Ob es zutrifft, dass «Vergewaltiger als Ersttäter oft nur zu zwei Jahren bedingt verurteilt» werden, wie dies die Zürcher SVP-Nationalrätin Natalie Rickli behauptete, kann in Ermangelung entsprechenden empirischen Datenmaterials nicht beurteilt werden. «Solche Strafen werden schlicht nicht ernst genommen und ermuntern Täter geradezu, ihre krankhaften Fantasien auszuleben», liess sie sich in der «Mittellandzeitung» vom 15. Januar 2009 vernehmen und vergass dabei geflissentlich, dass eine bedingte Freiheitsstrafe nicht bedeutet, im Bewährungsfalle würde gänzlich auf Strafe verzichtet, sondern nur auf den zum Urteilszeitpunkt noch nicht verbüssten Teil. Im Regelfalle – also wenn ein Tatverdacht sich nicht von Vornherein als ausgesprochen zweifelhaft erweist – werden wegen eines Sexual- oder Gewaltdelikts Verdächtige während des Untersuchungsverfahrens für die Dauer einiger Monate in Untersuchungshaft genommen. Das bedeutet, dass in diesen Fällen bedingt ausgesprochene Freiheitsstrafen faktisch teilbedingte Strafen darstellen. Denn die ersessene Untersuchungshaft wird an eine bedingte Freiheitsstrafe angerechnet.
Dabei ist die Problematik noch gar nicht berücksichtigt, dass die Strafrichter aufgrund der Entschädigungsfolge im Falle eines Freispruchs proportional zur Dauer der ersessenen Untersuchungshaft zunehmend Skrupel haben, in dubio pro reo freizusprechen. Denn jeder Monat unrechtmässigen Freiheitsentzugs kostet den Staat 3000 Franken.
Im Zweifel wird schuldig gesprochen
Im Interesse der Schonung des staatlichen Finanzhaushalts neigen die Strafgerichte dazu, im Zweifel nicht frei-, sondern schuldig zu sprechen. Gewissermassen in pragmatischer Kompensation der in Missachtung strafprozessualer Grundprinzipie zu- ungunsten des Anklagten ausgefallenen Interessenabwägung wird demgegenüber von der Gewährung des bedingten Strafvollzugs grosszügig Gebrauch gemacht.
Die Behauptung, wonach Vergewaltiger ungeschoren davon kämen, erweist sich demnach als in doppeltem Sinne unzutreffend: Zum einen verbüsst jeder eines Sexual- oder Gewaltdelikts Beschuldigte, selbst wenn die Vorwürfe zu Unrecht erhoben wurden, einen Freiheitsentzug von mehreren Monaten. Zum anderen sind bedingte Freiheitsstrafen – soweit sie in solchen Fällen überhaupt vorkommen – nicht Folge einer «Kuscheljustiz», sondern der proportional zur Untersuchungshaftdauer zunehmenden Hemmung der Gerichte, den Angeklagten unter Entschädigungsfolge freizusprechen.
U-Haft als unbedingte Strafe verstanden
Diese Impressionen aus der Rechtspraxis werden durch die seit 1984 jährlich erhobenen Strafurteils- und Untersuchungshaftstatistiken bestätigt: In den Fällen, in denen Untersuchungshaft angeordnet wird und es zu einer Verurteilung kommt, beträgt die durchschnittliche Dauer des angeordneten Freiheitsentzugs drei Monate. Dabei ist zudem zu beachten: Zum einen umfassen die Strafurteils- und die Untersuchungshaftstatistik nicht nur Sexual- und Gewaltdelikte, sondern alle Deliktskategorien – also insbesondere auch Vermögensdelikte. Von denen ist zu vermuten, dass sie in der Regel kürzer ausfallen.
Zum anderen gibt die Statistik keinen Medianwert an, so dass die durchschnittliche Dauer richterlich überprüfter Untersuchungshaft bereits auf fünf bis sechs Monate zu liegen käme, wenn man davon ausginge, dass in der Hälfte der Haftfälle die Tatverdächtigen spätestens nach den ersten zwei bis vier Wochen Haft wieder entlassen werden. Darunter wären hauptsächlich Delikte von minderer Schwere oder mit einem Tatverdacht von geringer Substanz, nicht jedoch die angesprochenen Sexual- und Gewaltdelikte mit handfestem Tatverdacht zu subsumieren.
Debatte als rhetorische Angelegenheit entlarvt
Aufgrund der dargelegten Ausführungen lässt sich festhalten, dass die Debatte um die vermeintliche «Kuscheljustiz» eine rein politisch-rhetorische Angelegenheit darstellt. Dies erhellt sich vor allem daraus, dass die Fälle richterlich überprüfter Untersuchungshaft genau den zeitlichen Rahmen (drei bis sechs Monate) der umstrittenen kurzen unbedingten Freiheitsstrafe umfassen.
Dieses Faktum findet im Übrigen auch seine Entsprechung im Gesetz: Gemäss Artikel 234 Absatz 1 Strafprozessordnung (StPO) sollen Untersuchungs- und Sicherheitshaft dann nicht in getrennten Haftanstalten vollzogen werden, wenn sie «daneben nur dem Vollzug kurzer Freiheitsstrafen dienen». Und diese Gleichstellung durch den Gesetzgeber verrät dessen Auffassung, wonach die Zwecksetzung von Untersuchungshaft und kurzen Freiheitsstrafen so unterschiedlich nicht sein kann.
Aufgrund zahlreicher empirischer Studien gilt es in der Wissenschaft als gesichert, dass sich die Rückfallgefahr eines verurteilten Straftäters mit zunehmender Haftdauer vergrössert. Besonders frappant ist dieses Phänomen bei kurzen Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten, was den Gesetzgeber in Anbetracht der im Verhältnis dazu relativ geringen Deliktsschwere zur Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe bewogen hat. Darüber hinaus geht aus einer von Kathleen Otto und Claudia Dalbert bei jungen Straffälligen durchgeführten Studie hervor, dass eine effektive Verbrechensbekämpfung nur über ein faires Verfahren führen kann: Ausgangspunkt und zentralen Faktor bildet dabei das sogenannte Belief in a Just World (BJW) – der Glaube an eine gerechte Welt. Dies einerseits deshalb, weil das BJW Ausdruck eines persönlichen Vertrages und der Verpflichtung sei, sich fair zu verhalten. Andererseits erhöht ein ausgeprägtes BJW das Empfinden von Schuld und Reue und damit die Bereitschaft, die Strafe zu akzeptieren und eine wirkliche Motivation zu entwickeln, das Gesetz inskünftig zu befolgen.
Ein unfaires Strafrecht führt zu mehr Kriminalität
Daraus erhellt sich, dass eine effektive Strafverfolgung – eine also, die eine erfolgreiche Kriminalprävention verspricht – die Dauer von Untersuchungshaft so kurz wie möglich zu halten hat.
Zum einen läuft das Verfahren mit zunehmender Haftdauer zusehends Gefahr, unfair (und damit uneffektiv) zu werden, weil der Beschuldigte die Untersuchungshaft mit zunehmender Dauer immer mehr als Vollzug einer (kurzen) Freiheitsstrafe ohne richterliches Urteil wahrnimmt. Zum anderen nimmt der entscheidende Faktor, das persönliche BJW, mit zunehmender Dauer eines Freiheitsentzugs kontinuierlich ab. Kurzum, eine effektive Verbrechensbekämpfung führt nicht über ein unerbittliches Strafrecht. Es kann allein durch die Gewährleistung eines fairen Verfahrens sichergestellt werden.
Täter-Resozialisierung ist Kriminalprävention
Zwar wird Untersuchungshaft zuweilen auch als Ausdruck des Anliegens verstanden, der Tat die Strafe auf dem Fusse folgen zu lassen und deshalb eine intensivere Abschreckungswirkung zu haben als die Strafe, die schliesslich nach einem langwierigen Ermittlungs-, Haupt- und Rechtsmittelverfahren vollzogen wird. Dennoch wirkt sich – wie oben dargelegt – Kriminalprävention durch den Vollzug von Strafe ohne rechtskräftige Verurteilung als Ausdruck eines unfairen Verfahrens kontraproduktiv aus.
Demgegenüber haben sich umgehende Reaktionen im massnahmefokussierten Jugendstrafrecht in Form resozialisierender Vorkehren sehr bewährt.
Daraus erhellt sich, dass wenn die Strafverfolgungsbehörden aufgrund ihres Selbstverständnisses Kriminalprävention schon zu ihren Aufgaben rechnen, eine solche vielmehr im Wege der Anordnung resozialisierender Massnahmen zu betreiben wäre anstelle von überlanger Untersuchungshaft als einer Art Präventivstrafe. Den Strafverfolgungsbehörden bleibt als Folge der politischen Defizite, Kriminalprävention über die sozialpolitischen Instrumente der Förderung des sozialen Friedens und der sozialen Sicherheit zu betreiben, wohlgemerkt auch nicht viel anderes übrig.
Um die Resozialisierungschancen der Beschuldigten möglichst hoch zu halten, wäre es also im Gegensatz zu den populistischen Forderungen sehr wichtig, auf eine möglichst rasche Entlassung hinzuwirken.
Dies gehörte sich an sich schon aus den zentralen Grundsätzen des Beschleunigungsbots und der Unschuldsvermutung (Artikel 6 StPO, Artikel 31 Absatz 3 Bundesverfassung und Artikel 5 Ziffer 2 der europäischen Menschenrechtskonvention), welche dank Bundesgericht (Urteil vom 14. 7. 2009) und Gesetzgeber (Art. 212 Abs. 3 StPO) in der Rechtspraxis jedoch schlicht inexistent sind.
Kriminalpolitisch sinnvoller Kompromiss
Die für die Realisierung dieses, unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Kriminalprävention, äusserst sinnvollen, kriminalpolitischen Kompromisses erforderlichen gesetzlichen Grundlagen sind eigentlich bereits vorhanden: Einer ana-logen Anwendung von Artikel 93 Absatz 1 Strafgesetzbuch (StGB, Bewährungshilfe) und Artikel 58 Absatz 1 StGB (vorzeitiger Massnahmevollzug) steht im Sinne eines Angebots auch an entlassene Untersuchungshäftlinge rechtlich nichts entgegen.
Aber auch als Auflage im Rahmen von Ersatzmassnahmen zur Entlassung aus Untersuchungshaft steht der vorgeschlagenen analogen Anwendung der genannten Bestimmungen nichts im Wege und wird vereinzelt auch so praktiziert. Dies setzt allerdings voraus, dass die Fortführung von Untersuchungshaft im Falle der Ablehnung der Auflagen seitens des Beschuldigten weiterhin zulässig wäre.
Aus wissenschaftlicher Perspektive könnte gegen diese kriminalpolitisch sinnvolle Ausgestaltung des Strafverfahrens zwar eingewendet werden, dass dadurch in unzulässiger Weise die Zwecke der Verfahrenssicherung und der Resozialisierung miteinander vermengt würden.
Zweckvermengung – ein Faktum der Rechtspraxis
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Vermengung von Zwecken der Verfahrenssicherung mit kriminalpräventiven Bedürfnissen ein nicht zu leugnendes Faktum der Rechtspraxis darstellt, mit dem sich die Wissenschaft wohl oder übel abzufinden hat: Die kriminalpräventiven Bedürfnisse der Strafverfolgungsbehörden lassen sich als Ausdruck des menschlichen Wesens nun mal nicht leugnen.
Aufgabe der Rechtswissenschaft kann es demnach nur sein, diesen in rechtlich sinnvoller Weise Rechnung zu tragen, auch wenn damit zwangsläufig eine Vermengung von Zwecken einhergeht.