Wehrpflichtersatz für Diabetiker: Schweizer Recht ist diskriminierend
Ein wegen Diabetes als dienstuntauglich erklärter Berufschauffeur aus dem Kanton Zürich wehrte sich gegen die ihm auferlegte Ersatzabgabe (im Jahr 2000 bei einem steuerpflichtigen Einkommen von 35800 Franken ein Betrag von 716 Franken). Imvereinfachten Verfahren für offensichtlich unbegründete Beschwerden verneinte das Bundesgericht am 3. März 2004, dass der Diabetiker in verfassungswidriger Weise diskriminiert wird (Urteil 2A.590/2003). Aus Gründen der Rechtsgleichheit habe der schweizerische Gesetzgeber 1994 darauf verzichtet, Behinderte generell von der Ersatzabgabe auszunehmen. Die Abgabe diene als Ersatzmassnahme der Rechtsgleichheit zwischen persönlich Dienstleistenden und – aus welchen Gründen auch immer – Freigestellten, die nicht die gleichen Mühen und Lasten zu erdulden hätten. Eine Befreiung von der Abgabe wegen wirtschaftlicher Bedürftigkeit müsse nach schweizerischer Rechtslage auf eine erhebliche Behinderung zurückgehen (Integritätsschaden von vierzig Prozent). Nicht massgebend sei es, dass der Diabetiker nach eigener Darstellung seine Pflichten gerne durch eine persönliche Dienstleistung (Militär- oder Zivildienst) erfüllen würde und wegen seiner Krankheit (täglich viermaliges Spritzen von Insulin) schon genügend Entbehrungen auf sich nehmen müsse. Es gebe keinen Anspruch, den Pflichtersatz anders zu erbringen als in Form einer Geldleistung.
Die 1. Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) erachtete die schweizerische Haltung jedoch als diskriminierende Beschränkung des Privatlebens (Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK). Die schweizerische Regierung brachte in Strassburg vergeblich vor, eine Befreiung auch leicht behinderter Dienstuntauglicher würde alle jene benachteiligen, die ihre Dienstpflicht persönlich erfüllen.
Der Gerichtshof akzeptierte zwar, dass die Nichtdiskriminierung der Dienstleistenden ein an sich legitimer Zweck ist für Mass-nahmen gegen die Dienstuntauglichen. Dessen Gewicht – und damit der schweizerische Gestaltungs-spielraum – wurden allerdings dadurch reduziert, dass andere Europa-atsstaaten keine entsprechenden Abgaben für Dienstuntaugliche kennen. Zudem laufe ein solches System dem Kampf für die gesellschaftliche Integration von Behinderten zuwider.
Im Rahmen der anschliessenden Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen listet die Urteilsbegründung des Gerichtshofs eine Reihe von Faktoren auf, die das schweizerische Anliegen einer Gleichbehandlung von Untauglichen und Dienstleistenden relativieren. Wohl seien mehr als vierzig Prozent der Dienst-pflichtigen untauglich und die aus der Ersatzabgabe fliessenden Einnahmen für die schweizerische Staatskasse nicht unerheblich. Die fragliche Ersatzabgabe habe heute jedoch kaum mehr eine wichtige abschreckende Funktion und scheine für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit nicht wirklich entscheidend.
Stärker als die von der Schweiz vorgebrachten öffentlichen Interessen gewichteten die privaten Interessen des Diabetikers: Die geschuldete Geldsumme betrug zwei Prozent seines recht bescheidenen Einkommens, was mehr als ein rein symbolischer Betrag sei. Seine prekären finanziellen Verhältnisse konnte er aber nach den Vorschriften des Bundesgesetzes über den Wehrpflichtersatz (SR 661) mangels erheblicher Behinderung nicht anführen.
Dem Gerichtshof leuchtete nicht ein, weshalb die Schweiz – anders als manche andere Staaten – in solchen Situationen keinen Ersatzdienst vorsieht. Vor dem Hintergrund der in demokratischen Gesellschaften herrschenden Grundsätze treffe das schweizerische Recht beim Wehrpflichtersatz keine vernünftigen Unterschei-dungen.
Das einstimmige Urteil fiel mit Zustimmung des schweizerischen Richters Giorgio Malinverni.
(Urteil N° 13444/04 «Glor c. Schweiz» vom 30. April 2009)
Rassismusvorwürfe nach Polizeigewalt: Sorgfältige Abklärung ist Pflicht
Im März 1996 kam es anlässlich der Festnahme eines angeblichen Drogendelinquenten zwischen dem Bruder des Tatverdächtigen und der belgischen Polizei zu einem heftigen Konflikt. Der aus der Türkei stammende Turan Cakir, der nach einem Handgemenge ebenfalls festgenommene Bruder des Tatverdächtigen, warf den drei Polizeibeamten massive körperliche Misshandlungen und rassistische Beschimpfungen vor.
Bei einer Untersuchung gewalttätiger Vorfälle haben die zuständigen Behörden nach den Worten des Gerichtshofs die Pflicht, alle unter den Umständen vernünftigen Schritte zur Auf-deckung allfälliger rassistischer Motive zu unternehmen. Es sei abzuklären, ob Hass oder Vorurteile gegen bestimmte Ethnien bei der Gewalt-anwendung eine Rolle gespielt hatten. Ein entsprechender Nachweis sei zwar in der Praxis oft extrem schwierig zu erbringen. Den Behörden sei aber aufgetragen, die zur Wahrheitsfindung nötigen Beweismittel zusammenzutragen, keine verdächtigen Fakten zu unterdrücken und ausreichend begründete, unabhängige und objektive Entscheidungen zu fällen.
Im konkreten Fall hatten die belgischen Untersuchungsbehörden nicht nur eine ausreichende Abklärung der Turan Cakir durch die drei Polizeibeamten zugefügten, unverhältnismässigen Verletzungen unterlassen und dadurch das Verbot grausamer und erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) missachtet. Darüber hinaus verletzten sie auch das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 3 EMRK), denn sie klärten nicht ab, ob die behauptete rassistische Haltung der belgischen Polizeibeamten für die übermässige Gewaltanwendung gegenüber Cakir kausal war.
Die 2. Kammer sprach Cakir in ihrem einstimmigen Urteil eine Genugtuungssumme von 15000 Euro zu.
(Urteil N° 44256/06 «Turan Cakir c. Belgien» vom 10. März 2009)