Haft einer Afrikanerin zu spät überprüft
Eine in Zürich wohnhafte Afrikanerin wurde am 5. November 2003 aufgrund eines Haftbefehls wegen Verdachts des Menschenhandels und der Förderung der Prostitution verhaftet.
Am 10. November 2003 bestätigte der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs und ordnete wegen dringenden Tatverdachts und Kollusionsgefahr die Untersuchungshaft an. Das Bundesgericht hielt im Urteil 1P.688/2003 vom 5. Dezember 2003 fest, der angefochtene Haftentscheid sei offensichtlich verspätet erfolgt: Nach § 60 der Zürcher Strafprozessordnung (StPO) müsse der Untersuchungsrichter spätestens 24 Stunden nach der Verhaftung dem Haftrichter die Anordnung von Untersuchungshaft beantragen, der innert zwei Tagen zu entscheiden habe. Dennoch trat das Bundesgericht nicht auf die Beschwerde ein und auferlegte der Verhafteten 2000 Franken Verfahrenskosten, da die Verspätung nicht zur sofortigen Haftentlassung führe.
Nach dem einstimmigen Urteil des Gerichtshofs entsprach die Dauer von fünf Tagen bis zur Haftprüfung nicht den Anforderungen von Artikel 5 Absatz 3 EMRK, der eine unverzügliche Vorführung vor einen Haftrichter verlangt. Artikel 5 Absatz 5 EMRK gibt zudem einen Anspruch auf Entschädigung für konventionswidrige Haft. Da die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin aber im Verfahren vor dem Zürcher Obergericht keine solche Entschädigung verlangt hatte, wies der Gerichtshof diese Rüge wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs ab.
Für ihre Unkosten im schweizerischen und im anschliessenden europäischen Gerichtsverfahren sprach der Gerichtshof der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin den verlangten Betrag von 5730 Franken zu.
(Urteil der 5. Kammer N° 17073/04 «Kaiser c. Schweiz» vom 15. März 2007)
In Handschellen vorgeführt und gedemütigt
Erdogan Yagiz hatte während 15 Jahren als Arzt für die Sicherheitspolizei Istanbul gearbeitet, als er im Februar 2000 nach einer Strafanzeige auf dem Parkplatz der Sicherheitspolizei festgenommen wurde. Bevor sie ihn in Polizeigewahrsam nahmen, führten ihn die Beamten in Handschellen zu seinem Arbeitsplatz und zu seiner Wohnung. Der Gerichtshof bejahte einstimmig eine Missachtung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK).
(Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 27473/02 «Erdogan Yagiz c. Türkei» vom 6. März 2007)
Vor Polizisten ausgezogen und erniedrigt
Eine Sondereinsatzgruppe von sechs maskierten Polizisten drang 1998 in Dornbirn in die Wohnung eines Mannes ein, den seine Gattin wegen Gewalttätigkeit, Bedrohung mit einer Schusswaffe, Vergewaltigung und Besitzes von Kinderpornografie angezeigt hatte. Die österreichische Polizei rechnete mit massivem Widerstand bei der Festnahme. Der Tatverdächtige empfing sie mit einem Küchenmesser in der Hand, liess es aber fallen und ergab sich sofort. Die Polizisten legten ihn in Handschellen, zerrten ihn auf einen Tisch und entkleideten ihn. Nachdem sie keine Waffen entdeckt hatten, zogen sie ihn wieder an.
Mit vier gegen drei Stimmen bejahte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Das Entkleiden durch die Polizei in einer besonders hilflosen Situation hatte nach Ansicht der Mehrheit ein so grosses Erniedrigungspotenzial, dass es nur aus einem zwingenden Grund hätte geschehen dürfen. Da nach Waffen und nicht nach kleinen Gegenständen (wie Drogen) gesucht wurde, war die Massnahme unter den konkreten Umständen nicht gerechtfertigt.
Die Gerichtsminderheit bezeichnete ein blosses Abstasten hingegen als klar ungenügend und das Entkleiden als einzig realistische Option. Die Ansicht der Mehrheit trage der schwierigen Aufgabe der Polizei ungenügend Rechnung und drohe, den Schutz von Verbrechensopfern unnötig zu erschweren.
(Urteil der 1. EGMR-Kammer N° 2293/03 «Wieser c. Österreich» vom 22. Februar 2007)
Gewerkschaft: Rechtsextremen ausgeschlossen
Die britische Lokführergewerkschaft Aslef schloss im April 2002 ein zwei Monate vorher aufgenommenes Neumitglied aus, das sich als Aktivist der rechtsradikalen British National Party (BNP) entpuppt und anti-islamistische Flugblätter verteilt hatte. Das Employment Appeal Tribunal bezeichnete den Ausschluss als unrechtmässig, da eine Gewerkschaft ein Mitglied nur aufgrund seines Verhaltens, nicht aber wegen der blossen Parteizugehörigkeit ausschliessen dürfe.
Der gerichtlich angeordnete Zwang zur Wiederaufnahme des Klägers missachtete gemäss dem einstimmigen Urteil des Gerichtshofs die Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) der Gewerkschaft. Gewerkschaften seien oft ideologisch geprägt und hätten klare Auffassungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen.
Dazu stand das Weltbild des BNP-Aktivisten in fundamentalem Widerspruch. Der Ausschluss sei weder missbräuchlich noch unvernünftig. Da die Gewerkschaft keine öffentliche Aufgabe wahrnimmt und auch keine staatliche Unterstützung erhält, sei ihr die Aufnahme solcher Mitglieder vernünftigerweise nicht zuzumuten.
(Urteil der 4. EGMR-Kammer N° 11002/05 «Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen c. Grossbritannien» vom 27. Februar 2007)