Am 21. Mai 2017 standen alle neun Solothurner Amtsgerichtspräsidenten zur Wiederwahl – und wurden wiedergewählt. Dies ist nicht weiter verwunderlich, hatten sie doch keine Konkurrenz zu fürchten. Im ersten Wahlgang dürfen gemäss dem Solothurner Gesetz über die politischen Rechte (GpR) nämlich nur bisherige Amtsgerichtspräsidenten antreten. § 45 GpR Absatz 1 sieht vor: «Liegt für Stellen mit besonderen Wählbarkeitsvoraussetzungen keine Demission vor, unterbleiben die Ausschreibung und das Anmeldeverfahren für den ersten Wahlgang. Teilnahmeberechtigt ist einzig der bisherige Stelleninhaber oder die bisherige Stelleninhaberin.»
Kandidatur eines Anwalts nicht berücksichtigt
Diese Regelung verhinderte die Kandidatur des Rechtsanwalts Claude Wyssmann. Er hatte im November 2016 einen Wahlvorschlag für sich selbst eingereicht. Ihm teilte daraufhin der Vorsteher des Oberamts Region Solothurn mit Verfügung vom 28. November 2016 mit, einzig die bisherigen Stelleninhaber seien teilnahmeberechtigt, seine Kandidatur für den ersten Wahlgang könne nicht berücksichtigt werden.
Gegen diese Verfügung erhob Wyssmann Beschwerde, die vom Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn abgewiesen wurde. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten verlangte Wyssmann vom Bundesgericht die Aufhebung dieses Urteils. Er forderte, das Verwaltungsgericht und der Vorsteher des Oberamts seien anzuweisen, für den anstehenden ersten Wahlgang sowohl ihn selbst als auch andere Kandidaten als die bisherigen Stelleninhaber zuzulassen.
Auch vor Bundesgericht unterlag der Solothurner Rechtsanwalt: Mit Entscheid 1C_88/2017 vom 30. März 2017 wies es seine Beschwerde ab. Das Bundesgericht argumentiert, die Wiederwahlverfahren für Richter stünden in einem Spannungsverhältnis von demokratischer Legitimation und richterlicher Unabhängigkeit: «Sie gewährleisten die fortdauernde demokratische Legitimation der Justiz und stellen sicher, dass nur solche Personen das Amt ausüben, die dazu nach wie vor in der Lage sind. Es geht damit bei einer Bestätigungswahl immer auch um die Sicherstellung einer rechtsstaatlichen, funktionierenden Justiz.» Zugleich eröffne die Wiederwahl Möglichkeiten äusserer Beeinflussungsversuche und die damit einhergehende Gefahr, dass die Richter sich bei der Rechtsprechung von der mutmasslichen Akzeptanz durch das Wiederwahlorgan beeinflussen lassen könnten.
“Stärkt die richterliche Unabhängigkeit”
Die Bundesrichter halten fest, dass sich die Amtsgerichtspräsidenten im Kanton Solothurn alle vier Jahre der Wiederwahl stellen müssen: «Diese Amtsdauer erscheint angesichts des Ausgeführten als kurz.» Immerhin dürften die Amtsgerichtspräsidenten aufgrund des Wahlverfahrens auf eine gewisse Stabilität vertrauen, indem ihre Kandidatur im ersten Wahlgang der Erneuerungswahl exklusiv sei: «Es ist zwar nicht gleichbedeutend mit einer Wahl auf eine längere Dauer, dient aber im Ergebnis ebenfalls der richterlichen Unabhängigkeit.» Somit bestehe durchaus ein gewichtiges öffentliches Interesse an diesem Wahlverfahren. Und: «Es liegt grundsätzlich in der Kompetenz der Kantone, darüber zu entscheiden, wie sie die Richterwahlen ausgestalten.»
Abschliessend meint das Bundesgericht: «Trotz des Vorrangs der amtierenden Richter im ersten Wahlgang kann nicht von einer im Widerspruch zu Artikel 34 BV stehenden ‹Scheinwahl› gesprochen werden.» Wie die Staatskanzlei in ihrem Mitbericht dargelegt habe, hätten die Wähler die Möglichkeit, ihren Willen zur Abwahl eines Amtsgerichtspräsidenten durch leere Stimmen zum Ausdruck zu bringen, hält doch § 45 Absatz 2 GpR fest: «Erreicht ein bisheriger Stelleninhaber im ersten Wahlgang das absolute Mehr nicht, ist die Stelle vor dem zweiten Wahlgang auszuschreiben.»
Aufruf zum Leer-Einlegen blieb ohne Erfolg
Diesen Kniff versuchten Wyssmann und dessen Partei, die SVP: Sie riefen die Wähler dazu auf, ihre Wahlzettel leer einzulegen. So hätten die Amtsgerichtspräsidenten das absolute Mehr verpasst – mit der Konsequenz, dass es zu einem zweiten Wahlgang gekommen wäre, in dem deren Abwahl möglich gewesen wäre. Der Plan misslang. Die Partei will nun politisch gegen das Wahlsystem vorgehen. Die richterliche Unabhängigkeit taxiert Wyssmann als vorgeschobenes «Argument einer Kaste, die an sich selbst denkt». Ein Richter, der sehr lang im Amt bleibe, werde abhängig «durch die Strukturen, in denen er sich befindet». Man kenne sich und wolle sich nicht gegenseitig angreifen.
Schränkt das Solothurner Wahlsystem das passive Wahlrecht ein? Laut Denise Buser, Titularprofessorin für kantonales öffentliches Recht an der Uni Basel, bewegt sich die Einschränkung «im Rahmen der anderen Kantone». Eine Einschränkung des passiven Wahlrechts finde auch bei stillen Wahlen, einer Wahl auf unbeschränkte Amtszeit oder einer Wahl durch das Parlament statt.
Vorschlag: Wer im ersten Wahlgang scheitert, ist weg
Auch Astrid Epiney, Professorin für Europarecht an der Uni Freiburg, kann das Bundesgerichtsurteil nachvollziehen. «Die richterliche Unabhängigkeit ist eine Grundvoraussetzung des Rechtsstaats und muss durch geeignete institutionelle Garantien gewährleistet werden.» Eine relativ kurze Amtsperiode verbunden mit dem Erfordernis einer Wiederwahl sei der Unabhängigkeit grundsätzlich abträglich. Deshalb sei die Solothurner Regelung «gut vertretbar». Benjamin Schindler, Professor für öffentliches Recht an der Uni St. Gallen, meint, Solothurn versuche, «auf originelle Weise das Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und demokratischer Legitimation der Wahl zu lösen». Bei einer erstmaligen Wahl stehe die demokratische Legitimation im Vordergrund, bei der Wiederwahl erhalte die richterliche Unabhängigkeit ein höheres Gewicht.
Rainer Schweizer, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen, fände es konsequenter, wenn «ein Richter, der im ersten, privilegierten Wahlgang die absolute Mehrheit nicht erreicht, vor dem zweiten Wahlgang ausscheiden muss, damit es zu einer echten Neuwahl kommt».