Schmerzhafter Entscheid gegen die SRG
Der Gerichtshof hat die Beschwerde der SRG im vieldiskutierten UWG-Fall um die Nennung eines Schmerzmittels als offensichtlich unbegründet bezeichnet.
Der "Kassensturz" berichtete im April 1993 stellvertretend für andere vergleichbare Medikamente über ein bestimmtes Schmerzmittel, welches unerwünschte Nebenwirkungen zeigte. Der Hersteller erwirkte am Ausstrahlungstag eine superprovisorische Verfügung, welche im "Kassensturz" unter Nennung des urteilenden Einzelrichters kritisch kommentiert wurde. Das Bundesgericht bejahte in BGE 124 III 72 einen Verstoss gegen das Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb (UWG) und akzeptierte den vom bernischen Handelsgericht zugesprochenen Schadenersatz von 480'000 Franken.
Der Entscheid stiess in der schweizerischen Rechtslehre auf Kritik (vgl. etwa J. P. Müller, Grundrechte in der Schweiz, Bern 1999, S. 236f.), die Beschwerde scheiterte nun aber in Strassburg bereits an der Zulässigkeitshürde. Eine Mehrheit der siebenköpfigen Kammer hält in ihrer summarischen Begründung fest, der Fall unterscheide sich wesentlich vom EGMR-Urteil "Hertel c. Schweiz" vom 25. August 1998 (plädoyer 5/98, S. 30ff.). Der Beitrag habe ein einzelnes Medikament herausgegriffen, obwohl nicht behauptet worden sei, dieses Schmerzmittel weise gegenüber den anderen besondere Gefahren auf. Die SRG sei frei gewesen, den Beitrag entweder ohne Erwähnung eines bestimmten Medikaments zu bringen oder aber alle Produkte der fraglichen Medikamentengruppe zu erwähnen.
Was die journalistische Darstellung des Publikationsverbotes betrifft, so fiel dem EGMR die Darstellung von zwei Scheren bei ausdrücklicher Nennung des fraglichen Medikaments auf. Dadurch wurde der unzutreffende Eindruck erweckt, es müsse gerade bezüglich dieses einen Produktes etwas verheimlicht werden.
(Zulässigkeitsentscheid N° 43524/98 der 2. Kammer des EGMR "SRG c. Schweiz" vom
12. April 2001; im Wortlaut abrufbar unter www.medialex.ch)
Steuerhinterziehung: Keine Auskunftspflicht
Weil er sich in einem Steuerhinterziehungsverfahren weigerte, die von den Steuerbehörden angeforderten Dokumente im Zusammenhang mit einer zugebenermassen nicht deklarierten Investition von 238'000 Franken zu beschaffen und herauszugeben, wurde ein Schweizer zuerst mit 1000 und danach mit 2000 Franken Ordnungsbusse belegt. Das Bundesgericht bejahte in BGE 121 II 273 zwar, dass die Busse als strafrechtliche Sanktion den Verfahrensgarantien von Artikel 6 EMRK genügen müsse. Diese Garantien seien aber nicht verletzt, weil die Mitwirkungspflicht keinen unzulässigen Zwang zur Selbstbelastung bedeute.
Der EGMR hingegen bejahte einstimmig eine Verletzung des Schweigerechts. Der Gerichtshof betonte, dass er nicht zu entscheiden habe, ob eine Informationspflicht zum alleinigen Zweck einer korrekten Steuererklärung zulässig wäre. Im vorliegenden Fall konnte der Steuerpflichtige jedoch nicht ausschliessen, dass er aufgrund der herausverlangten Dokumente wegen Hinterziehung belangt würde.
(Entscheid N° 31827/96 der 2. Kammer des EGMR "J. B. c. Schweiz" vom 3. Mai 2001; vgl. Prof. Urs Behnisch, in Jusletter, 7. Mai 2001, www.weblaw.ch)
Haftanordnungen im Kanton Solothurn unzulässig
Das solothurnische Haftanordnungsverfahren genügt den Anforderungen von Art. 5 Ziff. 3 EMRK nicht.
Einstimmig bejahte der Gerichtshof, beim solothurnischen Untersuchungsrichter handle es sich nicht um einen "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten". Nach solothurnischem Strafprozessrecht verfasst der Untersuchungsrichter in Präsidial- und Amtsgerichtsfällen eine Schlussverfügung, die den Sachverhalt zusammenfasst und die Vorwürfe juristisch qualifiziert. Nach Ansicht des EGMR übernimmt diese Verfügung in erheblichem Umfang die Funktion einer Anklageschrift.
(Entscheid N° 26899/95 der 2. Kammer des EGMR "H. B. c. Schweiz" vom 5. April 2001)
Expertenrolle im Fürsorgerischen Freiheitsentzug
Der Chefarzt der psychiatrischen Klinik von Wil SG lehnte die Entlassung einer 30-jährigen, chronisch schizophrenen Frau ab. Die aus einem Berufs- und vier Fachrichtern bestehende Verwaltungsrekurskommission bestätigte diese Verweigerung. Sie stützte sich dabei massgeblich auf die Expertise, die einer der Fachrichter als Referent nach fünfzigminütiger Befragung der Frau angefertigt hatte. Das Bundesgericht bezeichnete die Verquickung sachverständiger und richterlicher Funktionen gemäss der Praxis zu Artikel 397e Abs. 5 ZGB als zulässig. Der Gerichtshof bejahte hingegen mit 12 gegen 5 Stimmen eine Verletzung des Rechts auf unabhängige gerichtliche Überprüfung eines Freiheitsentzugs (Art. 5 Ziff. 4 EMRK). Als unüblich bezeichnete die Mehrheit den Umstand, dass der Referent der Frau nach der Befragung mitteilte, er werde der Kommission eine Abweisung ihres Begehrens beantragen. Die Frau konnte deshalb berechtigte Befürchtungen hegen, der Referent habe eine vorgefasste Meinung über ihre Freilassung.
(Entscheid N° 27154/95 der Grossen Kammer des EGMR "D. N. c. Schweiz" vom 29. März 2001)