plädoyer: Am 24. September können die Stimmbürger über die Altersreform 2020 entscheiden. Das rund 60-seitige Gesetzespaket enthält eine Fülle von Änderungen der AHV und des Pensionskassengesetzes (BVG). Zusammengefasst: Ein starker Abbau der Pensionskassenrente soll mit einem Zustupf von 70 Franken bei der AHV beliebt gemacht werden. Die Erhöhung der AHV-Rente wird durch höhere Prämien und höhere Mehrwertsteuern erkauft. Ist die Koppelung der beiden Säulen gesetzgeberisch sinnvoll?
Ueli Kieser: Die Vorlage wollte verschiedene Interessen ausbalancieren. AHV und BVG wurden bewusst miteinander verknüpft. Es stellt sich aber die Frage, ob die Vorlage ausgewogen ist oder nicht. Die Antwort: Für mich ist diese Reform ein Murks! Man wollte eine Vorlage, die im Parlament eine Mehrheit findet – und hat dies haarscharf erreicht. Versicherungsrechtlich überzeugt das Ergebnis nicht. Eine juristisch saubere Vorlage sieht anders aus. Beispiel: Neurentner sollen 70 Franken mehr AHV erhalten, alle anderen jedoch nicht. Zudem ist in der beruflichen Vorsorge die Übergangsgeneration relativ weit gefasst. Heute 45-Jährige und Ältere werden stark privilegiert.
Marc Hürzeler: Ich bin gleicher Meinung. Die Vorlage ist eine politische Kompromisslösung. Versicherungsrechtlich überzeugt es nicht, wenn versucht wird, Einbussen in der 2. Säule mit der 1. Säule zu kompensieren, und dabei der Kreis der Begünstigten nicht identisch ist mit jenem, der von den Kürzungen betroffen ist.
plädoyer: Die ärmsten Leute – die heutigen oder späteren Empfänger von Ergänzungsleistungen (EL) – stehen bei Annahme dieser Vorlage nachher sogar noch schlechter da als heute. Sie bezahlen mehr AHV- und BVG-Beiträge und kommen bei der Pensionierung inklusive Ergänzungsleistungen auf das gleiche Einkommen. Sie bezahlen aber mehr Mehrwertsteuern und höhere Einkommenssteuern als heute. Denn Ergänzungsleistungen sind steuerfrei, im Gegensatz zur AHV- und Pensionskassenrente. Finden Sie das akzeptabel?
Kieser: Nein. Für diese Leute bringt die Vorlage nichts. Dabei haben wir es hier mit Sozialversicherungen zu tun. Da müsste man sich doch überlegen, wie man denjenigen Leuten eine Leistung vermittelt, die sie wirklich brauchen. Die Ergänzungsleistungen hätte man in diese Vorlage hineinnehmen und die Schwellenwerte im EL-Gesetz erhöhen müssen. Sozialversicherungsrechtlich wäre das sinnvoller gewesen. Aber die EL-Revision wird gerade erst im Parlament diskutiert. Und es sieht nicht nach Verbesserungen der Leistungen aus, im Gegenteil.
Hürzeler: Die Reform enthält eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen – bis hin zum Steuergesetz. Wenn da die Ergänzungsleistungen fehlen, bestätigt das mein Gefühl, dass man die EL-Bezüger nicht berücksichtigen wollte. Das ist schade, da dadurch ein Teil der betroffenen Bevölkerung gewissermassen vergessen geht.
Kieser: Vielleicht befürchtete das Parlament, die Revision zu überladen. Hätte man die EL-Bezüger mitberücksichtigt, wäre vermutlich der Kompromiss mit den Bürgerlichen nicht mehr möglich gewesen. Versicherungsrechtlich bedeutet das Ergebnis des Austarierens: Ein erheblicher Teil der Bevölkerung, den man mit Sozialversicherungen schützen will, hat nichts von dieser Vorlage.
plädoyer: Heutige und künftige Rentner werden in der AHV neu unterschiedlich behandelt. Ein vertretbares Novum?
Kieser: Der Zustupf von 70 Franken ist versicherungstechnisch sicher nicht richtig. Es ist eine Pauschale, die alle künftigen Rentner erhalten – auch wenn sie nur kurze Zeit Beiträge bezahlten. Andererseits erhalten die heutigen Rentner nichts, obwohl sie vielleicht über 40 Jahre Prämien zahlten. Mit diesen 70 Franken hat man ein paar Grundsätze über Bord geworfen.
plädoyer: Diese 70 Franken sind laut Gesetz fix. Das bedeutet: Der Betrag wird real immer kleiner, weil er im Unterschied zum andern Teil der Rente nie an die Teuerung angepasst wird. Die junge Generation von heute, die Jahrzehnte mehr AHV einzahlen muss, hat wohl im Alter praktisch keinen realen Zustupf mehr. Eine sinnvolle Lösung?
Kieser: Es stimmt, diese 70 Franken stehen ohne Bezug zur Höhe der übrigen Rente im Gesetz. Es ist nicht vorgesehen, diesen Betrag – wie die übrige Rente – an die Teuerung anzupassen. Ich frage mich zudem, warum man die IV-Rentner vergass. Die IV-Rentner werden kaum verstehen, warum nicht auch sie diese 70 Franken bekommen.
Hürzeler: Hier will man mit der Vorlage hinsichtlich der Leistungsberechnungen zum ersten Mal eine Ungleichheit zwischen den AHV- und IV-Renten einführen. Seit es diese beiden Versicherungen gibt, berechnete man die Renten bisher immer gleich. Zudem wäre zu berücksichtigen gewesen, dass sich die Senkung des Umwandlungssatzes im BVG nicht nur bei den Altersrenten, sondern auch bei den BVG-Invalidenrenten bemerkbar machen wird, da die IV-Renten mit demselben Umwandlungssatz berechnet werden wie die Altersrenten.
Kieser: Was mich bei der AHV auch noch stört: Neu kann man durch Erwerbstätigkeit nach Alter 65 AHV-Lücken füllen. Das klingt an sich gut – aber davon profitieren natürlich wieder die Leute, die in besseren Verhältnissen leben, die auch nach 65 eine Stelle haben und genug verdienen. Wer aber Lücken hat, gekündigt wurde oder krank ist, kann sie nicht schliessen. Eine solche Regelung kann ich nicht verstehen.
plädoyer: Die Altersreform behandelt die Rentner je nach Zivilstand unterschiedlich. Ehepaare sollen mehr als 200 Franken mehr Rente erhalten. Ist das versicherungsrechtlich auch ein Murks?
Hürzeler: Tatsächlich schafft die Vorlage neue Ungleichbehandlungen. Andere werden nicht behoben – wie etwa die Ungleichbehandlung der Geschlechter bei den Hinterlassenenrenten. Das Parlament hat sich bewusst dafür entschieden, diese Ungleichbehandlung im Gesetz stehen zu lassen. Gut für die Witwen, sehr schade für die Witwer, die in der AHV weiterhin schlechtergestellt bleiben.
Kieser: Rein rechtlich ist dies schwer verständlich. Aber eine Sozialversicherung spiegelt auch die aktuelle Gesellschaft. Und heute ist die Ausgangslage immer noch so, dass mehr Frauen als Männer Teilzeit arbeiten oder nicht erwerbstätig sind. Deshalb sind die Witwen bessergestellt. Im Haftpflichtrecht werden die beiden Geschlechter gleich behandelt, auch zunehmend im Familienrecht – in der Sozialversicherung hingegen nicht. Deshalb wäre es plausibel gewesen, dies ebenfalls aufzugleisen.
plädoyer: Politiker drohen, in Zukunft werde alles noch schlimmer, wenn das Volk dieser Vorlage nicht zustimmt. Eine Erhöhung des Rentenalters in der AHV oder höhere Beiträge sind im neuen Artikel 110a aber schon aufgegleist: Wenn der AHV-Fonds nur noch zu 80 Prozent gefüllt ist, muss der Bundesrat dem Parlament «Stabilisierungsmassnahmen» unterbreiten. Die Babyboomergeneration hat aber in den letzten Jahrzehnten ein AHV-Vermögen von rund 45 Milliarden aufgebaut. Warum soll dieses Geld nicht für diese Generation ausgegeben werden?
Kieser: Ja, gestützt auf diesen Artikel könnte man anstreben, die Mehrwertsteuer oder die Prämien nochmals zu erhöhen – oder das Rentenalter.
Hürzeler: Dieser Artikel ist ein Einfallstor für Änderungen, das stimmt. Aber wenn man beispielsweise im Gesetz das Rentenalter ändern will, könnte das Referendum ergriffen werden. Dann müsste ja Artikel 21 des AHV-Gesetzes geändert werden.
plädoyer: Artikel 13 Absatz 2 BVG gibt den Pensionskassen die Befugnis, das Rentenalter 70 einzuführen. Hier wäre also nicht einmal eine Gesetzesänderung nötig – ein Entscheid des Stiftungsrates der Pensionskasse genügt. Eine richtige Neuerung?
Hürzeler: Der heutige Artikel 13 BVG lässt es bereits zu, dass Pensionskassen ein anderes als das gesetzliche Rentenalter in ihren Reglementen festlegen können – in der Regel ist das ein tieferes, gelegentlich findet man auch heute schon reglementarische Lösungen mit einem Frauenrentenalter 65. Bisher war es aber ab Alter 58 möglich, von der Pensionskasse eine Rente zu beziehen, wenn das im Reglement so vorgesehen war. Neu ist das erst ab 60 möglich. Das ist eine erhebliche Reduktion der Autonomie der Vorsorgeeinrichtungen. Ich frage mich, ob diese Neuerung erforderlich war. Für viele Versicherte bedeutet das den Verlust einer Errungenschaft der letzten Jahre.
Kieser: Die neue Regelung ist eine Verschlechterung. Aber das war der erklärte politische Wille des Bundesrats. Er wollte weg vom Rentenalter 58.
plädoyer: Die für die Versicherten einschneidendste Änderung liegt in der Senkung des Mindestumwandlungssatzes, einer Rentenkürzung um 12 Prozent – obwohl die Reserven der Pensionskassen noch nie so hoch waren wie heute: Ende 2015 lagen sie bei 116,4 Milliarden Franken («Saldo» 4/2017). Die Versicherten zahlten in den letzten Jahrzehnten viel Geld ein, das nicht ihnen, sondern den Pensionskassen gehört. Und jetzt kürzt man ihnen die Renten. Die Zwangsbeiträge für die 2. Säule sind fix, die Leistungen nicht. Ist es fair, ohne Not die Räder am fahrenden Zug zu wechseln?
Kieser: Wenn man als Versicherter Beiträge zahlt, die Leistungen und Prämien aber je nach Laune der Politiker geändert werden, bewegen wir uns weg von einer Versicherung, die eine bestimmte Prämie für bestimmte Leistungen zahlt. Dann bewegen wir uns hin zu einem staatlichen Vorsorgesystem. Die 2. Säule war aber bisher als Versicherung gedacht und konzipiert.
plädoyer: Mit dem BVG wurde 1985 eine obligatorische Versicherung verbunden mit individuellem Alterssparen eingeführt. Jetzt kürzt man die Renten ohne Not um 12 Prozent. Gleichzeitig garantiert die Vorlage den Versicherungen, dass sie für Todesfall- und Invaliditätsleistungen bis zu 100 Prozent höhere Prämien verlangen dürfen, als sie Leistungen erbringen müssen. Wird das BVG also eher zum Wohl der Versicherungen revidiert, und die Versicherten haben das Nachsehen?
Hürzeler: Tatsächlich wird im geänderten Artikel 38 Absatz 2 des Versicherungsaufsichtsgesetzes neu ein Maximalrahmen von zulässigen Risikoprämien festgelegt. Es handelt sich dabei aber eben um einen Maximalrahmen. Zu hohe Risikoprämien führen letztlich zu höheren Überschüssen. Und diese werden auf ein Überschusskonto eingezahlt, das zugunsten der Versicherten zu verwenden ist. Die maximale Gewinnentnahme bleibt gleich: Die in der 2. Säule tätigen Versicherungen dürfen Gewinne von maximal 10 Prozent des Jahresumsatzes entnehmen und an die Aktionäre auszahlen. Ich kann mich dieser Legal Quote nach wie vor anschliessen, schliesslich bieten die Versicherer auch Garantien und Sicherheiten. So kann zum Beispiel eine Vorsorgeeinrichtung mit Vollversicherung auch nicht in Unterdeckung geraten. Das ist für viele Versicherte und auch Arbeitgeber ein Pluspunkt. Meines Erachtens sollte ein Versicherer einen gewissen finanziellen Anreiz haben, damit er das Geschäft weiterhin betreibt.
plädoyer: Solche Anreize gibt es zuhauf. Zum Beispiel dürfen die Pensionskassen und Versicherungen das gesamte Alterskapital eines ledigen Versicherten ohne Unterhaltspflichten für Kinder behalten, wenn er vor dem Pensionsalter stirbt. Wäre es nicht zweckmässig gewesen, solche Konstruktionsfehler des BVG zu beheben, wenn man schon eine derart einschneidende Revision macht?
Hürzeler: Artikel 20a BVG ist eine Kann-Bestimmung. Die Pensionskassen können in solchen Fällen Leistungen erbringen, müssen es aber nicht. Die meisten Vorsorgeeinrichtungen regeln diese Fälle in ihren Reglementen differenzierter und grosszügiger. Es ist aber richtig: Man sollte sich eine Änderung dieses Artikels überlegen. Denn das grösste Vermögen des durchschnittlichen Schweizer Angestellten liegt heute in der Pensionskasse.
plädoyer: Das Parlament hat es auch unterlassen, das grösste gesetzgeberische Problem im BVG zu bereinigen: Pensionskassen, die sowohl obligatorische wie überobligatorische Löhne versichern, können die im Gesetz geregelten minimalen Leistungen unterschreiten. Bei Annahme der Vorlage werden die Umwandlungssätze also nicht auf 6 Prozent sinken, sondern noch tiefer. Hätte dies nicht durch den Gesetzgeber behoben werden sollen?
Kieser: Mit dem System der umhüllenden Kassen kann man heute tatsächlich die Schutzvorschriften des BVG unterlaufen. So etwa den Umwandlungssatz. Man redet von 6 Prozent – und in Wahrheit ist er bei 5 Prozent oder noch tiefer. Diesen Punkt hätte das Parlament schon längstens aufgreifen müssen. Ich kann nicht verstehen, warum das Parlament diese Aufgabe noch immer nicht anpackt. Die Problematik mit den umhüllenden Kassen ist für mich so stossend und ungerecht, weil sie die gesetzliche Regelung zum Schutz der Versicherten ins Leere laufen lässt. Eine Zweiteilung mit einer obligatorischen, im BVG geregelten Versicherung und einer freiwilligen überobligatorischen nach VVG wäre einfach und gerecht. Wir kennen dieses System etwa von den Krankenkassen. Dort ist es selbstverständlich, dass Zusatzversicherte für ihre Prämien auch zusätzliche Leistungen erhalten. Beim BVG ist dies nicht unbedingt so.
Hürzeler: Auch ich finde dieses Anrechnungsprinzip bei den umhüllenden Kassen in einigen Bereichen stossend. Im Gesetz ist diese Frage nicht ausdrücklich geregelt, und die Praxis des Bundesgerichts, die den Anwendungsbereich des Anrechnungsprinzips stetig ausweitet, zum Beispiel auch auf Kinderrenten, ist höchst bedauerlich. Eigentlich wird in der beruflichen Vorsorge Transparenz angestrebt. Durch das Anrechnungsprinzip wird diese Transparenz zum Teil wieder unterlaufen. Der einfache Versicherte kann nicht mehr erkennen, was er letztendlich an Leistungen bekommt und inwiefern sein BVG-Altersguthaben nach Gesetz noch gewährleistet ist.
plädoyer: Auch den vorgeschriebenen Mindestzins auf dem Altersguthaben können die umhüllenden Kassen unterlaufen. Warum ändert der Gesetzgeber das nicht?
Kieser: Ich verstehe auch nicht, warum das Parlament in der Altersreform dieses Problem nicht angepackt hat. An gewissen Stellen hat es mit liebevoller Gründlichkeit mehrere Nebenpunkte geregelt, andererseits die zentrale Frage des Anrechnungsprinzips nicht aufgegriffen. Ein Beispiel: Neu besteht in der AHV die Möglichkeit, nur einen Teil der Rente zu beziehen und den Rest aufzuschieben. Wer wird schon davon Gebrauch machen? Diese Regelung würde bei der Umsetzung enorm viele Fragen aufwerfen. Das Parlament regelt offensichtlich lieber Details, statt grundlegende Fragen anzupacken!
Hürzeler: Immerhin, es gibt auch begrüssenswerte Neuerungen: Artikel 60a BVG verpflichtet die Auffangeinrichtung, Freizügigkeitsguthaben auf Antrag als Rente auszuzahlen. Das ist eine Verbesserung gegenüber der heutigen Situation, weil viele Leute den Job kurz vor dem Pensionierungsalter verlieren und eine Freizügigkeitsleistung erhalten, die sie bis zur Pensionierung auf einem Konto bei einer Stiftung deponieren müssen. Bisher konnten diese Leute nur das Kapital beziehen. Neu können sie das Geld an die Auffangeinrichtung überweisen und dort eine Rente beziehen.
Kieser: Aber wie wird diese Rente berechnet? Das steht nicht im Gesetz. Das darf die Auffangeinrichtung entscheiden. Der gesetzliche Mindestumwandlungssatz gilt hier nicht. Sie darf auch mit einem Umwandlungssatz von 4,3 Prozent rechnen.
plädoyer: Politiker behaupten, die Vorlage sei für Teilzeitangestellte oder Leute mit tiefem Lohn von Vorteil, weil die Eintrittsschwelle in die Pensionskasse tiefer liegt. Rechnet man aber ihre Renten aus, sind sie später auf EL angewiesen. Sie müssten höhere Lohnabzüge akzeptieren, würden aber unter dem Strich nicht mehr Rente erhalten.
Kieser: Ja, aber mit dieser Regelung sparen der Bund und die Kantone Ergänzungsleistungen. Für die Betroffenen ist der tiefe Koordinationsabzug meines Erachtens keine grosse Errungenschaft. Hätte das Parlament den sozial Schwachen wirklich helfen wollen, hätte er bei den Ergänzungsleistungen ansetzen müssen.
Hürzeler: Das Modell laut Vorlage ist zudem administrativ eher kompliziert. Und komplexe gesetzliche Regelungen erfordern eine kostenintensive Umsetzung. Das belastet schlussendlich wieder die Versicherten.
Kieser: Ja, das wird insgesamt eine sehr kostspielige Revision.
plädoyer: Die Verwaltung der heute rund 1700 Pensionskassen kostet die Versicherten mindestens 4 Milliarden pro Jahr. Zur Reduktion der Vermögensverwaltungskosten wird von Experten immer wieder die Gründung eines einzigen Pensionskassenfonds vorgeschlagen, wie es die AHV mit dem AHV-Fonds praktiziert. Warum kürzen die Pensionskassen lieber die Leistungen der Versicherten und erhöhen die Prämien, statt die Kosten für die Verwaltung des riesigen Vermögens zu reduzieren?
Kieser: Es stimmt: Wir zahlen einen hohen Preis für unser System. Vielleicht wäre eine einzige Vermögensverwaltung eine gute Lösung. Denn warum sollen die vielen Pensionskassen ihr Vermögen autonom verwalten, warum nimmt man es nicht zusammen und verwaltet es zentralistischer? Ich stellte das einmal in einem Aufsatz zur Debatte – aber der Aufsatz wurde nicht veröffentlicht. Daran sieht man: Die Bereitschaft, inhaltliche Fragen zu diskutieren, ist in diesem Bereich nicht so gross.
Darüber wird am 24. September abgestimmt
Die Reform der Altersvorsorge enthält vor allem Änderungen des AHV-Gesetzes und des BVG, aber auch neue Bestimmungen bei der IV, im Gesetz über die Ergänzungsleistungen und im ZGB. Die Folgen bei Annahme der Reform:
- Die Mehrwertsteuer steigt um 0,6 Prozent.
- AHV-Neurentner erhalten 70 Franken mehr pro Monat.
- Die Frauen werden ein Jahr später pensioniert und zahlen ein Jahr länger Beiträge.
- Die AHV-Beiträge steigen für alle Unter-65-Jährigen.
- Pensionskasse: Die Lohnabzüge steigen, prozentual am meisten bei den Wenigverdienern und Teilzeitangestellten. Der gesetzliche Umwandlungssatz sinkt von 6,8 auf 6 Prozent – die Renten sinken um 12 Prozent.
- Die monetären Auswirkungen beim Schweizer Medianlohn von 77 124 Franken: Angestellte zahlen bis zur Pensionierung 18 220 Franken höhere Sozialversicherungsbeiträge, Frauen 26 500 Franken mehr. Wer mit 65 Jahren pensioniert wird, erhält eine leicht höhere AHV-Rente (Ledige 70 Franken, Verheiratete bis 113 Franken) und eine leicht tiefere von der Pensionskasse. Die Frauen verlieren im 65. Altersjahr eine AHV- und Pensionskassenrente (rund 40 000 Franken).
Ueli Kieser, 61, Rechtsanwalt, ist Titularprofessor für Sozialversicherungs- und Gesundheitsrecht
an den Universitäten St. Gallen und Bern und Ersatzrichter am Zürcher Verwaltungsgericht.
Marc Hürzeler, 38, ist Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Luzern. Zudem ist er Konsulent einer Anwaltskanzlei in Basel und als Stiftungsrat in zwei Vorsorgestiftungen tätig.