Für die US-amerikanische Gerichtsbarkeit könnte der überraschende Sieg von Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl im November nachhaltige Auswirkungen haben. Trump bietet sich die Chance, US-Gerichte auf eine Generation hinaus zu prägen, da der neue republikanische Präsident mit republikanischen Mehrheiten im Kongress und insbesondere im Senat regieren kann, wo von Trump nominierte Bundesrichter bestätigt werden müssen.
Weil sich die republikanische Senatsmehrheit in den beiden letzten Jahren der Obama-Präsidentschaft zusehends gegen richterliche Nominierungen des demokratischen Präsidenten sperrte, darf Trump nun 103 Vakanzen auf allen Ebenen der Gerichtsbarkeit besetzen – Bundesrichter für Distriktgerichte, für die 13 Bundesberufungsgerichte und vor allem für den Supreme Court, das Oberste Bundesgericht, wo ein Nachfolger für den im Februar verstorbenen konservativen Richter Antonin Scalia gefunden werden muss.
Zwar berief Präsident Obama bereits im Frühjahr 2016 den moderaten Appellationsrichter Merrick Garland als Ersatz für Scalia in das höchstrichterliche Gremium. Die Republikaner im Senat aber verweigerten in einem beispiellosen Akt die Bestätigung Garlands, worauf das Gericht in der Folge nur mit acht anstelle der traditionellen neun Richter entschied. Die Besetzung der offenen neunten Richterstelle «sollte nicht erfolgen, bis wir einen neuen Präsidenten haben», begründete Mitch McConnell, der republikanische Mehrheitsführer im Senat, die Haltung der Ratsmehrheit.
Das politische Kalkül der Republikaner ging mit der Niederlage Hillary Clintons auf: Der neue oberste Bundesrichter wird nun von Präsident Trump nominiert werden – und könnte den Beginn einer konservativen Ära in der US-Justiz markieren.
Enorme Machtfülle des Obersten Gerichtshofs
Die Bedeutung des Obersten Gerichts kann kaum überschätzt werden. Zwar gelangen jährlich von Tausenden von Entscheidungen der Bundesgerichtsbarkeit nur rund 70 Fälle vor den Supreme Court in Washington, doch prägen die höchstrichterlichen Entscheide die Gesellschafts- und die Sozialpolitik sowie die Wirtschaft und das Justizwesen selbst.
Die Urteile der «Supremes» sind nicht selten zukunftsweisend und überdies ein Merkmal der verfassungsmässigen Gewaltenteilung. Absehbar war die heutige Machtfülle des Obersten Bundesgerichts keineswegs. Artikel 3 der US-Verfassung hatte 1789 in dürren Worten lediglich bestimmt, dass der Präsident «mit Rat und Zustimmung des Senats Richter für das Oberste Gericht nominieren soll». Im Amt verbleiben konnten die Richter, solange sie «gutes Verhalten» demonstrierten, im Normalfall also auf Lebenszeit.
Nach einem eher unauffälligen Arbeitsbeginn im Februar 1790 – das Gericht vertagte sich mangels hängiger Klagen – weitete der Supreme Court unter dem einflussreichen vierten Chefrichter John Marshall zwischen 1801 und 1835 seine Befugnisse enorm aus, ja etablierte sich mit der Entscheidung «Marbury vs. Madison» zum Gebieter über die Interpretation der US-Verfassung.
Seitdem hat das Oberste Bundesgericht immer wieder tiefgreifend in den Verlauf der US-Geschichte eingegriffen: Es erklärte im 19. Jahrhundert Sklaverei und Rassentrennung rechtens, ehe es 1954 die Rassentrennung im epochalen Urteil «Brown vs. Board of Education» für verfassungswidrig erklärte und das Zeitalter afroamerikanischer Bürgerrechte einläutete. 1964 förderten die obersten Richter im Fall «New York Times vs. Sullivan» die Pressefreiheit. Und 1973 entschied das Oberste Gericht mit «Roe vs. Wade» für die Abtreibungsfreiheit – ein bis heute bitter umkämpftes Urteil.
Umstrittener Entscheid zu Wahlkampfspenden
Zuletzt fällte die konservative Mehrheit des Gerichts 2010 mit «Citizens United vs. Federal Election Commission» ein weitreichendes Urteil: Private Gelder zur Finanzierung amerikanischer Präsidentschafts- und Kongresswahlkämpfe konnten künftig ohne Limit gespendet, die Herkunft der Spenden sogar verschleiert werden – womit nach Ansicht zahlreicher Kritiker organisierter Korruption in der Politik Tür und Tor geöffnet wurde.
Hatte der Kongress ursprünglich sechs Richterstellen für den Supreme Court verfügt, so veränderte sich die Zahl mehrmals, ehe sie 1869 auf neun Richter festgesetzt wurde. Ein Versuch Präsident Franklin Roosevelts, das Gericht 1937 mit 15 Richtern zu besetzen, um so den höchstrichterlichen Widerstand gegen Roosevelts «New Deal» zu brechen, scheiterte kläglich, es blieb bei neun «Justices», wie die obersten Bundesrichter tituliert werden.
Die heutige Zusammensetzung des Gerichts verrät die Polarisierung der US-Politik. Vier Richter wurden von den republikanischen Präsidenten Reagan, Bush und Bush jr. ernannt: Anthony Kennedy, Clarence Thomas, Samuel Alito sowie Chefrichter John Roberts. Ebenfalls vier Richter wurden von den Demokraten Clinton und Obama berufen: Ruth Bader Ginsburg, Stephen Breyer, Sonia Sotomayor und Elena Kagan.
Verhärtete Fronten im Obersten Gerichtshof
Bis zum Tod Antonin Scalias standen sich zwei Blöcke konservativ-republikanischer und liberal-demokratischer Richter gegenüber, wobei der moderat konservative Richter Anthony Kennedy oft als Zünglein an der Waage wirkte und den Ausschlag gab. Nicht immer aber entscheiden die «Supremes» im Sinn derer, die sie nominierten: Zum Entsetzen der Republikaner entwickelte sich Richter David Souter, den der ältere Bush 1990 aufgeboten hatte, zu einem verlässlichen Mitglied der liberalen Fraktion des Gerichts.
Auch der aktuelle und von George W. Bush nominierte Chefrichter John Roberts erregte republikanisches Missfallen, als er Präsident Obamas Reform der Krankenversicherung («Obamacare») entgegen republikanischen Erwartungen nicht kippte. Neu ist die Politisierung des Obersten Gerichts nicht, doch widerspiegelt die zunehmende Verhärtung juristischer Fronten innerhalb des Gerichts die mittlerweile extreme Polarisierung der US-Politik.
Ein weiterer Riss wird durch unterschiedliche juristische Philosophien markiert: Während extrem Konservative wie Clarence Thomas auf einer nahezu buchstäblichen Auslegung der Verfassung beharren und dabei vorgeben, den Intentionen der Verfassungsväter zu folgen, betrachten liberale Richter die Verfassung als lebendes Dokument, das es jeweils neu zu interpretieren gilt.
Und während Richter Anthony Kennedy dafür bekannt ist, sich bisweilen von Rechtsnormen jenseits der Grenzen der USA leiten zu lassen, lehnt der harte konservative Kern des Gerichts dies ab: Er begreift die Vereinigten Staaten als ein einzigartiges Gebilde, das nichts von anderen Nationen zu lernen hat.
Niemand verkörperte striktes konservatives Denken mehr als Richter Scalia, dessen Tod in eine politische Krise führte: Nach Jahrzehnten konservativer Dominanz des Gerichts waren die Republikaner im Kongress keinesfalls gewillt, dem Demokraten Obama die Ernennung eines neuen Richters zuzugestehen und so die prekäre politische Balance innerhalb des Gremiums nach links zu verschieben.
Liberale Errungenschaften sind in Gefahr
Jetzt zahlt sich die Verweigerungshaltung der Republikaner im Senat aus: Wer immer von Trump zum Nachfolger Scalias nominiert werde, «sitzt auf einem gestohlenen Richterstuhl», beklagte die «New York Times» das Schicksal des von Barack Obama nominierten Merrick Garland.
Rückt schon der Ersatz für Scalia das Gericht nach rechts, so könnte es für die Demokraten noch schlimmer kommen: Zwei der liberalen «Supremes», nämlich Ruth Bader Ginsburg und Stephen Breyer, sind 83 und 78 Jahre alt, womit sich Präsident Trump vielleicht die Chance bietet, mindestens einen weiteren Richter zu nominieren. Damit aber hätte die konservative Fraktion wohl freie Bahn – sowohl die Abtreibungsfreiheit als auch die Quotenregelungen für Frauen und Minderheiten gerieten dann in Gefahr. Zumal Trump bereits frühzeitig während des Wahlkampfs angekündigt hatte, konservative Richter vom Schlage Scalias zu nominieren.
Bei der dritten TV-Debatte mit Hillary Clinton versprach Kandidat Trump, von ihm vorgeschlagene Richter würden «gegen die Abtreibungsfreiheit» und von «konservativer Gesinnung» sein. Sie würden «das Recht auf Schusswaffenbesitz schützen, sie werden ausnahmslos hervorragend qualifiziert sein und ausserordentlich respektiert werden», sagte Trump weiter. Ausserdem «werden sie die Verfassung so interpretieren, wie die Gründerväter dies wollten».
Damit beruhigte Trump nicht nur die an ihm zweifelnde republikanische Führungsriege, er sandte überdies ein klares Signal an evangelikal-christliche Wähler sowie an die Schusswaffenlobby. Beide hoffen, Präsident Trump werde einen extrem konservativen Juristen als Nachfolger Antonin Scalias nominieren.
Dabei denken sie in erster Linie an William Pryor, einen Bundesrichter am Berufungsgericht in Atlanta. Über die Abtreibungsfreiheit sagte Pryor, sie repräsentiere «ein verfassungsmässiges Recht zum Mord am ungeborenen Kind». Von der Kontrolle von Schusswaffen hält er nichts. Und keinesfalls seien die ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung, die sogenannte «Bill of Rights», welche die Freiheiten der Amerikaner garantiert, «der wichtigste Bestandteil der amerikanischen Demokratie».
In Washington gilt es als ausgemacht, dass Pryor einer der Favoriten Trumps ist. Der Widerstand gegen ihn formiert sich aber bereits: Pryors Nominierung «würde einen Feuersturm auslösen», glaubt etwa Nan Aron von der liberalen Pressure-group «Alliance for Justice».
Trump muss auch anderweitig auf der Hut sein: Besonders sehr konservative Richter könnten versucht sein, einem autokratisch agierenden Präsidenten Zügel anzulegen. Ausserdem drohte einem extremen Kandidaten Gefahr im Senat: Obschon in der Minderheit, könnten die Senatsdemokraten durch parlamentarische Manöver eine Nominierung über längere Zeit blockieren.
Nicht nur bezüglich des Obersten Gerichts muss Donald Trump Entscheidungen fällen: Die vielen Vakanzen in der Bundesgerichtsbarkeit bedrohen das US-Justizwesen. In Texas wurde sogar der juristische Notstand ausgerufen, weil sieben Richterstellen verwaist sind. Da er zahlreiche Kandidaten für Distrikt- und Berufungsgerichte nominieren wird, kann Trump das politische Gefüge der Justiz auf Jahre verändern: 9 der 13 wichtigen Berufungsgerichte sind zurzeit mehrheitlich von demokratisch-liberalen Richtern besetzt, was der neue Präsident im Verlauf von vier Amtsjahren korrigieren könnte.
Angesagtes Spektakel um Ernennungen
Dafür bedanken kann sich der neue Präsident beim republikanischen Senat: Der für die parlamentarische Bestätigung nominierter Richter zuständige Rechtsausschuss hiess zwar in einem ersten Schritt 25 von Obama ernannte Kandidaten gut. Trotzdem weigerte sich die republikanische Senatsspitze, die erforderlichen Abstimmungen im Plenum anzusetzen. Die republikanischen Taktiken seien «schändlich und ein Makel», reagierte ein Sprecher von Präsident Barack Obama auf die Blockade.
Nun darf Donald Trump das richterliche Vakuum also füllen. Und Washington wappnet sich bereits für das Spektakel, zu dem die Bestätigungsanhörungen für höchstrichterliche Kandidaten im Senat geworden sind. Dass dabei die Fetzen fliegen werden, versteht sich von selbst. Kaum jemand im politischen Betrieb der US-Hauptstadt hat vergessen, wie aggressiv 1987 die Anhörung des letztendlich abgelehnten Kandidaten Robert Bork ablief. Oder wie peinlich 1991 die Befragung des noch immer amtierenden Richters Clarence Thomas wegen dessen angeblicher sexueller Belästigung seiner Mitarbeiterin Anita Hill ausfiel.
Im Zeitalter Donald Trumps kann erst recht gewettet werden, dass der Oberste Gerichtshof noch mehr als in den vergangenen Jahrzehnten zum Spielball politischer Leidenschaften werden wird. Darunter leiden wird nicht nur das Ansehen der Gerichtsbarkeit, sondern auch die Unabhängigkeit der US-Justiz.