Geschädigtenanwälte kritisieren seit Jahren, dass die Invalidenversicherung (IV) Aufträge an medizinische Gutachter vergibt, die oft einseitige Gutachten zugunsten der IV erstellen und ökonomisch von IV-Aufträgen abhängig sind (plädoyer 6/10). Auch das Bundesgericht erkannte im Medas-Urteil BGE 137 V 210 vom 28. Juni 2011 in der Abhängigkeit der Gutachter von der IV ein Risiko der Befangenheit und verlangte Korrekturen.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat darauf reagiert. Früher wählten IV-Stellen die Gutachter aus. Seit März 2012 verlost das BSV Aufträge für polydisziplinäre Gutachten über die Internetplattform SuisseMed@P. Zudem hat das BSV Verträge mit 18 Gutachterstellen (Medas) abgeschlossen. Das Amt verspricht auf der Plattform, dass die Versicherten darauf vertrauen könnten, von einer «unabhängigen und fachkompetenten Gutachterstelle untersucht zu werden».
Erst nach Vertragsschluss über Anklage informiert
Die Praxis sieht anders aus: Das BSV hält weiterhin an zweifelhaften Gutachtern fest. Das zeigt das Beispiel von Dr. E. J. Der ehemalige Chefarzt des Medizinischen Zentrums Römerhof in Zürich musste sich im April 2012 vor dem Bezirksgericht Zürich wegen des Vorwurfs der Urkundenfälschung verantworten. Er hatte Ende 2007 als Hauptgutachter eine Frau nach zwei Auffahrunfällen trotz Beschwerden als voll arbeitsfähig beurteilt. Er überging dabei das Urteil eines Teilgutachters, schrieb aber wahrheitswidrig im Schlussbericht, dass der Teilgutachter mit seiner Einschätzung einverstanden gewesen sei. Das Zürcher Gericht sprach J. frei, weil ihm kein Vorsatz nachzuweisen war. Die Parteien erhoben Berufung.
Noch vor der Urteilsverkündung hatte das Bundesamt mit J. vereinbart, dass er und seine neue Medas in Schwyz für die IV weiterhin Gutachten erstellen darf. Das BSV erklärte, es sei von J. erst nach Vertragsabschluss über das Strafverfahren informiert worden. Das Bundesamt stellte dem Arzt dennoch ein gutes Zeugnis aus: Sprecher Rolf Camenzind erklärte, dass das BSV keinen Grund sehe, auf die Gutachtertätigkeit von J. zu verzichten. Seine Gutachten hätten «über Jahre zu keinerlei Rügen Anlass gegeben», auch seine fachlichen Qualitäten waren «stets unbestritten». Das BSV gehe, solange das Verfahren läuft, von der Unschuldsvermutung aus.
Hin und Her des Bundesamtes
Vier Wochen später - Mitte Mai - krebste das Amt zurück. Es wies J. an, «die Gutachtertätigkeit für die IV zu unterlassen», bis das Verfahren gegen ihn rechtskräftig erledigt ist. Anlass war ein kurz zuvor veröffentlichtes Urteil des Luzerner Verwaltungsgerichts. Es befand, J. komme wegen des Anscheins der Befangenheit vorläufig als Gutachter nicht mehr in Frage. Denn die Anklage gegen ihn stehe weiter im Raum und «kaum ein Versicherter würde sich unter solchen Umständen freiwillig durch diesen Arzt begutachten lassen». Es berief sich dabei auf das Urteil des Zürcher Bezirksgerichts, das plädoyer vorliegt. Der Zürcher Richter sah nämlich den «objektiven Tatbestand der Urkundenfälschung als erfüllt» an. Er attestierte J. eine «offensichtlich widersprüchliche Begutachtung» und die «Verletzung der ärztlichen und gutachterlichen Sorgfaltspflichten».
Vier Wochen später vollzog das BSV nochmals eine Kehrtwende: J. darf wieder IV-Gutachten verfassen. Das Bundesamt begründete den Entscheid auf Anfrage damit, es sehe nach der Analyse «sämtlicher Akten» keine Rechtfertigung für ein «faktisches Berufsausübungsverbot». Zudem würden die neuen Regeln über die Begutachtung die Wiederholung einer Urkundenfälschung verhindern.
Der Zürcher Geschädigtenanwalt Kurt Pfändler bezweifelt das. Zum Beispiel ändert die neue Vorschrift, dass Teilgutachter fertige Gutachten unterschreiben müssen, nichts daran, dass Medas-Leiter unliebsame Teilgutachter nach Belieben austauschen können. Pfändler erwartet, dass «Untergutachter auch künftig unterschreiben werden, was man ihnen vorlegt». Für ihn ist die entscheidende Frage, die das BSV stellen müsste: Bringt J. «die charakterlichen Voraussetzungen mit, um ein Gutachterinstitut der IV zu leiten».
Betreibungen über Millionen, Suiziddrohungen
Die Zweifel daran sind begründet, wie plädoyer-Recherchen belegen: Der hauptberufliche Gutachter J. litt gemäss mehreren Aussagen mindestens bis Ende 2011 an starken psychischen Problemen. Er drohte laut Zeugen mehrfach mit Suizid. In einem Fall löste er einen Grosseinsatz der Polizei aus, nachdem in seinem Büro ein Abschiedsbrief und Munition gefunden wurde. Die Polizei entdeckte J. laut Presseberichten auf einem Friedhof in Zürich-Witikon, wo er mit Selbstmord drohte und einen Pistolenschuss in die Luft abfeuerte. Spezialisten schafften es nach dreieinhalb Stunden, ihn zur Aufgabe zu bewegen. Sie wiesen ihn in eine Klinik ein. J. will sich auf Anfrage dazu nicht äussern.
J. hat offenbar nicht nur psychische, sondern auch ernste finanzielle Probleme. Laut einem Auszug des Betreibungsamtes Stäfa-Hombrechtikon vom 5. Juli 2012 sind zurzeit Betreibungen im Umfang 4,5 Millionen Franken gegen ihn pendent. Auch dazu will sich J. nicht äussern.
Gutachten in dubio «pro Auftraggeber»
Anwalt Pfändler kritisiert, dass das BSV «weiterhin private Medas-Stellen über das Schicksal von Versicherten entscheiden lässt, auch wenn deren Leiter keine Gewähr für die nötige Vertrauenswürdigkeit und Objektivität bieten». Er hält eine faire Begutachtung für nicht garantiert, solange sich solche Institute auf der BSV-Auswahlplattform befinden.
Selbst für einen Gutachter-Kollegen ist klar, dass «J. angesichts seiner Schulden und Labilität nicht mehr als objektiver, unabhängiger Gutachter arbeiten kann». J. könne es sich kaum leisten, Gutachten zu erstellen, die den Erwartungen von IV und Privatversicherern widersprechen. Dabei gilt J. unter Kollegen ohnehin klar als «pro Auftraggeber» eingestellt, der Versicherte via Gutachten gerne «gesund schreibt». J. will sich zu diesem Vorwurf nicht konkret äussern. Er erklärt aber, dass er in «gesundheitlicher und finanzieller Hinsicht zur vollständigen und unabhängigen Erfüllung der beruflichen Aufgaben in der Lage» sei.
Das scheint auch die Ansicht des BSV zu sein. Auf Anfrage räumt es ein, «Kenntnis von den früheren gesundheitlichen und finanziellen Problemen» von J. zu haben. Das sei aber Vergangenheit. J. verfüge über die Berufsausübungsbewilligung und habe «gegenüber der IV nachgewiesen, dass er in der Lage ist, die Tätigkeit als Gutachter auszuüben».