Was viele Anwälte und Vertreter von Behindertenverbände schon lange monieren (siehe auch plädoyer 3/09), haben nun namhafte juristische Experten festgehalten: Das Verfahren zur Beurteilung von Leistungsansprüchen gegenüber der Invalidenversicherung (IV) genügt dem Recht auf ein faires Verfahren gemäss Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht. Die Medizinischen Abklärungsstellen (Medas) haben in diesem Verfahren ein grosses Gewicht, und es bestehen Zweifel darüber, inwiefern diese gegenüber der Verwaltung – also der IV – unabhängig sind. Dies ist die Quintessenz eines neuen Gutachtens, das der emeritierte Berner Staatsrechtsprofessor Jörg PaulMüller und der Berner Rechtsanwalt Johannes Reich erstellt haben.
Sie führen aus, das Prinzip der Waffengleichheit sei ungenügend verwirklicht, wenn das Bundesgericht den Medas-Gutachten volle Beweiskraft zuerkenne. Denn die Medas seien von der IV wirtschaftlich abhängig, womit die Gutachter «schwerwiegende objektive Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit» haben. Den Vorsprung der IV durch die volle Beweiskraft der Medas-Gutachten könne ein Privater aber niemals aufholen.
In Auftrag gegeben hat das Gutachten der Zürcher Rechtsanwalt Philip Stolkin im Hinblick auf eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Dies sei sein zweiter Fall wegen des IV-Verfahrens und der Problematik der Medas-Stellen, die nicht wirtschaftlich unabhängig seien. «In allen anderen Rechtsbereichen gilt wirtschaftliche Abhängigkeit als Ausstandsgrund», sagt er, «nur nicht bei der IV.» Das Gutachten stösst offenbar auf Interesse: Viele Anwälte haben Stolkin schon darum angegangen, und sogar «10 vor 10» des Schweizer Fernsehens thematisierte es.
Die IV sieht noch immer keinen Handlungsbedarf
Wenig beeindruckt vom Fazit der Gutachter Müller und Reich zeigt sich die Konferenz der IV-Stellen (IVSK): «Parteigutachten per se sind für die IV-Stellen im Rahmen der Beschwerdeverfahren nicht etwas Aussergewöhnliches», teilt Marc Gysin, Vorstandsmitglied der IVSK, auf Anfrage mit. «Massgebend für die Rechtsanwendung der IV-Stellen ist die ständige Rechtsprechung, wonach die Medas unabhängig ist.»
Ähnlich reagiert die IV: «Im Gutachten steht für uns nichts Neues, und es besteht deshalb für uns kein Handlungsbedarf», sagt Ralf Kocher, Leiter des Rechtsdienstes der IV im Bundesamt für Sozialversicherung. «Strassburg» habe das Schweizer IV-Verfahren schon in einem früheren Fall geschützt und auch das Bundesgericht stehe immer hinter dem Verfahren. Zur Frage der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Medas sagt er, die IV habe aus administrativer Vereinfachung mit Gutachterstellen, die oft zum Zuge kommen, eine pauschale Entschädigung abgemacht. «Die IV hat aber kein Interesse an versicherungsfreundlichen Gutachten, da die Gerichte diese nicht zulassen würde», sagt er.
Langwierige Gesetzesänderung …
Kocher verweist darauf, dass das IV-Verfahren durch Gesetze geregelt ist – Änderungen müssten deshalb vom Gesetzgeber kommen. Genau das könnte nun geschehen: Die Berner SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen und 19 Mitunterzeichnende haben im März eine parlamentarische Initiative eingereicht. Diese fordert, dass die entsprechenden Gesetze so abgeändert werden, dass «die Garantien eines rechtsstaatlichen Verfahrens gemäss Artikel 6 EMRK eingehalten werden». Kiener Nellen verweist dabei auf das Gutachten Müller/Reich und fordert ein gleichwertiges Mitspracherecht für die Versicherten und die Gewährleistung der quantitativen und qualitativen Kontrolle der Gutachter. Sie ist aber realistisch: Ein solches Gesetzgebungsverfahren würde viele Jahre dauern. «Sechs Jahre oder länger gehen schnell einmal vorbei», sagt sie. «Und ob die Parlamentsmehrheit die starken Medas-Zentren schwächen würde, ist eine politische Frage, ebenso die möglichen finanziellen Auswirkungen einer solchen Gesetzesänderung auf die IV.»
… oder Praxisänderung durch das Bundesgericht
Schneller als das Parlament könnte das Bundesgericht mit einer Praxisänderung das Verfahren ändern. Dieses sieht denn auch die Problematik, ist aber offensichtlich der Ansicht, das Bundesamt für Sozialversicherung müsse dies ändern. So steht im Geschäftsbericht 2009 des Bundesgerichtes, dass die so-zialrechtlichen Abteilungen in ihrer täglichen Arbeit feststellen, dass das «medizinische Abklärungswesen der IV in verschiedener Hinsicht gewisse Defizite institutionell-organisatorischer Art aufweist». Der Bericht nennt unter anderem «die fehlende Transparenz der Expertenauswahl und ihres Verhältnisses zur IV». Es werde nämlich immer wieder der «Verdacht einer zielorientierten Auswahl wirtschaftlich abhängiger Gutachter durch die IV-Stellen geäussert, ohne dass dies – mangels verfügbarer Daten – allgemein entkräftet werden könnte».
Doch dies lasse sich nicht im Rahmen der Rechtsprechung ändern, schreibt das Bundesgericht und schlägt vor, dass das Bundesamt für Sozialversicherung eine Lösung findet, welche «die grundsätzliche Akzeptanz des Abklärungssystems durch die Versicherten gewährleistet». Dies etwa im Rahmen der durch die 5. IV-Revision verstärkten Aufsicht.
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Bundesgericht rüffelt Gutachter
Das Bundesgericht hat in einem kürzlich in italienischer Sprache ergangenen Urteil Hinweise zur Qualität von Gutachten publiziert (8C_480/ 2009). Der Entscheid befasst sich mit der Leistungspflicht der Unfallversicherung im Zusammenhang mit einem Schleudertrauma der verunfallten Person. Gutachter der Versicherung verneinten die Verletzung der Halswirbelsäule (HWS) und das Vorliegen eines Schleudertraumas. Dies, obwohl ein typisches Beschwerdebild vorlag. Die Bundesrichter weigern sich, wegen inhaltlicher Mängel auf das Gutachten abzustellen. Sie kritisieren, dass die beauftragten Gutachter das typische Beschwerdebild nach einem Distorsionstrauma der Halswirbelsäule generell verneinen. Und dass das beauftragte Gutachter-institut im Regelfall für Versicherungen arbeite. Im konkreten Fall hatten die Gutachter laut Bundesgericht unter anderem nicht hinreichend erklärt, weshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keine Unfallfolgen mehr vorlägen.
Bezug des Gutachtens gegen Kostenbeteiligung:
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