Fragen der Religionsfreiheit haben in den vergangenen zwanzig bis dreissig Jahren in Westeuropa enorm an Bedeutung gewonnen, nachdem sie zuvor während einigen Jahrzehnten in den Hintergrund getreten waren. Der Umgang mit ihnen bereitet zunehmend Schwierigkeiten und kann sich nur sehr beschränkt an gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Erfahrungen orientieren. Indien dagegen verfügt über grosse Vertrautheit im Umgang mit einer Vielzahl religiöser Gemeinschaften. Die religiöse Diversität des Landes reicht über einen Zeitraum von Tausenden von Jahren zurück und ist deshalb nicht wie in vielen heutigen europäischen Staaten eine Folgeerscheinung der Immigration. Seit seiner Gründung als moderner Staat im Jahr 1947 ist es Indien gelungen, seine religiös heterogene Gesellschaft trotz grosser ökonomischer Probleme überwiegend - wenn auch nicht immer - friedlich zu organisieren. Ein Blick auf das indische Verfassungsrecht könnte deshalb neues Licht auf die europäischen Konflikte und ihre möglichen Lösungen werfen.
Die derzeitige Aktualität der Religionsfreiheit in Europa ist Ausdruck einer neuen religiösen Vielfalt, primär bedingt durch Immigrationsbewegungen unter anderem aus islamischen Ländern und die daraus folgenden sozialen Spannungen. In verschiedenen europäischen Staaten geben Themen wie das öffentliche Zurschaustellen religiöser Symbole - etwa von Kopftüchern, Burkas, Turbanen, Kruzifixen und Kreuzen -, der Umgang mit religiösen Feiertagen, religiös begründete Ernährungsvorschriften sowie die Errichtung von Sakralbauten Anlass zu kontroversen Diskussionen. Diese Auseinandersetzungen finden zunehmend auch in rechtlichen Reaktionen Niederschlag, sowohl auf der Ebene der Rechtsetzung als auch der Rechtsanwendung.
Frankreich und Belgien beispielsweise erliessen ein Burkaverbot für den öffentlichen Raum, im Kanton Tessin wird demnächst über eine entsprechende Vorschrift abgestimmt, verschiedene europäische Staaten setzten Verbote für muslimische Lehrerinnen in Kraft, während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen, und das Schweizer Volk stimmte der Aufnahme eines Minarettverbots in Artikel 72 Absatz 3 der Bundesverfassung zu. Derartige Reaktionen legen die Vermutung nahe, dass die Anwesenheit nicht-christlicher Immigranten von der ortsansässigen Bevölkerung als Bedrohung der eigenen Kultur erfahren wird.
Auf der Ebene der Rechtsprechung zeigt sich etwa in der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine auffallende Zurückhaltung, die Religionsfreiheit auch für Muslime wirksam zu schützen. In jenen Bereichen, in denen Fragen kultureller Identität oder gesellschaftlicher Moralvorstellungen im Zentrum stehen, räumt der Gerichtshof den Mitgliedsstaaten einen besonders weiten Beurteilungsspielraum ein; dies insbesondere dann, wenn es an einem gesamteuropäischen Konsens fehlt. In derartigen Fällen vermeidet der Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung zu Fragen religiöser Konflikte zunehmend, in die Praxis der Staaten einzugreifen, und misst staatliche Einschränkungen der Religionsfreiheit an relativ anspruchslosen, einfach zu handhabenden Massstäben. Damit riskiert er, seiner Funktion als Garant der Menschenrechte nur ungenügend Rechnung zu tragen.
Die hier angesprochene Tendenz nationaler Rechtsetzung und internationaler Rechtsprechung, den aus kultureller und religiöser Vielfalt entspringenden gesellschaftlichen Konflikten mit einfachen Regeln zu begegnen, vermag dem komplexen Zusammenspiel der unterschiedlichen betroffenen Interessen nicht gerecht zu werden. Mit dem Ziel, den europäischen Blickwinkel zu erweitern und die Diskussion um neue Argumente zu bereichern, vergleicht der vorliegende Text westliche Lösungsansätze mit ausgewählten Konzepten des indischen Verfassungsrechts.
Ein zentrales Problem säkularer, demokratischer Staaten im Umgang mit Religionen besteht darin, dass diese in gewissen Aspekten regelmässig Ursprung sozialer Ungleichbehandlungen sind. Letztere betreffen sowohl die internen Verhältnisse religiöser Gemeinschaften - etwa zwischen Mann und Frau oder den Angehörigen verschiedener Kasten - als auch zwischen den Mitgliedern verschiedener Religionsgemeinschaften. Da die Religionszugehörigkeit in Indien von grosser sozialer Bedeutung ist, sind die aus ihr resultierenden Ungleichheiten tief in die Gesellschaft eingegraben. Um derartigen Ungleichheiten etwas entgegensetzen und sie mildern zu können, versucht die indische Verfassung, die Gesellschaft zu reformieren. Dieses Ziel verfolgt sie mit zum Teil massiven Eingriffen in die Religion der Mehrheit, den Hinduismus, aus der Einsicht, dass Veränderungen der Mehrheitskultur die Gesellschaft am nachhaltigsten prägen. Dies geht so weit, dass die indische Verfassung religiösen Minderheiten gewisse Verhaltensweisen zugesteht, die der Mehrheit verboten sind. So wurde die religiös begründete Praxis polygamer Ehen den Hindus in den Fünfzigerjahren verboten, nicht aber den Muslimen.
Vor dem Hintergrund des indischen Verfassungsrechts erscheinen die reformatorischen Ansprüche heutiger westlicher Verfassungen sehr zurückhaltend. Anders als noch im 19. Jahrhundert, werden Verfassungen in Europa überwiegend nicht mehr als Instrumente gesellschaftlicher Reform verstanden. Diese Funktion kommt ihnen nur noch in einigen wenigen Sachbereichen zu, etwa der Geschlechtergleichheit. Glaubensgrundsätze und Lebensregeln verschiedener Religionen verankern die Ungleichheit von Mann und Frau im gesellschaftlichen Zusammenleben. Um der religiös bedingten Ungleichbehandlung der Geschlechter entgegenzuwirken, erwarten westliche Staaten primär von minoritären Religionen, dass sie die in ihnen angelegten Ungleichbehandlungen aufgeben, während das indische Recht Gleichheitsansprüche vorwiegend gegenüber der Mehrheitsreligion zum Tragen bringt.
Im Fall «Dahlab» beispielsweise erachteten das Bundesgericht und der EGMR das von den Genfer Behörden gegenüber einer Grundschullehrerin ausgesprochene Verbot des Kopftuchtragens im Unterricht als verhältnismässig beziehungsweise «notwendig in einer demokratischen Gesellschaft». Beide Gerichte schrieben dem Tragen eines Kopftuchs eine gewisse missionarische Wirkung zu und hielten fest, dass die ausschliesslich gegenüber Frauen zur Anwendung gelangende Vorschrift des Korans nur schwerlich mit dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit zu vereinbaren sei. In «Dogru gegen Frankreich» nimmt der EGMR das Argument der Geschlechtergleichheit des Dahlab-Entscheids erneut auf, um den Schulausschluss eines Mädchens zu rechtfertigen, welches sich weigerte, ohne Kopftuch am Sportunterricht teilzunehmen. Das französische Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen war dem französischen Präsidenten von der Stasi-Kommission ebenfalls aus Gründen der Geschlechtergleichheit empfohlen worden. Auch das Bundesgericht knüpft im Jahr 2008 an diese Argumentation an, um zu begründen, weshalb ein Zwang für muslimische Schüler zur Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht zulässig sei. In einem analogen Fall fünfzehn Jahre zuvor hatte das Gericht den Schutz der religiösen Minderheit noch höher gewichtet, und auch in seiner neueren Praxis zur Verweigerung von Einbürgerungen muslimischer Frauen und ihrer Ehemänner, weil erstere ein Kopftuch tragen, setzt es sich differenzierter mit der sozialen Bedeutung der religiösen Bekleidungsvorschrift auseinander. Diese Beispiele verdeutlichen, dass westliche Gesetzgeber und Gerichte bereitwillig die soziale Bedeutung des Grundsatzes der Geschlechtergleichheit hervorheben, sofern Glaubensregeln des Islams betroffen sind. Vorschriften des christlichen Glaubens, welche die Ungleichheit von Mann und Frau verankern - wie etwa der Ausschluss der Frauen von der Priesterweihe - bleiben vom westlichen Recht hingegen unberührt.
Derartige Anpassungsleistungen von der religiösen Minderheit, nicht aber von der Mehrheit, zu verlangen, berücksichtigt die empfindliche Situation von Minderheiten in einer Mehrheitskultur zu wenig. Es fragt sich, ob westliche Gesellschaften religiös begründeten sozialen Problemen nicht wirkungsvoller begegnen, wenn sie - dem indischen Modell folgend - auf die Mehrheitskultur einwirken. Um tief wurzelnde gesellschaftliche Verhaltensmuster zu reformieren, erscheint es verhältnismässiger, vorerst die Mehrheit zu einer Anpassung zu veranlassen, als dies von Anbeginn an der Minderheit aufzuerlegen. Ein solches Vorgehen vermag auch der Zielrichtung der Grundrechte, Minderheitenpositionen in besonderem Masse vor einer dominierenden Mehrheit zu schützen - wie es das Bundesgericht im Kruzifix-Urteil von 1990 ausdrücklich festhielt -, eher gerecht zu werden.
Der gleiche Gedanke ist dem Konzept materieller Gleichheit inhärent, welches das indische Verfassungsrecht nachhaltig prägt. Der Grundsatz materieller Gleichheit ist darauf ausgerichtet, die fest verankerten hierarchischen Strukturen der indischen Gesellschaft aufzuweichen und dadurch den Konflikten zwischen Mehrheits- und Minderheitsreligionen entgegenzuwirken. Er ermöglicht Förderungsmassnahmen sowie die Öffnung hinduistischer Tempel für Angehörige niedriger Kasten, schafft die Stigmatisierung durch die «Unberührbarkeit» sowie Diskriminierungen aufgrund der Kastenzugehörigkeit ab und errichtet weitreichende Rechte für religiöse Minderheiten.
Dem europäischen Recht ist ein derart asymmetrischer Ansatz zur Umsetzung materieller Gleichheit religiöser Minderheiten fremd. Das Prinzip religiöser Neutralität, wie es in der EMRK und verschiedenen nationalen Verfassungen enthalten ist, verlangt eine weitgehend symmetrische Behandlung religiöser Gemeinschaften. Sonderrechte zugunsten religiöser Minderheiten, welche der religiösen Mehrheit nicht zuteil werden, würden diesem Verständnis zuwiderlaufen. Entsprechend versuchen europäische Gesetzgeber und Gerichte regelmässig, Massnahmen zulasten von Muslimen und zugunsten von Christen religiös neutral zu formulieren. So wird ein Burkaverbot als allgemeines Vermummungsverbot erlassen, oder der EGMR begründet die Zulässigkeit von Kruzifixen in Grundschulzimmern unter anderem damit, dass die Schule auch für religiöse Äusserungen anderer Glaubensrichtungen offenstehe. Dass so nur eine formelle Gleichheit erreicht wird, bleibt übersehen; da die überwiegende Anzahl der Europäer christlichen Glaubens ist, berührt das Verbot religiöser Symbole Muslime - als Zugehörige einer nach wie vor kleinen Minderheit in den meisten europäischen Staaten - stärker als die christliche Mehrheit.
Im kürzlich erlassenen Urteil Lautsi geht der EGMR noch weiter und erklärt eine italienische Vorschrift für zulässig, die das Anbringen von Kruzifixen - ein religiöses Symbol der italienischen Mehrheitsreligion - in Klassenzimmern staatlicher Schulen verlangt. Der Gerichtshof prüfte die Vereinbarkeit der italienischen Vorschrift mit dem Recht auf Bildung, konkretisiert im Licht der Religionsfreiheit. Er hielt fest, dass die italienischen Behörden im Rahmen des ihnen zustehenden Beurteilungsspielraums gehandelt hätten, da ein Kruzifix grundsätzlich als passives Symbol zu werten sei und zu keiner religiösen Indoktrinierung der Schulkinder führe. Mit diesem Urteil bewegt sich das Gericht nicht einmal mehr innerhalb des Rahmens formaler Gleichheit, sondern bevorzugt die Religion der Mehrheit. Aus der Sicht materieller Gleichheit wäre demgegenüber sogar die Frage zu diskutieren, ob religiösen Minderheiten ein weitergehendes Recht auf religiöse Symbole an öffentlichen Schulen zukommt als der religiösen Mehrheit. Die erwähnte Analogie aus dem indischen Recht liegt im Verbot der Polygamie für die hinduistische Mehrheit und ihrer Zulässigkeit für die muslimische Minderheit. Eine derartige Diskussion findet in der heutigen politischen, aber auch rechtlichen Auseinandersetzung Europas jedoch kaum Beachtung.
Religiöse Ernährungsvorschriften sind ein weiteres Beispiel für die Unzulänglichkeit formaler Ansätze in der Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes. Um Tieren Leid zu ersparen, verbieten oder beschränken einige westeuropäische Staaten koschere und Halal-Schlachtungen. Das Bundesgericht mildert diese Einschränkung, indem es ein Importverbot von entsprechendem Fleisch für verfassungswidrig erklärte. Der EGMR hingegen nimmt in seinem Entscheid «Cha'are Shalom Ve Tsedek» gegen Frankreich eine restriktivere Haltung ein. In einem obiter dictum hielt der Gerichtshof fest, ein Verbot koscheren Fleisches, das den Anforderungen streng orthodoxer Juden gerecht würde, wäre mit der Religionsfreiheit vereinbar. Das formal gleich ausgestaltete, auf den Tierschutz ausgerichtete Verbot steht im Einklang mit christlichen Lebensregeln, schränkt die Religionsfreiheit streng gläubiger Muslime und Juden hingegen empfindlich ein.
Diese Beispiele sollen illustrieren, dass religiöse Minderheiten in Westeuropa in besonderem Masse auf Schutz vor der Dominanz der christlichen Mehrheitskultur angewiesen sind. Dieses Ziel bedarf eines asymmetrischen Ansatzes zugunsten religiöser Minderheiten. Die symmetrische Behandlung religiöser Mehr- sowie Minderheiten wirkt sich regelmässig zum Nachteil letzterer aus und trägt den Ansprüchen materieller Gleichheit nicht genügend Rechnung. Um religiöse Minderheiten erfolgreich integrieren und damit auch den virulenten kulturellen Konflikten entgegenwirken zu können, kann ein Blick westlicher Gesellschaften auf das indische Modell des Interessensausgleichs zwischen einer dominanten hinduistischen Mehrheit und zahlreichen religiösen Minderheiten wegweisend sein.
Markus Schefer, Ordinarius für öffentliches Recht an der Universität Basel und Nuscha Wieczorek, Wissenschaftliche Assistentin an der Juristischen Fakultät der Universität Basel