Hausarzt bestätigt dies im nachfolgenden Statement und bemerkt zusätzlich, dass sein Patient Umschulungsmassnahmen auf Drängen seines Anwalts abgelehnt habe. Weiter wird im Beitrag aus einem Gutachten eines anderen Arztes vorgelesen, wonach sich keine Unfallfolgen mehr objektivieren liessen. Später führt der Off-Kommentar aus: «S fand schlussendlich einen Arzt, der ihm seine Invalidität bescheinigte. Die IV musste zahlen.»
Der Beitrag endet mit der Aussage, dass S. dank der Hilfe seines Anwalts nun bis zu seiner Pension wahrscheinlich 1 Million Franken aus der Invalidenversicherung erhalten werde. Insgesamt vermittelt die Darstellung des Falls von S dem Publikum den Eindruck, die Berentung sei ungerechtfertigt erfolgt.
5.3.3 Unerwähnt bleibt, dass der Zusprechung einer IV-Rente an S ein langes Verfahren vorausgegangen ist. Das Eidgenössische Versicherungsgericht bestätigte in einem Grundsatzurteil 1991 die vorhandenen Beschwerden und Einschränkungen sowie den Kausalzusammenhang zum Strassenverkehrsunfall (BGE 117 V 359). Anschliessend hatte die Suva die Versicherungsansprüche festzulegen. Schliesslich musste die Suva ihre Regressansprüche und diejenigen der Invalidenversicherung mit dem betroffenen Haftpflichtversicherer klären. Dies erfolgte in einem Vergleich, der 1997 zustande gekommen ist.
In diesem ganzen Verfahren wurden wiederholt und in umfassender Weise fachärztliche Abklärungen durchgeführt und berufliche Wiedereingliederungsmassnahmen geprüft, welche den im Filmbeitrag gemachten Aussagen des damaligen Hausarztes von S und dem zitierten Gutachten widersprechen. Diese Fakten werden dem Publikum vorenthalten. Der Filmbeitrag vermittelt den Eindruck, dass S dank einem willfährigen Arzt und den damit verbundenen Bemühungen seines Anwalts ohne weiteres zu einer IV-Rente gekommen ist. Da zum ganzen Verfahren einzig gesagt wird, es handle sich um ein Präjudiz, ohne weiter darauf einzugehen, erhalten die Aussagen seines Hausarztes und das zitierte Gutachten ein viel zu hohes Gewicht, was zu einer Verzerrung des Sachverhalts führt.
Das Publikum erhält den falschen Eindruck, es handle sich dabei um ganz neue Erkenntnisse, welche im Zusammenhang mit der Berentung von S hätten geprüft werden müssen. Im Lichte der Transparenz gilt es zusätzlich zu bemängeln, dass in der Schlusssequenz, welche den Beschwerdeführer 2 mit seinem Kind zeigt, keine Einblendung erfolgt, welche den Archivcharakter der Aufnahmen klarstellt. Der Standpunkt von S zu verschiedenen relevanten Punkten (zum Beispiel Aussagen des Hausarztes, Gutachten, Verfahren) kommt überhaupt nicht zum Ausdruck.
5.3.4 Hinsichtlich der Darstellung des Anwalts von S gilt es festzuhalten, dass «10 vor 10» explizit erwähnt, dass er kein Erfolgshonorar erhalten habe. Ein Satz seiner schriftlichen Stellungnahme wird vorgelesen. Gleichwohl wird aber die Betonung im Beitrag auf den finanziellen Anreiz für den Anwalt gelegt («Für den Anwalt war dieser Haftpflichtfall ein lukratives Geschäft.»). Die nachfolgenden Statements von Professor Murer und dem Hausarzt von S unterstützen diese Aussage. Unerwähnt bleiben aber auch in diesem Zusammenhang wesentliche Fakten. Die durch die Berentung von S entstandenen und noch entstehenden Kosten gehen nicht bzw. nur zu einem geringen Teil zu Lasten der IV, wie man dies aufgrund des Filmbeitrags vermutet.
Die Regressansprüche der IV gegenüber der Haftpflichtversicherung fanden ebenso wenig Eingang in den Beitrag wie der Umstand, dass im beschriebenen Fall nach Aufwand (Stundenlohn) abgerechnet wurde und keine Streitwertzuschläge erhoben wurden. Die diesbezüglichen Erklärungen von Professor Murer treffen für den Fall von S also nicht zu, obwohl das Publikum dies aus dem Zusammenhang so annehmen musste. Der Standpunkt des Anwalts zu anderen, vor allem vom Hausarzt von S gegen ihn erhobenen Vorwürfen (zum Beispiel er habe S gedrängt, eine Umschulung abzulehnen), kommt im Beitrag ebenfalls nicht zum Ausdruck.
5.4 Insgesamt war es für das Publikum aufgrund des Beitrags nicht möglich, sich eine zutreffende Meinung zum Fall von S zu bilden. Wesentliche Fakten wie das ganze umfangreiche Verfahren bleiben unerwähnt. Statements des früheren Hausarztes von S und Auszüge aus einem Gutachten verwendet der beanstandete «10 vor 10»-Beitrag in tendenziöser Weise. Nicht korrekt sind auch die Darstellungen zu den für die IV aus dem Fall S entstehenden Kosten und zum Honorar des Anwalts. Der Standpunkt der Beschwerdeführer kommt nicht oder in ungenügender Weise zum Ausdruck.
Der Fall von S taugt im Übrigen nicht dazu, die im ersten Teil des Filmberichts und der Anmoderation ausgesprochene Behauptung, wonach IV-Einspracheverfahren für Anwälte attraktiv seien und zu erhöhten Kosten für die IV führe, zu unterstützen. So handelt es sich um einen alten Fall, der nach einem anderen Verfahren durchgespielt wurde. Auch das dem Anwalt von S effektiv ausbezahlte Honorar (nach Aufwand und nicht nach Erfolg, keine Streitwertzuschläge) und die der IV effektiv entstandenen Kosten (Regressforderung gegen Haftpflichtversicherer) eignen sich eher dazu, die pauschalen Behauptungen von «10 vor 10» stark zu relativieren als sie zu unterstützen. Dies war aber für das Publikum aufgrund der im Beitrag präsentierten Fakten zum Fall S nicht möglich.
5.6 Im Rahmen der Prüfung des Beitrags auf die Vereinbarkeit mit dem Sachgerechtigkeitsgebot gilt es in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob journalistische Sorgfaltspflichten verletzt wurden. Dies trifft zu. Indem «10 vor 10» wesentliche Fakten nicht erwähnt, verletzt der Veranstalter das Transparenzgebot (Art. 4 Abs. 2 RTVG).
Die fehlende oder mangelhafte Darstellung des Standpunkts der betroffenen Anwälte (im ersten Teil), von S und dessen Anwalt D (im zweiten Teil) sowie die damit verbundene tendenziöse Gewichtung von Informationen verletzt die Pflicht zu einer fairen Berichterstattung. Die von der Redaktion angeführte Kürze des Beitrags rechtfertigt nicht, wesentliche Fakten nicht zu vermitteln und einen bekannten Sachverhalt (Fall S) verzerrt darzustellen. Überdies hat keine zeitliche Dringlichkeit für die Ausstrahlung des Beitrags bestanden. Da sich das Publikum keine zutreffende Meinung zum Beitrag «IV-Rente» hat bilden können und «10 vor 10» dabei gegen journalistische Sorgfaltspflichten verstossen hat, wurde das Sachgerechtigkeitsgebot von Art. 4 Abs. 1, 1. Satz RTVG verletzt.
6 Der Beschwerdeführer rügt zusätzlich die ungenügende Anonymisierung bezüglich Rentenbezüger S, indem entgegen seinem Willen Archivaufnahmen von ihm ausgestrahlt worden seien.
6.3 Es bestehen vorliegend keine überwiegenden öffentlichen Interessen, die für eine Ausstrahlung des Bildmaterials im erwähnten Umfang gesprochen hätten. Im Gegenteil: Wie schon erwähnt, konnte der Fall S seine ihm im Rahmen des Beitrags zugedachte Funktion, nämlich als Beispiel für die zunehmende Rolle der Anwälte in IV-Einspruchverfahren zu dienen, nicht erfüllen (vgl. vorne Ziffer 5.4). Die von S gezeigten Archivaufnahmen unterstützen einzig die an sich schon tendenziöse Wortberichterstattung. So erwecken die Bilder, die ihn unter anderem bei Spaziergängen mit seinem Hund oder bei der Betreuung seines Kinds zeigen, kaum den Eindruck, dass es sich um eine Person handelt, die bis zur Pensionierung eine IV-Rente benötigt.
Die ohne Einwilligung von S gezeigten Archivaufnahmen sind daher zusätzlich geeignet, sein soziales Ansehen erheblich zu beeinträchtigen, ohne dass im Gegenzug ein öffentliches Interesse an der Ausstrahlung dieser Bilder bestehen würde.
7. Der vorliegend beanstandete Beitrag verletzt sowohl das Sachgerechtigkeitsgebot wie auch die Privatsphäre von S Die Beschwerde erweist sich als begründet. (Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen, b. 490, Entscheid vom 20. August 2004)