Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Straftätern schlurft in den Gerichtssaal, setzt sich wortlos, rund zwanzig Frauen und Männer. Vielen wird eine lange Liste von Straftaten vorgeworfen - Diebstähle, Gewaltverbrechen, Waffenmissbrauch. Und alle haben ein Drogenproblem. So auch der erste Angeklagte: Er hat schon zwölf Jahre im Gefängnis verbracht, wurde in den letzten zwanzig Jahren 26 Mal verurteilt und nennt Kokain und Heroin seine Lieblingsdrogen.
Die meisten Delinquenten könnten aus einem Hollywoodfilm stammen. Doch Felin Bell, ein korpulenter Mann in einem eleganten Hemd, erinnert eher an einen Manager. Kaum hat er sich gesetzt, erklärt ihn der Richter zum Star der Woche, lobt ihn für seine positive Haltung und schickt ihn zur Belohnung nach Hause.
Schon jetzt zeigt sich: Das Gericht für Drogendelinquenten in Dallas ist kein normales Gericht. Das Verfahren erinnert an eine Mischung zwischen Therapie und TV-Show. Der Richter trägt keine Robe, sitzt selten auf seinem Richterstuhl und flucht viel. Er heisst Robert Francis, ist ein schnell sprechender 52-jähriger Republikaner, Rockmusikfan und begeisterter Jäger.
Als die Straffälligen in den Raum kommen, warnt er, er werde «verdammt wütend», wenn jemand lüge oder sonst Mist baue. Er beantwortet ihre Aussagen mit derben Sprüchen, kurzen Predigten oder scharfen Drohungen. «Bleib positiv eingestellt, Bruder», sagt er etwa. Oder: «Vielleicht denkst du, ich spinne. Aber dieser Spinner kann dich ins Gefängnis zurückschicken.» Einer jungen Frau, die begonnen hat, ihre Mutter zu unterstützen, sagt der Richter, dies mache ihn stolz und «auch Sie sollten darauf stolz sein».
Rehabilitationsprogramme zahlen sich aus
Bis vor kurzem wären diese Leute in überfüllten Gefängnissen gelandet. Schliesslich ist man hier in Texas, dem strengsten Bundesstaat der Nation, die weltweit am meisten Leute ins Gefängnis schickt: Einer von hundert Erwachsenen sitzt hinter Gittern. Stattdessen erhalten die Leute vor den Schranken dieses Spezialgerichts für Drogendelinquenten Beratung und Unterstützung bei der Suche nach Wohnung und Arbeit - sie können aber ins Gefängnis zurückgeschickt werden, wenn sie Drogentests nicht bestehen, flüchten oder wieder straffällig werden.
Doch es gibt auch kleine Belohnungen für Wohlverhalten, beispielsweise einen Geschenkgutschein von zehn Dollar oder eine Grillparty mit Richter Francis. «Diese Leute müssen uns glauben, dass wir uns um sie kümmern und dass wir ihren Erfolg wollen», sagt er. «Wenn sie mir dann vertrauen, können sie mit ihrem Wandel beginnen.»
Diese Straffälligen profitieren von einer Revolution in der US-amerikanischen Justiz. Einer Revolution, die angeführt wird von kompromisslosen Konservativen, welche die Gefängnisse zum Zeichen für staatliches Versagen erklärt haben. Sie sagen, Steuergelder würden ineffizient eingesetzt, wenn Leute immer wieder im Gefängnis landen, weil sie wegen Drogen und Alkohol an psychischen oder gesundheitlichen Problemen leiden oder aus schwierigen Verhältnissen stammen.
Bemerkenswert: Diese Revolution begann in Texas, dem Bundesstaat, der auf seine Härte stolz ist und noch immer mehr Hinrichtungen durchführt als die anderen Bundesstaaten. Aber anstatt mehr Gefängnisse zu bauen und noch mehr Leute einzusperren, investiert Texas nun in ausgeklügelte Rehabilitationsprogramme, um Rückfälle zu reduzieren. Finanziell gefördert wird der bedingte Strafvollzug, die Bewährung, die Unterstützung für Drogenabhängige, psychisch Kranke, Frauen und Veteranen. Dies zahlt sich offenbar aus: Laut Statistiken ist der Rückgang bei Gewaltdelikten mehr als doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt - während gleichzeitig Kosten reduziert und weniger Leute inhaftiert werden.
Dazu haben Rechte mit Liberalen zusammengearbeitet, die schon lange für ein solches Vorgehen gekämpft hatten. Und die Einigung gelingt in einer Zeit, in der die Gräben zwischen den politischen Kräften so tief sind wie nie zuvor. «Das war eines der emotionalsten und ideologisch härtesten Themen im Land», sagt Adam Gelb vom Pew Center, einer sozialpolitischen Organisation, die diese Entwicklungen unterstützt. «Doch nun siegt die Wissenschaft immer mehr über Behauptungen. Man ist sich zwar noch immer nicht einig über die Ursachen der Kriminalität oder sogar den Zweck von Strafen», so Gelb, «aber man ist sich über die Lösung einig. Liberale und Konservative kommen also über verschiedene Wege zum gleichen Ziel.»
Unterdessen wird die texanische Strategie auch in anderen republikanischen Staaten wie Alabama, Georgia, Kentucky, Oklahoma und South Carolina umgesetzt. Und berühmte Konservative wie Newt Gingrich, Jeb Bush und Bobby Jindal unterstützen die Idee. «Dass die Entwicklung in Texas begonnen hat, sorgte in ganz Amerika für Aufsehen», erklärt Gelb. «Immer wieder hört man: Wenn Texas das schafft, dann kann es kein falsches Vorgehen sein.»
Baustopp für Gefängnisse wegen knapper Finanzen
Jahrelang wurden in den USA jene Politiker gewählt, die sich für ein hartes Justizsystem aussprachen. Das Resultat ist eine Menge von Gesetzen mit strengen Strafen. Zusammen mit dem fehlgeschlagenen Krieg gegen die Drogen führten sie dazu, dass die Zahl der Gefangenen 13 Mal schneller wächst als die Bevölkerung. Die Folge: Eine Nation mit fünf Prozent der Weltbevölkerung hat nun einen Viertel der weltweiten Häftlinge - und gibt jährlich über 43 Milliarden Dollar dafür aus.
Dem Justizsystem wird zudem vorgeworfen, die Rassenungleichheiten zu verstärken. So sind hispanische Männer dreimal öfter im Gefängnis als weisse, schwarze gar sieben Mal mehr. Laut einer Studie des Pew Center sitzt einer von neun schwarzen Männern im Alter zwischen 20 und 34 im Gefängnis.
Bis vor acht Jahren zeigte sich in Texas dieser Trend besonders ausgeprägt: Der Bundesstaat hatte die höchste Gefangenenrate der Welt, jeder zwanzigste Erwachsene war im Gefängnis, auf Bewährung entlassen oder bedingt verurteilt. Das höchste Budgetdefizit in der Geschichte von Texas führte zum Abbau des bedingten Strafvollzuges - und so hatten Richter keine andere Möglichkeit, als mehr Leute ins Gefängnis zu stecken.
2006 erschütterte ein politisches Erdbeben die öffentliche Wahrnehmung von Texas. Das Budget sah Ausgaben von zwei Milliarden für den Bau von sieben neuen Gefängnissen vor, um die prognostizierten 17 000 zusätzlichen Häftlinge aufzunehmen.
Dann wurde Jerry Madden, ein strammer Republikaner, neuer Vorsitzender des House Corrections Committee - dem Bereich der Regierung, der für Justiz, Gefängnis und Bewährung zuständig ist. Er erhielt die Vorgabe, aus finanziellen Gründen keine weiteren Gefängnisse zu bauen.
Der ältere, weisshaarige Madden ist ein überraschender Held der Justizreform. Er ist ein Fan von George W. Bush, Sympathisant der Tea Party und beschreibt sich selbst als «typischen texanischen Republikaner - was heisst, dass ich im nationalen Vergleich sogar sehr konservativ bin». Als er das Komitee übernahm, wusste er nichts über das, was unterdessen zu seiner Lebensaufgabe geworden ist. Als unvoreingenommener Ingenieur begann er, nach Alternativen zu mehr Gefängnissen zu suchen. Vielleicht half es auch, dass er kurz vor seiner Pensionierung und dem Ende seiner politischen Karriere stand. «Mich interessiert das Gutmenschenzeugs nicht», sagt er, «mich interessiert, was funktioniert. Und weil ich keine weiteren Gefängnisse bauen sollte, musste ich Alternativen finden.»
Mit traditionell rechten Argumenten zum Wandel
Madden kontaktierte Tony Fabelo, der früher demokratische und republikanische Gouverneure beraten hatte. Er wollte von ihm Fakten, um die Anhänger des Grundsatzes «Einsperren und Schlüssel wegwerfen» von seinen Vorschlägen zu überzeugen. Die Zahlen von Fabelo waren erschreckend: In nur zwei Jahrzehnten war die Insassenrate von 226 auf 691 pro 100 000 Einwohner gestiegen - doch Bundesstaaten mit einem kleineren Wachstum dieser Zahlen erreichten eine schnellere Senkung der Kriminalitätsrate. Gleichzeitig war jeder dritte texanische Häftling innert drei Jahren nach Freilassung wieder im Gefängnis. «Das System war völlig kaputt», sagt Madden.
Fabelo riet ihm, sich auf Kurzzeit-Institutionen zu fokussieren, um das Problem der rückfälligen Straftäter anzugehen - vor allem derjenigen mit einem Drogen- oder psychischen Problem. Er wies darauf hin, dass jeder Dollar, der so ausgegeben würde, längerfristig mindestens zwei Dollar einsparen würde. Denn immerhin kostet ein Insasse täglich fünfzig Dollar.
Madden schaute die Zahlen an und ging zum Angriff über. Dabei benutzte er traditionell rechte Argumente, um die Anhänger eines kompromisslosen Kurses zu überzeugen. «Wir schafften es, die Richtung zu ändern. Statt von Gutmenschen-Politik sprach man nun vom sinnvollen Einsatz der Mittel. Wenn man Leute in Gefängnissen behält, die nicht dort sein müssten, ist das eine Verschwendung von Steuergeldern.» Einige Verurteilte verdienten es, bis zu ihrem Lebensende im Gefängnis zu sein, «aber man sollte die Gefängnisse nicht mit Leuten füllen, die psychisch krank sind oder in ihrem Leben einmal etwas Dummes gemacht haben.» Es gehe darum, ihr Verhalten zu ändern.
Es gibt wenige, die dies besser verkörpern als Jose Barrajas, ein bulliger 31-Jähriger. Er war elf, als sein Vater in die Wüste geführt und von rivalisierenden Gangstern erschossen wurde. In den folgenden Jahren trank Barrajas viel, nahm Drogen und machte sich zum Ziel, dass ihn niemand so behandeln konnte wie die Männer, die seinen Vater ermordet und seine Mutter missbraucht hatten. «Ich und meine Pistole, das war genug», sagt er, «ich fühlte mich wie ein Cowboy im Wilden Westen, beging Raubüberfälle, stahl Autos.»
Eines Nachts beschloss er, auf aufmerksamkeitserregende Weise zu sterben: «Ich wollte Selbstmord durch die Polizei begehen, sie dazu bewegen, mich umzubringen», sagte er. «Als die Polizei kam, beschoss ich sie, aber sie wollten mich nicht töten. Ich war wütend, dass ich nicht sterben konnte. Unterdessen realisiere ich, wie egoistisch dies war, meiner Familie und meinen Kindern gegenüber.»
Angesichts seiner kriminellen Vergangenheit war es klar, dass Barrajas bei einer Verhaftung lange ins Gefängnis gehen würde. Stattdessen arbeitet er heute als Dachdecker, versucht ein guter Vater zu sein und träumt vom eigenen Pneu-Geschäft. «Natürlich habe ich noch heute schlechte Tage und mache schlechte Erfahrungen. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich es schaffen werde.»
Mehr verstehen, weniger verurteilen
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die Gefängnisinsassen zu reduzieren. Indem man die Zahl der Leute, die ins Strafsystem eintreten, senkt oder indem man die Zahl der Freigelassenen erhöht. Texas hat beides gemacht. Laut Statistik ist die Kriminalitätsrate im Jahr 2011 um 8,3 Prozent gesunken - um viel mehr als im Rest des Landes. Mordraten und Diebstahlraten haben um 15 Prozent abgenommen, Eigentumsdelikte sind zehn Mal schneller gesunken als im Rest der USA - und die Zahl der Gefängnisinsassen ist trotz Bevölkerungswachstum in Texas um 2500 tiefer als im Vorjahr.
Bewährungsdienste mussten sich bis anhin auf ihr Bauchgefühl verlassen, ob jemand wieder in Probleme geraten würde. Jetzt können sie sich auf ausgeklügelte Instrumente zur Risikoanalyse stützen - wodurch die Zahl der Kleinkriminellen, die innerhalb eines Jahres wieder straffällig werden, von 26 auf unter 1 Prozent gesunken ist.
Die Basis der Reform ist eine Idee, die vor allem vielen Rechten fremd ist: mehr zu verstehen und weniger zu verurteilen. «Die Leute, mit denen ich zu tun habe, sind nicht wie du und ich», sagt Richter Francis. «Diese Erkenntnis war für mich ein Schock. Ich bin in einer Familie mit verheirateten Eltern aufgewachsen, die beide einen College-Abschluss hatten. Ich dachte, das sei normal - jetzt weiss ich, dass es das nicht ist.»
Neuer Ansatz reduziert Kriminalität und Ausgaben
Die meisten Leute in seinem Gerichtssaal kommen aus zerbrochenen Elternhäusern, haben keinen Schulabschluss, haben bereits als Teenager Drogen konsumiert und wurden vor ihrem 20. Geburtstag Eltern. «Diese Leute sind dazu prädestiniert, ein schwierigeres Leben zu haben», sagt Francis. «Wir betreiben hier nicht Resozialisierung, sondern versuchen, in einem Jahr 18 Jahre fehlende Elternschaft wettzumachen.»
Das 15-köpfige Team von Richter Francis behandelt jedes Jahr 320 Kriminelle, die meist sechs Monate in speziellen Abteilungen im Gefängnis verbracht haben. Anschliessend folgt ein Jahr mit mehreren Auftritten wöchentlich vor dem Drogengericht mit regelmässigen Drogentests, danach ein Jahrzehnt Bewährung.
Einer, der kürzlich aus dem Programm entlassen worden ist, ist Lavoris Neal. Er ist ein gut gekleideter 33-Jähriger, der grinsend erzählt, dass sein Karohemd, die Chinos und die glänzenden Schuhe im Brockenhaus zwölf Dollar gekostet hätten. Er hat seinen Vater nie gekannt, die Mutter war Analphabetin. Er begann im Alter von acht Jahren zu trinken, mit zwölf Jahren lieferte er Drogen aus, ein Jahr später konsumierte er sie selber.
«Ich dachte, das sei normal», sagt er, «es hatte mir niemand gesagt, dass ich falsch erzogen wurde. Ich weinte bitterlich, als man es mir sagte. Aber ich war ein Kind und machte, was man mir sagte.» Bald hatte er eine Waffe und konsumierte PCP - ein Halluzinogen, das zu Paranoia führt. Er stahl, schoss auf Leute, versteckte sich monatelang vor der Polizei.
Und dann zieht er stolz ein Papier aus einem Ordner: «Schau das hier», sagt er, «noch nie zuvor hatte ich eine Autoversicherung.» Jetzt arbeitet er als Unternehmensberater, seine neue Partnerin erwartet Zwillinge, und er verbringt seine Freizeit in der Bibliothek, um politische Biografien zu lesen. «Ich will die Person, die ich mal war, nie mehr sein», sagt Neal. «Dieses Programm war das Beste, was mir passieren konnte. Nun habe ich das Gefühl, mein Leben ganz neu anzufangen.»
Die Revolution, die in Texas begann und nun durch das konservative Amerika fegt, steckt noch in den Kinderschuhen. Aber alle Anzeichen weisen darauf hin, dass dieser Ansatz die Kriminalität und die Ausgaben für den Strafvollzug reduziert. Oder wie es Richter Francis sagt: «Was ich hier mache, ist das Konservativste, was man machen kann: Ich erziele den grösstmöglichen Effekt für Steuergelder und erreiche gleichzeitig etwas Positives für die Gesellschaft.»