Erfahrene Strafverteidiger sind konsterniert. Einen «Fehlgriff des Gesetzgebers» nennt Matthias Brunner aus Zürich den Artikel 133 der Strafprozessordnung (StPO), wonach die «zuständige Verfahrensleitung» – im Vorverfahren also die Staatsanwaltschaft – ab Januar 2011 die amtliche Verteidigung bestellt. «Diese Konstruktion widerspricht dem Institut einer Verteidigung, die von der Staats-anwaltschaft unabhängig ist», stellt er fest.
Niklaus Schmid, einst von Bundesrat Arnold Koller mit dem Vorentwurf für eine vereinheitlichte schweizerische Strafprozessordnung beauftragt, teilt die Bedenken. Etwas überspitzt formuliert könne die Staatsanwaltschaft «so ihren eigenen Gegner auswählen», hält der emeritierte Zürcher Professor im Praxiskommentar StPO fest.
Damit entsteht die Gefahr, dass Strafverteidiger womöglich eine konfrontative, erfolgreiche Verteidigungsstrategie unterlassen, weil sie sich künftige Mandate nicht verscherzen wollen.
Laut damaliger Botschaft zum Gesetz trägt Absatz 2 von Artikel 133 StPO den Bedenken ausreichend Rechnung, weil bei der Bestellung der amtlichen Verteidigung «nach Möglichkeit die Wünsche der beschuldigten Person» berück-sichtigt werden.
«Pure Augenwischerei», nennt Niklaus Ruckstuhl, Advokat in Allschwil BL und Professor für Strafprozessrecht an der Universität Basel, diesen Beschwichtigungs-versuch. Einem solchen Wunsch könne selten entsprochen werden, weil die Beschuldigten kaum je einen Anwalt kennten oder der genannte Anwalt das Mandat wegen Überlastung oder Interessenkollision nicht übernehmen könne. Trotzdem sei das Vorschlagsrecht nur einmalig.
«Manche Kantone kannten bisher ein uneingeschränkt freies Wahlrecht», hält der St.Galler Strafrechtsexperte Niklaus Oberholzer fest. Der Wortlaut des Gesetzes bringe da also eine Einschränkung.
Die Berner lassen sich von solchen Bedenken nicht beirren. Sie wollen Artikel 133 telquel umsetzen und halten damit am bisherigen System fest: Heute bestellt der Untersuchungsrichter (UR) den amtlichen Verteidiger, nach der aktuellen Justiz-reform heisst er Staatsanwalt und wird dasselbe tun.
«Der Kanton Bern vertraut aufs Führungsprinzip statt auf starre Regelungen», erläutert der stellvertretende Generalprokurator Felix Bänziger. Bei jeder Ernennung eines Offizialverteidigers soll voraussichtlich eine Kopie der Verfügung an den Leiter der regionalen Staatsanwaltschaft gehen. «So fiele die Bevorzugung eines bestimmten Anwalts rasch auf», ist Bänziger überzeugt. Ohnehin bevorzuge ein guter Staatsanwalt als Gegenspieler einen starken Strafverteidiger, und «nicht zuletzt ist die Verfügung beschwerdefähig».
Bernische UR benutzen bei der Bestellung eines Offizialverteidigers häufig eine eigene Handkartei mit spezialisierten Strafrechtlern, obwohl der kantonale Anwaltsverband (BAV) eine Pikettliste anbietet. Aber die BAV-Liste unterscheidet zu wenig zwischen Opfervertretern, Strafverteidigern oder Scheidungsanwälten, jeder interessierte Fürsprecher kann sich eintragen lassen. Ob Krethi und Plethi auch künftig auf die Liste kommen, zeigt sich, wenn der BAV im Laufe des Jahres sein Konzept für eine neue Pikettliste vorlegt.
Andere Kantone entschärfen die Problematik von Beginn weg. Etwa, indem nicht die Staatsanwaltschaft selbst amtliche Verteidiger bestellt, sondern als vorgesetzte Behörde die Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft. Dem Staatsanwalt bliebe lediglich eine Notkompetenz in dringenden Fällen. «Wir möchten damit die Straf-untersuchung von potenziellen Konflikten entlasten», betont Martin Bürgisser, Oberstaatsanwalt im Kanton Zürich.
Da ernennen heute die zwölf Bezirksgerichtspräsidenten oder ihre Stellvertreter die Offizialverteidiger (bei Kapitalverbrechen die Anklagekammer). Bezeichnet der Beschuldigte keinen Wunschanwalt, arbeitet das Bezirksgericht Zürich mit einer alphabetischen Liste, die mehrere hundert Strafverteidiger umfasst und jährlich aufdatiert wird. Dabei achtet es auf eine gerechte Verteilung der rund 1100 amtlichen Verteidigungsmandate (Stand 2008).
In den kommenden Monaten baut die Oberstaatsanwaltschaft ein zentrales Büro für amtliche Mandate auf. Ein spezialisierter Staatsanwalt, der per Stellenaus-schreibung gesucht worden ist, soll diese Aufgabe anpacken, sobald das Parlament das kantonale Einführungsgesetz verabschiedet hat. Dies ist im Frühling geplant.
Auch der Kanton Basel-Stadt will «jeden Anschein vermeiden, dass die Staatsanwälte jene amtlichen Verteidiger auswählen, die ihnen genehm sind», so der Erste Staatsanwalt Thomas Hug. Deshalb sei eine ähnliche Lösung wie bei der Verteidigung der ersten Stunde denkbar (siehe Box), wo die Advokatenkammer die Namen zur Verfügung stellt.
Im Kanton St.Gallen strebt der Anwaltsverband eine automatische Zuordnung über die Pikettanwälte an. «Wir haben eine Informatik-lösung für eine Pikettlösung in Auftrag gegeben», sagt Vorstandsmitglied Fredy Fässler. Sie soll die alphabetische Liste des Departements für Sicherheit und Justiz ablösen. Er unterstütze dieses Anliegen, sagt der Erste Staatsanwalt, Thomas Hansjakob. Erfreut reagieren vom bisherigen alphabetischen System benachteiligte Anwälte wie der St. Galler W.: «Während zwei Jahren habe ich kein einziges amtliches Mandat über die Liste erhalten.» Sein Studienkollege B. hingegen habe viele Mandate erhalten.
Der Kanton Luzern sieht keinen Anpassungsbedarf. «Die Strafverfolgung kann hier bei der Auswahl der amtlichen Verteidiger nicht Einfluss nehmen», so der geschäftsleitende Staatsanwalt Daniel Burri.
Formell erfolgt zwar die Einsetzung durch den Amtsstatthalter – künftig Staats-anwalt –, doch wenn die Beschuldigten keinen eigenen Anwalt nennen, wählen sie einen Namen aus der parteipolitisch ausgewogenen Liste von zehn ordentlichen amtlichen Verteidigern aus, die der Regierungsrat für eine Amtsdauer von vier Jahren wählt.
Über alles betrachtet liegt es auf der Hand, dass mit der schweizerischen StPO das bisherige Recht nach unten nivelliert wurde. Niklaus Oberholzer bedauert, dass sich der Gesetzgeber nicht dazu durchringen konnte, bisherige höhere Standards weiterzuführen: «Umso mehr ist jetzt die Anwaltschaft bei den praktischen Umsetzungsfragen gefordert.»
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Anwalt der ersten Stunde: Basel-Stadt hat Nase vorn
Für etliche Kantone ist der Anwalt der ersten Stunde eine neue Institution. Für Kantone, die bereits solche Verteidigungsrechte kennen, bringt Artikel 159 der Schweizerischen Strafprozessordnung oft eine Erweiterung. Angeschuldigte erhalten das Recht, schon bei der ersten polizeilichen Einvernahme einen Verteidiger beizuziehen. Noch ist vielerorts nicht klar, wie die Umsetzung in der Praxis auch nachts oder an Wochenenden sichergestellt wird.
Bereits klare Konturen hat die Umsetzung hingegen im Kanton Basel-Stadt. «Wünscht der Angeschuldigte einen Anwalt, wird die Kriminalpolizei in der Regel mit der ersten Befragung zuwarten», sagt der Erste Staatsanwalt Thomas Hug. Normalerweise dürfen bis zu «einigen Stunden» verstreichen, bei dringenden Fällen muss der Verteidiger aber innert 30 bis 45 Minuten ab Aufgebot vor Ort sein. Nur bei ausserordentlicher Dringlichkeit, etwa bei Gefährdung von anderen Personen, erfolge die Befragung sofort.
Wünschen Angeschuldigte keinen bestimmten Verteidiger, wird einer der Anwälte aufgeboten, den das Pikett für den entsprechenden Tag eingeteilt hat.
Die Kosten für die Teilnahme der Verteidigung an der ersten Befragung trägt die Staatsanwaltschaft gemäss geleistetem zeitlichem Aufwand.