Gemäss der Homepage des Schweizerischen Bundesgerichtes haben die beiden öffentlich-rechtlichen Abteilungen im Jahr 2011 rund 2500 Urteile erlassen. Davon wurden 35 Entscheide im Band 137 I und 39 Entscheide im Band 137 II publiziert. Auch wenn das Bundesgericht 2008 in BGE 134 III 534 ausgeführt hat, ein Anwalt müsse «en règle générale» nur die publizierten Entscheide kennen, darf sich eine sorgfältige Rechtsvertretung damit nicht begnügen. Vereinzelt wird daher nachfolgend auch auf unpublizierte Urteile hingewiesen - deren Auswahl ist rein willkürlich.
1. Staats- und Verfassungsrecht
1.1 Allgemeine Verfahrensgarantien
Eine Liefersperre für Elektrizität durch eine öffentlich-rechtliche Anstalt wegen Nichtbezahlung der Gebühren kann nicht durch reinen Realakt umgesetzt werden, sondern bedarf einer Verfügung. Entsprechend muss dem Eigentümer und den Mietern der betroffenen Liegenschaft vorgängig das rechtliche Gehör gewährt werden (BGE 137 I 20).
Um einen Teilaspekt des rechtlichen Gehörs, das Recht auf Replik, ging es in BGE 137 I 195. Das Bundesgericht bekräftigt mit Verweis auf seine Rechtsprechung und jene des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass die Verfahrensbeteiligten Anspruch auf die Zustellung von Vernehmlassungen haben, unabhängig davon, ob diese Eingaben neue und erhebliche Gesichtspunkte enthalten. Die alleinige Möglichkeit der Akteneinsicht genügt nicht, und der Mangel kann damit nicht geheilt werden.
In BGE 137 II 128 (= Pra 2011 Nr. 72) wurde die Rechtmässigkeit von Art. 14 Abs. 4 AsylG (Verweigerung der Parteistellung in kantonalen Verfahren) geprüft. Aufgrund des Anwendungsgebots von Art. 190 BV konnte das Bundesgericht nur darauf hinweisen, dass Art. 14 Abs. 4 AsylG gegen die verfassungsmässig garantierte Rechtsweggarantie verstosse.
BGE 137 I 227 behandelt die Ablehnung von Gerichtspersonen wegen Befangenheit. Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Eine Gerichtsperson, die mit dem Verteidiger eines Beschuldigten Kontakt aufnimmt und ihm den Verzicht auf ein Rechtsmittel nahelegt, nimmt in Kauf, dass ein Ausstandsgrund vorliegt. Das Bundesgericht erachtete das Vorgehen als problematisch, sah im konkreten Fall aber keine Ausstandsgründe für die übrigen Richter des Spruchkörpers, weil keine Hinweise für ein systematisches Einwirken auf Parteivertreter vorlägen.
BGE 137 I 16 thematisiert das Recht auf Akteneinsicht anhand des Falls des ehemaligen Armeechefs Roland Nef. Journalisten hatten Einsicht in die Einstellungsverfügung im Strafverfahren verlangt. Das Bundesgericht hält fest, dass das Prinzip der Justizöffentlichkeit und die daraus abgeleiteten Informationsrechte von zentraler rechtsstaatlicher und demokratischer Bedeutung sind. Sie sorgen für Transparenz in der Rechtspflege, was eine demokratische Kontrolle durch das Volk erst ermöglicht, und bedeuten damit eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz. Die Öffentlichkeit habe ein schutzwürdiges Interesse daran zu wissen, weshalb es zu nichtgerichtlichen Verfahrenserledigungen ohne Straffolgen durch Sach- und Prozessentscheide komme. Entgegenstehende Interessen der Justizbehörden und der Verfahrensbeteiligten sind dagegen abzuwägen und die Akten unter Umständen zu anonymisieren beziehungsweise abzudecken.
Thema von BGE 137 I 218 war das Beweisverwertungsverbot. Bei unrechtmässig erlangten Beweismitteln ist eine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung und dem privaten Interesse der angeklagten Person (Garantie des Privatlebens, Gebot des fairen Verfahrens) zu treffen.
1.2 Grundrechte
1.2.1 Treu und Glauben
In BGE 137 I 69 ging es um den Widerruf einer rechtsbeständigen Verfügung, nämlich eines positiven Prüfungsentscheids einer Abschlussprüfung für das Lehrdiplom der Musikhochschule des Konservatoriums Freiburg. Die Verfügung war insofern ursprünglich fehlerhaft, als der Klaviervortrag des Prüflings unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hatte, obwohl der Vortrag gemäss einer Verordnung hätte öffentlich sein müssen. Das Bundesgericht prüfte lehrbuchmässig die Voraussetzungen für einen Widerruf, wobei dieser in den einschlägigen Gesetzen nicht geregelt war. Zunächst wurden die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes geprüft und bejaht. Anschliessend nahm das Gericht eine Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der richtigen Durchführung des objektiven Rechts (Legalitätsprinzip) und der Rechtssicherheit (Vertrauensschutz) vor und gab letzteren den Vorzug.
1.2.2 Verbot willkürlicher Rechtsanwendung
Rügen der willkürlichen Rechtsanwendung sind selten erfolgreich. In BGE 137 I 161 (= Pra 2011 Nr. 113) drang die Rüge jedoch durch. Es sei willkürlich, aus der Zuständigkeit des Instruktionsrichters zur Abschreibung von Verfahren abzuleiten, derselbe Richter sei auch einzelrichterlich zuständig, auf eine Beschwerde nicht einzutreten, wenn der Kostenvorschuss verspätet geleistet worden ist. Die Begriffe des Eintretens und der Abschreibung seien von Grund auf unterschiedlicher Natur.
In BGE 137 I 1 erachtete es das Bundesgericht hingegen nicht als willkürliche Anwendung des kantonalen Gesetzes über die Information und den Datenschutz, wenn die Verwaltungskommission des Obergerichts Zürich ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Geheimhaltung der einem Handelsrichter ausgerichteten Taggelder angenommen hat. Die Bekanntgabe würde dazu führen, dass die Arbeitsweise des Richters und damit auch der Ausgang eines Verfahrens durch prozessfremde Elemente beeinflusst und damit die Unabhängigkeit des Gerichts in Frage gestellt würde.
Der Entscheid des kantonalen Gerichts, eine Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers mit sofortiger Wirkung in eine Kündigung aus wichtigen Gründen mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten umzuwandeln, war ebenfalls nicht willkürlich (BGE 137 I 58 = Pra 2011 Nr. 71).
Ebenso wenig sah das Bundesgericht im Urteil 2C_578/2010 vom 20. Januar 2011 eine willkürliche Rechtsanwendung, wenn die Gebäudeversicherung die Versicherungsleistung bei Unterversicherung auch bei einem nur teilweisen Gebäudeschaden proportional kürzte. Verfahrensrechtlich war ein Zwischenentscheid - Rückweisung an die Vorinstanz im Sinne der Erwägungen - angefochten worden. Weil bei Gutheissung ein weitläufiges Beweisverfahren erspart werden könne, trat das Bundesgericht auf die Beschwerde ein.
Im Urteil 2D_10/2011 vom 15. Juni 2011 scheiterte ein Jurist mit dem Versuch, das Anwaltspatent im Kanton Solothurn auf dem Rechtsweg zu erlangen. Die Verfassungsbeschwerde wurde abgewiesen. Die Bestimmung in der Juristischen Prüfungsordnung, wonach die mündliche Prüfung bestanden ist, wenn in jedem Fach mindestens das Prädikat «genügend» erteilt wird - eine Kompensation ungenügender Teilnoten also nicht möglich ist -, ist weder willkürlich, noch verletzt sie das Rechtsgleichheitsgebot.
1.2.3 Recht auf Hilfe in Notlagen
Im Entscheid 137 II 113 (= Pra 2011 Nr. 82) ging es um das Recht auf Nothilfe von abgewiesenen und auf die Wegweisung wartenden Asylsuchenden und die Frage, welcher Kanton dafür zuständig sei. Dies sei der Zuweisungskanton. Das Recht auf Hilfe in Notlagen dürfe nicht dazu dienen, Entscheide zur kantonalen Zuweisung eines Asylsuchenden zu ändern oder zu unterlaufen.
1.2.4 Schutz der Privatsphäre
Gegenstand von BGE 137 I 167 (= Pra 2011 Nr. 125) war die abstrakte Normenkontrolle des genferischen Gesetzes über die Prostitution. Neben anderen Verfassungsverletzungen (Wirtschaftsfreiheit, Gleichbehandlung, Vorrang des Bundesrechts) wurde ein Verstoss gegen die Privatsphäre (Anspruch auf Schutz vor Missbrauch der persönlichen Daten) gerügt. In der Verpflichtung des Betreibers eines Prostitutionsunternehmens, ein Verzeichnis der in seinem Unternehmen tätigen Prostituierten und der anerbotenen Dienstleistungen zu führen, sah das Bundesgericht keinen Verstoss gegen die Privatsphäre. Ebenso wenig in den Bestimmungen, welche die Behörden ermächtigen, Kunden von Erotikbetrieben einer Identitätskontrolle zu unterziehen. Diese seien einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich, wobei das Bundesgericht im Entscheid Leitlinien dafür setzte.
BGE 137 I 3271 befasst sich mit der Observation von IV-Empfängern. Die Beobachtung eines Privaten durch einen Privatdetektiv im frei einsehbaren privaten Raum, hier dem Balkon, sei eine Verletzung der Privatsphäre. Das Bundesgericht erachtete allerdings im konkreten Fall die Voraussetzungen für diesen Grundrechtseingriff als gegeben.
Die Privatsphäre war betroffen in BGE 137 II 4312 zur Herausgabe von Kundendossiers der Grossbank UBS durch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma). Die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Person gehören zu deren Privatsphäre, die durch Art. 28 ff. ZGB geschützt ist und einen Teilgehalt des Grundrechts auf Schutz der Privatsphäre bildet. Anders als das Bundesverwaltungsgericht erachtete das Bundesgericht die Herausgabe gestützt auf die polizeiliche Generalklausel als zulässig.
1.2.5 Medienfreiheit
In BGE 137 I 8 war zu prüfen, ob ein Redaktor des Schweizer Fernsehens ein Fernsehinterview mit einem Insassen der Strafanstalt Pöschwies durchführen dürfe. Die Durchführung eines Fernsehinterviews in einer Strafanstalt fällt unabhängig vom konkreten Inhalt des Beitrags in den Schutzbereich der Medienfreiheit, sodass bei einer Verweigerung die Eingriffsvoraussetzungen geprüft werden müssen. Bei der Interessenabwägung sind die Interessen an einem sicheren und geordneten Strafvollzug wie auch allfällige Beeinträchtigungen von Rechten Dritter gegen das Interesse der Medienschaffenden am Porträtieren eines Anstaltsinsassen abzuwägen.
BGE 137 I 209 betrifft den Ausschluss eines Gerichtsberichterstatters der Tageszeitung «Blick» von einer nicht öffentlichen strafgerichtlichen Hauptverhandlung, weil sich der Reporter nicht an bestimmte Auflagen zur Wahrung der Anonymität der Verfahrensbeteiligten halten wollte. Laut Bundesgericht hält der Ausschluss vor der Medienfreiheit stand.
1.2.6 Eigentumsgarantie
Die Unterschutzstellung der Parkanlage Villa Sihlberg in Zürich stellt gemäss Urteil 1C_444/2010 vom 11. Februar 20113 keinen schweren Eingriff in die Eigentumsgarantie dar, sodass das Bundesgericht die Auslegung des kantonalen Rechts nur unter dem Aspekt der Willkür prüfte, die Eingriffsvoraussetzung der Verhältnismässigkeit jedoch frei. Andere Villengärten wurden als nicht vergleichbar erachtet, sodass auch die Rüge der Verletzung des Gleichbehandlungsgebots nicht durchdrang.
1.2.7 Wirtschaftsfreiheit
In einer abstrakten Normenkontrolle prüfte das Bundesgericht im Urteil 2C_940/2010 vom 17. Mai 2011 die Taxiverordnung der Stadt Zürich. Das Bundesgericht hielt dafür, die Festlegung von Höchsttarifen sei mit der Wirtschaftsfreiheit vereinbar und diene dem Schutz der Kunden vor Übervorteilung, nicht jedoch einheitliche Preise und Mindestpreise. Eine solche Tarifordnung ist direkt gegen den Wettbewerb gerichtet und stellt eine unzulässige Abweichung von der Wirtschaftsfreiheit dar. Das Verbot, vom Gebiet der Stadt Zürich aus Fahraufträge an Taxis zu vermitteln, die keine Betriebsbewilligung und keinen Taxiausweis der Stadt Zürich haben, verstösst gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Gewerbegenossen und das Binnenmarktgesetz, weil damit der Markt abgeschottet würde.
Gemäss BGE 137 II 425 hat die Präsidentin der Aufsichtskammer der Anwälte des Kantons Wallis einen Anwalt, der rechtskräftig wegen falscher Anschuldigung von Anwaltskollegen verurteilt worden war, als Administrativmassnahme zu Recht aus dem Anwaltsregister gelöscht.
1.2.8 Freiheitsentzug
Art. 31 Abs. 4 BV geht weiter als Art. 5 Ziff. 4 EMRK, indem er jeder von einem Freiheitsentzug betroffenen Person das Recht einräumt, «jederzeit ein Gericht anzurufen», damit dieses so rasch als möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzuges befinde. Der Richter soll jederzeit und direkt angerufen werden können und nicht bloss auf indirektem Weg. Das Gericht hat nach der Verfassungsnorm «so rasch wie möglich» beziehungweise nach der Konventionsbestimmung «innerhalb kurzer Frist» zu entscheiden. Art. 31 Abs. 4 BV stellt eine besondere Rechtsweggarantie dar, die weiter reicht als Art. 29a BV. Art. 80 Abs. 2 des Ausländergesetzes regelt die Überprüfung von Amtes wegen, Art. 31 Abs. 4 BV die durch einen Beschwerdeführer ausgelöste Haftüberprüfung (BGE 137 I 23).
1.3 Konventionsgarantien
Gegenstand von BGE 137 I 31 war das Konkordat über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen, welches wie ein kantonaler Erlass angefochten werden kann. Das Bundesgericht prüft bei einer abstrakten Normenkontrolle, ob die betreffende Norm verfassungs- oder konventionskonform ausgelegt werden kann. Die im Konkordat vorgesehene Möglichkeit des Polizeigewahrsams zur Durchsetzung von Rayonverboten lässt sich unter die von Art. 5 EMRK zugelassenen, abschliessend aufgezählten Freiheitsbeschränkungen subsumieren.
BGE 138 I 86 erging in Revision eines bundesgerichtlichen Urteils, in welchem die Kostenübernahme einer Geschlechtsanpassungsoperation durch die obligatorische Krankenversicherung verneint worden war, weil der Betroffene die zweijährige Wartefrist nicht abgewartet hatte. Der EGMR hatte eine Verletzung von Art. 6 und Art. 8 EMRK festgestellt. Art. 6 Ziff. 1 EMRK war verletzt worden, weil das Eidgenössische Versicherungsgericht trotz ausdrücklichen Antrags der Versicherten keine öffentliche Verhandlung durchgeführt hatte und weil es Beweisanträge der Versicherten zum Nachweis des Transsexualismus abgelehnt hatte. Einen Anspruch auf Kostenübernahme hatte der EGMR verneint. Hingegen sei das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK), welches auch die persönliche Entfaltung sowie die psychische und geistige Integrität der Transsexuellen garantiert, insofern verletzt, als keine genügende Interessenabwägung zur Frage der Kostenübernahme stattgefunden habe.
Art. 8 EMRK war auch in BGE 137 I 154 angerufen worden. Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Es enthält jedoch nicht zwingend das Recht, die biologische Verbindung in ein Rechtsverhältnis umzuwandeln. Eine Vaterschaftsanfechtungsklage ist an Fristen gebunden, was grundsätzlich EMRK-konform ist. Die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern geniessen nach der Rechtsprechung des EGMR nicht den Schutz von Art. 8 EMRK, sofern nicht ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht, welches über die normalen affektiven Bindungen hinausgeht. Eine volljährige Frau, welche von ihrem leiblichen Vater adoptiert werden und die Stiefkindadoption aufheben lassen wollte, drang daher mit ihrem Begehren nicht durch.
Um das mit Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens und die Frage des Familiennachzugs ging es in den beiden BGE 137 I 247 und 137 I 284. Art. 8 EMRK kann nur angerufen werden, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme zur Trennung von Familienmitgliedern führt. Der Anspruch gilt jedoch nicht in absoluter Weise. Nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist ein Eingriff statthaft, soweit er eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesellschaft und Moral sowie der Rechte und Pflichten anderer notwendig erscheint. Die Konvention verlangt eine Abwägung der sich gegenüberstehenden individuellen Interessen an der Erteilung der Bewilligung einerseits und der öffentlichen Interessen an deren Verweigerung - zum Beispiel auch der Durchsetzung einer restriktiven Einwanderungspolitik - andererseits.
In BGE 137 I 247 war umstritten, ob einem Schweizer Kind zugemutet werden dürfe, seiner ausländischen sorge- und obhutsberechtigten Mutter ins Ausland zu folgen (sogenannter «umgekehrter Familiennachzug»). Dies wurde verneint, was zur Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung der Mutter führte.
In BGE 137 I 284 bejahte das Bundesgericht in Änderung seiner Praxis den Familiennachzug durch Ausländer mit einer Aufenthaltsbewilligung, unabhängig davon, ob es um einen Gesamt- oder Teilfamiliennachzug (beide Elternteile oder nur Vater oder Mutter) geht. In Erwägung 2.7 werden die Voraussetzungen dazu aufgeführt.
1.4 Politische Rechte
Im Urteil 1C_472/2010 vom 20. Januar 20114 war die Abstimmungspropaganda der Ärzteschaft zur Initiative «Ja zur Wahlfreiheit beim Medikamentenbezug» zu beurteilen. Das Bundesgericht hält in ständiger Rechtsprechung fest, dass bei offensichtlich falschen oder irreführenden Informationen die Behörden im Einzelfall zur Richtigstellung verpflichtet sein können, ihnen dabei aber ein grosser Ermessensspielraum zusteht. Dies, zumal ein Eingreifen im Spannungsfeld zur Meinungsfreiheit steht. Eine Verpflichtung wurde hier verneint, weil sich die Stimmberechtigten ein zuverlässiges Bild vom Abstimmungsgegenstand hätten machen können
Im Kanton Neuenburg gelangten ein Gesetz über die Besteuerung von Unternehmen und ein Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative für Kindertagesstätten gleichzeitig zur Abstimmung. Die Vorlagen waren derart verknüpft, dass beide angenommen werden mussten, damit sie in Kraft treten. In BGE 137 I 200 (= Pra 2011 Nr. 59) - gefällt zwanzig Tage nach Einreichung der Beschwerde - sah das Schweizerische Bundesgericht darin eine Verletzung des Grundsatzes der Einheit der Materie und damit der Abstimmungsfreiheit, weil zwischen den Vorlagen kein sachlicher innerer Zusammenhang bestand.
Bei der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform wurde vom Bundesgericht im Urteil 1C_176/2011 vom 20. Dezember 2011 (zur Publikation vorgesehen) festgestellt, dass die Abstimmungsfreiheit verletzt worden war, weil die Abstimmungserläuterungen des Bundesrates unvollständig und unsachlich gewesen waren. Obwohl nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Verletzung sich wegen ihrer Schwere und in Anbetracht des knappen Resultats auf den Ausgang tatsächlich ausgewirkt habe, sah das Bundesgericht wegen Treu und Glauben und der Rechtssicherheit (das Gesetz war seit 1. Januar 2009 in Kraft) von einer Aufhebung der Abstimmung ab. Im Dispositiv hat das Bundesgericht die Beschwerde «im Sinne der Erwägungen abgewiesen».
1.5 Gemeindeautonomie
BGE 137 I 235 befasste sich wieder einmal mit einer kommunalen Einbürgerung. Die Gemeindeversammlung hatte die Zusicherung des Gemeindebürgerrechts verweigert, der Regierungsrat die dagegen erhobene Beschwerde der betroffenen Pakistani abgewiesen, das Verwaltungsgericht aber diesen Entscheid aufgehoben und die Gemeinde angewiesen, die Sprachkenntnisse der Gesuchsteller nochmals zu beurteilen. Die Gemeinde rügt mit Verfassungsbeschwerde die Verletzung der Gemeindeautonomie. Die Gemeinde konnte diesen Rückweisungsentscheid anfechten, weil ihr nicht zuzumuten ist, einer von ihr als falsch erachteten Weisung Folge zu leisten, um später ihren eigenen Entscheid anzufechten. Das Bundesgericht bejaht nach Auslegung der kantonalen Bestimmungen die Autonomie der betroffenen Gemeinde bei der Verleihung des Gemeindebürgerrechts, weist aber darauf hin, dass die Gemeinden bei ihrem Entscheid an die Kriterien des Bürgerrechts gebunden sind. Den Gemeinden steht ein weiter Ermessensbereich zu; die Rechtsmittelinstanzen dürfen nur eingreifen, wenn die Gemeinde ihr Ermessen nicht pflichtgemäss ausübt. Indem das Verwaltungsgericht Mindesterfordernisse an die Ermittlung der Sprachkenntnisse gestellt hat, hat es die Gemeindeautonomie nicht verletzt.
2. Verwaltungsrecht
2.1 Fremdenpolizei
Die Entscheide im Gebiet der Fremdenpolizei betreffen häufig auch das in der EMRK garantierte Recht auf Achtung des Familienlebens und wurden dementsprechend im Band I publiziert (vgl. oben Ziff. 1.3).
In BGE 137 II 1 stellte sich die Frage, ob ein mit einer Schweizerin verheirateter Inder nach deren Tod einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung habe. Gemäss Bundesgericht stellt der Tod des Ehepartners allein keinen wichtigen persönlichen Grund (Härtefall) dar, der zwingend zur Verlängerung führt. Es müssen die Umstände des Einzelfalls geprüft werden, wobei das öffentliche Interesse an einer restriktiven Einwanderungspolitik nicht entscheidend sei, sondern die persönliche Situation des Betroffenen.
Auch in BGE 137 II 345 war umstritten, ob ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach Auflösung der Ehe (nachehelicher Härtefall) bestand. Bei der Prüfung des Einzelfalls muss auch die Möglichkeit der sozialen Wiedereingliederung im Herkunftsland berücksichtigt werden. Die Rückkehr ins Herkunftsland, die Demokratische Republik Kongo, erscheine problematisch, was von der Vorinstanz vertieft geprüft werden musste.
Die beiden BGE 137 II 10 und 137 II 297 betrafen den Widerruf von Niederlassungsbewilligungen. Bei Ausländern, welche sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, kann die Niederlassungsbewilligung nur aus bestimmten Gründen (Verstoss gegen öffentliche Sicherheit; Sozialhilfeabhängigkeit) widerrufen werden.
In BGE 137 II 10 äusserte sich das Bundesgericht zum Begriff des «ordnungsgemässen Aufenthalts». Als solcher gilt in der Regel nur der ausdrücklich bewilligte Aufenthalt, nicht hingegen jener einer weggewiesenen Person.
In BGE 137 II 297 wurde der Widerrufsgrund des «schwerwiegenden Verstosses gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung» ausgelegt. Ein solcher liegt vor, wenn durch die Handlungen besonders hochwertige Rechtsgüter wie zum Beispiel die körperliche, psychische und sexuelle Integrität eines Menschen verletzt oder gefährdet wurden. Vergleichsweise weniger gravierende Pflichtverletzungen können gegebenenfalls in ihrer Gesamtheit als «schwerwiegend» bezeichnet werden.
Über eine Ausweisung wegen Gefährdung ist möglichst früh, jedenfalls vor dem Ende des Straf- oder Massnahmenvollzugs, zu entscheiden (BGE 137 II 233). Das Bundesgericht erinnert daran, dass Strafrecht und Ausländerrecht unterschiedliche Ziele verfolgen und unabhängig voneinander anzuwenden sind. Der Straf- und Massnahmenvollzug hat nebst der Sicherheitsfunktion eine resozialisierende bzw. therapeutische Zielsetzung; für die Fremdenpolizeibehörden steht demgegenüber das Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Vordergrund, woraus sich ein strengerer Beurteilungsmassstab ergibt.
Gegenstand von BGE 137 II 305 war ein kantonaler Entscheid über Vollzugshindernisse bei der Wegweisung. Die weggewiesene Person hat keinen Rechtsanspruch darauf, dass der Kanton beim Vorliegen von Vollzugshindernissen dem Bundesamt für Migration Antrag auf vorläufige Aufnahme stellt. Sie kann daher mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde nur die Verletzung besonderer verfassungsmässiger Rechte rügen, die ihr unmittelbar ein rechtliches geschütztes Interesse verschaffen (zum Beispiel Schutz des Lebens, Schutz vor grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), oder die Verletzung von Parteirechten, deren Missachtung einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt.
In BGE 137 II 393 war die Wahrung der Frist für den Familiennachzug umstritten. Das Bundesgericht hielt dafür, dass Ausländer, die ohne entsprechenden Anspruch erfolglos ein erstes Gesuch um Familiennachzug gestellt haben, in einer späteren Anspruchssituation ein neues Gesuch stellen können. Dies unter der Voraussetzung, dass das erste wie das zweite Gesuch fristgerecht eingereicht worden sind.
2.2 Landwirtschaft und bäuerliches Bodenrecht
In BGE 137 II 366 ging es um Direktzahlungen an einen Landwirt, welcher rechtskräftig wegen Verstössen gegen das Tierschutzgesetz verurteilt worden war. Eine Beitragskürzung oder -verweigerung könne deswegen nur begründet werden, wenn zwischen der Sanktion und der verletzten Bestimmung ein sachlicher Zusammenhang bestehe. Dieser wurde bejaht bei Beiträgen für die Haltung Raufutter verzehrender Nutztiere und Ethobeiträgen, verneint jedoch bei Flächenbeiträgen, Beiträgen für den ökologischen Ausgleich und Öko-Qualitätsbeiträgen. Das Urteil des Bundesgerichts gab Anlass zu einer Motion mit dem Ziel der Gesetzesänderung.
Um eine Wurst, nämlich den «Waadtländer Saucisson», und die Frage, ob das Pflichtenheft geändert und Schweineschnauze bei der Herstellung verwendet werden dürfe, ging es in BGE 137 II 152 (= Pra 2011 Nr. 83). Das Bundesgericht hatte Art. 14 der Verordnung über den Schutz von Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben für landwirtschaftliche Erzeugnisse und verarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse auszulegen und kam zum Schluss, dass das Gesuch richtigerweise abgelehnt worden war.
Die Berechnung der Standardarbeitskraft (für ein landwirtschaftliches Gewerbe nach BGBB) war Thema in BGE 137 II 182. Zudem erinnerte das Bundesgericht an die Koordinationspflicht, hier eines Waldfeststellungsverfahrens sowie eines Feststellungsverfahrens nach BGBB.
2.3 Umweltschutz, Raumplanung und Baurecht
In BGE 137 II 305 befasste sich das Bundesgericht mit der Baubewilligung für ein Restaurant, die von einer Nachbarin angefochten worden war. Es bestätigt seine Praxis zur Beschwerdelegitimation bei Bauvorhaben, welche die Kantone aufgrund von Art. 111 BGG nicht enger fassen dürfen. Danach muss das Anfechtungsinteresse nicht mit dem Interesse übereinstimmen, das durch die als verletzt bezeichnete Norm geschützt wird. Ein Nachbar kann ein Bauvorhaben also im Lichte all jener Rechtssätze verlangen, die sich rechtlich oder tatsächlich auf seine Stellung auswirken können. Entscheidend ist, dass ihm im Falle des Obsiegens ein praktischer Nutzen entsteht. Dies ist der Fall, wenn bei Durchdringen mit einer Rüge das Bauvorhaben nicht wie geplant realisiert werden könnte. Damit darf also die Legitimation nicht mehr rügespezifisch geprüft werden.6 Inhaltlich ging es um die Fragen, wann eine Lärmprognose eingeholt werden muss und wie die Lärmbelastung ermittelt wird. Erscheint eine Überschreitung der Planungswerte als möglich, das heisst, kann dies beim aktuellen Kenntnisstand nicht ausgeschlossen werden, muss eine Lärmprognose eingeholt werden. Für die Ermittlung und Beurteilung des Lärms des öffentlichen Lokals kann die entsprechende Vollzugshilfe des «Cercle Bruit» als Entscheidhilfe herangezogen werden.
Um Lärm ging es auch im Urteil zur Genehmigung des vorläufigen Betriebsreglementes des Flughafens Zürich (BGE 137 II 58 - mit grafischen Darstellungen des Sachverhalts). Das Bundesgericht bejahte zunächst die (grundsätzliche) Sanierungspflicht des Flughafens Zürich. In seiner vorfrageweisen Überprüfung der Grenzwerte für Fluglärm kam es zum Schluss, dass die geltenden Immissionsgrenzwerte gemäss Anhang der Lärmschutzverordnung ungenügenden Schutz bieten gegen Störungen durch Fluglärm, welcher geballt zu besonders sensiblen Tageszeiten auftritt. Deren Anpassung und Ergänzung sei Sache des Gesetzgebers. In Erwägung 6 wurden zusätzliche Sanierungsmassnahmen geprüft, mit Ausnahme von Lärmzuschlägen jedoch zurzeit als unverhältnismässig beurteilt.
Zur Legitimation bei Lärmimmissionen des geplanten Windparks «Dents du Midi» im Kanton Wallis siehe Urteil 1C_33/2011 vom 12. Juli 20117.
BGE 137 I 257 befasste sich mit dem Abfallreglement der Gemeinde Romanel-sur-Lausanne im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle und dem Verursacherprinzip bei der Finanzierung der Entsorgung von Siedlungsabfällen (Art. 32a Umweltschutzgesetz). Letzteres verlangt, dass die Entsorgung grundsätzlich über Lenkungskausalabgaben finanziert werden muss und nicht über Steuern. Das kommunale Reglement wurde insofern als bundesrechtswidrig befunden, als es eine Pauschalgebühr unabhängig von der angefallenen Abfallmenge vorsieht. Die entsprechende Bestimmung, nicht aber die bundesrechtskonformen Artikel des Reglements, wurde aufgehoben.
BGE 137 II 23 (= Pra 2011 Nr. 60) behandelt einen Konflikt zwischen kantonalem Richtplan und kommunaler Planung. Das Kantonsgericht Waadt verletzte die Gemeindeautonomie, indem es das im Richtplan enthaltene Gebot der Verdichtung (haushälterische Nutzung) schematisch und ohne Rücksicht auf die Eigenheiten des Gemeindeterritoriums anwendete und die Genehmigung der kommunalen Planung, welche den Schutz der Uferlandschaft des Sees betonte und entsprechend nur eine geringe Bebauungsdichte erlaubte, aufhob.
In BGE 137 II 254 (= Pra 2011 Nr. 114) ging es um die Planungspflicht und die Planungsstufe für eine Auto-Rundstrecke im Kanton Jura. Gemäss Bundesgericht ist die geplante Rundstrecke ein Vorhaben mit Auswirkungen auf die räumliche Ordnung, das der Planungspflicht unterliegt. Das Bundesrecht enthält nur wenige Vorgaben zum Inhalt kantonaler Richtpläne. Spezifische Vorhaben müssen aufgenommen werden, wenn sie bedeutende Auswirkungen auf die räumliche Ordnung haben, zum Beispiel weil sie eine grosse Fläche beanspruchen, Quelle beträchtlicher Immissionen sind oder starken Verkehr verursachen und eine aufwendige Erschliessung benötigen. Angesichts der Grösse des Projekts sowie seiner räumlichen, organisatorischen und politischen Bedeutung muss das Vorhaben in den kantonalen Richtplan aufgenommen werden. Der kantonale Richtplan, der keine präzisen Vorgaben zur Ausdehnung und zum Standort derartiger Anlagen enthielt, wurde daher als unvollständig befunden.
Für den freiwilligen Abbruch und Wiederaufbau eines nach 1972 noch landwirtschaftlich genutzten Gebäudes in einer Streubausiedlung in der Landwirtschaftszone kann keine Ausnahmebewilligung nach Art. 24 Bst. a Raumplanungsgesetz bzw. dessen Ausführungsbestimmung, Art. 39 Raumplanungsverordnung, erteilt werden; dies ist nur unter den Voraussetzungen von Art. 24c RPG zulässig (BGE 137 II 338).
2.4 Energie
Ein publiziertes und zwei unpublizierte Urteile befassen sich mit der Frage, ob Starkstromleitungen als Freileitung geführt werden können oder unterirdisch verkabelt werden müssen. Das Urteil vom 5. April 2011 wurde publiziert (BGE 137 II 266).8 Die bisherige Rechtsprechung war davon ausgegangen, dass Freileitungen aus technischer und energiewirtschaftlicher Sicht die beste Lösung sind. Von den Beschwerdeführern eingereichte Gutachten hatten neue technische Möglichkeiten der Verkabelung aufgezeigt und Kostenvergleiche angestellt. Das Bundesgericht modifizierte seine Rechtsprechung und erwog, dass Kabelanlagen aufgrund der technischen Fortschritte leistungsfähiger, zuverlässiger und kostengünstiger geworden seien, weshalb die Verkabelung nicht mehr nur auf absolute Ausnahmefälle zu beschränken sei, sondern auch bei Landschaften von bloss mittlerer bzw. lokaler Bedeutung in Betracht fallen könne. Im konkreten Fall kam es zum Schluss, dass das Interesse an der ungeschmälerten Erhaltung der Landschaft (Art. 3 NHG) für eine Teilverkabelung der Hochspannungsleitung (auf 950 Metern Länge) spreche. Dafür sprachen insbesondere das gewichtige energiepolitische Interesse an der Vermeidung unnötiger Stromverluste und der Umstand, dass die erheblich höheren Stromverlustkosten der Freileitung die höheren Investitionskosten der Kabelanlage weitgehend ausgleichen. Dabei wies das Bundesgericht ausdrücklich darauf hin, dass die Erwägungen und Kostenvergleiche nicht ohne Weiteres auf andere Strecken übertragen werden könnten, sondern der Einzelfall geprüft werden müsse.
Im Urteil 1C_560/2010 vom 14. Juli 2011 nahm das Bundesgericht die ungenügende Interessenabwägung nicht selber vor, sondern wies die Sache zur Prüfung der Verkabelung eines Teilstücks der Leitung ans Bundesverwaltungsgericht zurück.
Auch das Urteil 1C_172/2011 vom 15. November 2011 zur Teilverkabelung eines Leitungsabschnittes in einem Schutzgebiet im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN) endete in einer Rückweisung im Sinne der Erwägungen.
2.5 Kartellrecht
Wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung bei der Terminierung hat die Wettbewerbskommission Swisscom Mobile mit einer Busse von rund 300 Millionen Franken sanktioniert. Das Bundesgericht befand in BGE 137 II 199, dem Tatbestandsmerkmal des Erzwingens unangemessener Preise oder Geschäftsbedingungen komme selbständige Bedeutung zu; dieses ergebe sich nicht bereits allein aus der marktbeherrschenden Stellung. Bei der Beurteilung des Missbrauchs sei die fernmelderechtliche Gesetzesordnung zu berücksichtigen. Ein Missbrauch lag hier nicht vor, weil die konkurrierenden Fernmeldedienstanbieter auf das Interkonnektionsverfahren (behördliche Festsetzung der Terminierungsbedingungen) hätten ausweichen können. Ein schutzwürdiges Interesse der Swisscom, ihre fehlende Marktbeherrschung festzustellen, hat das Bundesgericht verneint.
2.6 Öffentliche Beschaffung und Binnenmarkt
In BGE 137 II 313 zur Freihandvergabe von Lizenzen an Microsoft scheiterten die Beschwerdeführerinnen - mehrere Open-Source-Anbieterinnen - nicht an der Eintretensvoraussetzung der Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (hier der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Dritte eine freihändige Auftragsvergabe anfechten können), sondern an der Legitimation. Die Beschwerdelegitimation steht nur den potenziellen Anbietern des Beschaffungsgegenstandes zu. Die Vergabestelle hat diesen nicht unzulässig eingeschränkt. Weil das Produkt der Anbieterinnen dem Beschaffungsgegenstand nicht entsprach und diese auch kein funktional oder wirtschaftlich gleichwertiges Produkt angeboten haben, ist das Bundesverwaltungsgericht mangels schutzwürdigen Interesses zu Recht nicht auf die Beschwerde eingetreten.
Im Urteil 2C_57/2011 vom 3. Mai 20119 (trotz Fünferbesetzung nicht in der amtlichen Sammlung publiziert) war ein Beschwerdeführer mit der Rüge der Verletzung des Binnenmarktgesetzes erfolgreich. In der Verweigerung der Städtischen Werke Schaffhausen, einem ortsfremden Sanitär eine Bewilligung für die Ausführung von Wasserinstallationen zu erteilen, sah das Bundesgericht eine unzulässige Beschränkung des freien Marktzugangs (zur Anfechtbarkeit des Zwischenentscheids nachfolgend Ziff. 3).
2.7 Lotterien, Wetten, Spielbanken
In zwei Urteilen setzte sich das Bundesgericht mit der Abgrenzung der (bewilligungspflichtigen) Lotterie von anderen Glücksspielen, die nur in konzessionierten Spielbanken angeboten werden dürfen, auseinander. In BGE 137 II 164 hielt das Gericht fest, dass die Abgrenzung zunehmend schwerfalle, aber aus Gründen der Rechtssicherheit beizubehalten sei und Änderungen durch den Gesetzgeber vorzunehmen seien. Das Spiel «Wingo» könne mangels Planmässigkeit nicht unter den Begriff der Lotterie subsumiert werden, weshalb das Bundesgericht die Zulassungsbewilligung aufhob. Im Entscheid 137 II 222 (= Pra 2011 Nr. 93) wurde - in Bestätigung der Rechtsprechung zur Abgrenzung - das Spiel «Tactilo» als Lotterie qualifiziert.
3. Verfahrensfragen
In BGE 137 I 107 war die Anfechtungsfrist für eine abstrakte Normenkontrolle zu beurteilen. Das Bundesgericht bestätigte und präzisierte seine Praxis unter dem früheren Bundesrechtspflegegesetz, wobei es die Frage als Präjudiz erachtete und die Zustimmung aller Abteilungen einholte. Auch wenn der Kanton für die abstrakte Normenkontrolle keine Frist kennt, gilt bundesrechtlich eine «übliche» Rechtsmittelfrist von dreissig Tagen, die erst ab Inkrafttreten der umstrittenen Norm zu laufen beginnt. Wird diese Frist nicht eingehalten, kann nur noch im Anwendungsfall die konkrete Normenkontrolle verlangt werden.
BGE 137 II 40 (= Pra 2011 Nr. 73) ist ein Leitentscheid zur Legitimation bei der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Vor der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen ist die Popularbeschwerde nach dem Spezialgesetz zulässig. Das BGG sieht indessen keine Popularbeschwerde vor. Die Legitimationsvoraussetzungen seien strenger als unter dem früheren Bundesrechtspflegegesetz, indem ein Beschwerdeführer «besonders berührt» sein müsse. Die weitere Voraussetzung, das schutzwürdige Interesse, besteht im praktischen Nutzen einer Gutheissung der Beschwerde, die es dem Beschwerdeführer ermöglicht, einen Nachteil wirtschaftlicher, ideeller, materieller oder anderweitiger Natur, den der angefochtene Entscheid mit sich brächte, zu vermeiden. Dieses Interesse muss unmittelbar und konkret sein, indem der Beschwerdeführer in einer hinreichend nahen, besonderen und beachtenswerten Beziehung zum angefochtenen Entscheid stehen muss. Dieses wurde im konkreten Fall verneint. Ohne in der Sache selbst legitimiert zu sein, können jedoch Verfahrensverletzungen gerügt werden, deren Missachtung einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt («Star-Praxis»).
In BGE 137 I 296 hatte der Beschwerdeführer kein aktuelles und praktisches Rechtsschutzinteresse mehr an der Anfechtung einer Haft, weil er in der Zwischenzeit freigelassen worden war. Bei Vorliegen besonderer Umstände, wie beispielsweise einer hinreichend substanziierten Rüge der Verletzung der EMRK, nimmt das Bundesgericht dennoch eine materielle Prüfung vor.
In BGE 137 II 431 (siehe oben Ziff. 1.2.4) zur Herausgabe von Bankkundendaten wurde die Vorbefassung des Präsidenten der Finma, als früheres ehemaliges Kadermitglied der UBS, bejaht und entsprechend im Dispositiv10 festgestellt, dass er bei Erlass der umstrittenen Verfügung in den Ausstand hätte treten müssen.
Anfechtungsobjekt im Urteil 2C_57/2011 vom 3. Mai 2011 (vgl. oben Ziff. 2.6) war ein Zwischenentscheid (Rückweisung). Den für eine sofortige Anfechtung notwendigen nicht wiedergutzumachenden Nachteil erblickte das Gericht darin, dass das Binnenmarktgesetz (BGBM) ein einfaches und rasches Verfahren verlangt.
Das Urteil 8C_272/2011 vom 11. November 2011 (vgl. oben Ziff. 1.2.4) ist auch verfahrensrechtlich von Interesse. Das Bundesgericht bestätigt seine frühere Rechtsprechung unter dem Bundesrechtspflegegesetz zur Rechtskraft von Erwägungen bei Rückweisungsentscheiden. Grundsätzlich ist nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides anfechtbar. Wenn das Dispositiv eines Rückweisungsentscheides aber ausdrücklich auf die Erwägungen verweist, werden sie zu seinem Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand gehören, an der formellen Rechtskraft teil. Entsprechend sind die Motive, auf die das Dispositiv verweist, für die Behörde, an welche die Sache zurückgewiesen wird, bei Nichtanfechtung verbindlich. Beziehen sich diese Erwägungen auf den Streitgegenstand, ist somit auch deren Anfechtbarkeit zu bejahen. An der Verbindlichkeit des auf die Erwägungen verweisenden kantonalen Rückweisungsentscheides für die Verwaltung im Falle der Nichtanfechtung hat sich mit dem Inkrafttreten des BGG am 1. Januar 2007 nichts geändert.
In der E. 1.3 von BGE 137 II 313 (siehe oben Ziff. 2.6) erinnert das Bundesgericht an seine Praxis unter dem neuen BGG zu den Rechtsbegehren. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist ein reformatorisches Rechtsmittel, weshalb sich die Beschwerde grundsätzlich nicht darauf beschränken darf, die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zu beantragen, sondern ein Antrag in der Sache gestellt werden muss. Dieser kann darin bestehen, dass die Rückweisung der Sache zur materiellen Prüfung an die Vorinstanz verlangt wird.
1 Kritik von Lucius Müller in Jusletter vom 19. Dezember 2011.
2 Besprechung in ZBl 1/2012, S. 35 ff.
3 Besprechung in ZBl 9/2011, S. 501.
4 Besprechung in ZBl 7/2011, S. 380 ff.
5 Besprechung in ZBl 11/2011, S. 604 ff.
6 Siehe zur Praxis des VGer BE BVR 2011, S. 282 f.
7 Besprechung in ZBl 11/2011, S. 620 f.
8 Besprechung in BR 3/11, S. 154.
9 Besprechung in ZBl 12/2011, S. 663.
10 Siehe unpublizierte Version.