Polizei und Staatsanwaltschaften fahnden immer öfter mit Hilfe des Internets. Im Kanton Basel-Stadt wurde das Internet laut Kriminalkommissär Peter Gill zur Identifizierung mehrerer Hooligans sowie in zwei weiteren Fällen eingesetzt. Bern arbeitet gemäss Staatsanwalt und Informationsbeauftragtem der Staatsanwaltschaft Christof Scheurer «nur in vereinzelten Fällen» mit dem Instrument der Internetfahndung, «beispielsweise beim Cupfinal». Auch Luzern setzte die Internetfahndung laut Staatsanwaltschaft schon mehrfach ein - so 2007 als erster Kanton zur Identifizierung von Hooligans. Hanspeter Krüsi von der Kantonspolizei St. Gallen beziffert die Zahl der bis heute durchgeführten Internetfahndungen auf vier. Zürich hat gemäss Caroline Bouvard von der Oberstaatsanwaltschaft allein seit Anfang 2011 drei Internetfahndungen durchgeführt.
Welche Bilder zur Identifikation eines Tatverdächtigen ins Internet gestellt werden, ist von Kanton zu Kanton verschieden. In St. Gallen werden laut Staatsanwalt Thomas Hansjakob keine ganzen Filmsequenzen von Delikten publiziert - im Unterschied etwa zu Basel. Immerhin müssen dort laut Kriminalkommissär Gill «die Opfer beziehungsweise deren Angehörige und unbeteiligte Dritte der Massnahme zustimmen oder diese Personen durch Verpixelung unkenntlich gemacht werden».
Im Gesetz wird das Internet nicht erwähnt
Die Staatsanwaltschaften stützen sich für die Internetfahndungen auf die Artikel 74 und 211 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO). Diese Artikel regeln die Fahndung mit Hilfe der Öffentlichkeit (siehe Kasten auf Seite 12). Das Internet wird im Gesetz allerdings nicht erwähnt. Den Strafrechtsprofessoren Niklaus Ruckstuhl und Christian Schwarzenegger genügt Artikel 74 StPO aber trotzdem als gesetzliche Grundlage für die Internetfahndung.
Der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer würde sich aus grundrechtsdogmatischer Sicht eine präzisere Umschreibung der möglichen Fahndungsmethoden wünschen. Er weist aber darauf hin, dass der Wortlaut der Strafprozessordnung eine Internetfahndung zulasse, «insbesondere weil das Bundesgericht hier an die Klarheit und die Bestimmtheit keine hohen Anforderungen stellt».
Gesetzliche Grundlage genügt nicht allen Experten
Anderer Ansicht ist Rainer J. Schweizer, Staatsrechtsprofessor in St. Gallen. Artikel 74 der Strafprozessordnung genüge nicht als gesetzliche Grundlage, sagt er. Denn: Internetfahndungen seien immer auch Mitteilungen ins Ausland. «Diese Informationen gehen namentlich auch in Staaten, wo die betroffenen Personen keinen ausreichenden Daten- und Gerichtsschutz haben», gibt Schweizer zu bedenken. Das sei datenschutzrechtlich heikel: «Kriminaldaten sind besonders schützenswerte Personendaten. Ihre Mitteilung in ausländische Staaten müssten den Voraussetzungen der grenzüberschreitenden Bekanntgabe gemäss Datenschutzgesetz genügen.» Das sei, so Schweizer, bei Internetpublikationen nie der Fall.
Die gesetzliche Grundlage erweist sich damit als dünn. Die angefragten Behörden erklären denn auch durchwegs, dass sie nur bei «schwerwiegenden Delikten» mit der Internetfahndung arbeiten würden. Unklar ist jedoch, was sie darunter verstehen. In der Praxis sind sich nämlich die Staatsanwaltschaften nicht einig, was als Bagatelle zu qualifizieren ist.
Mal so, mal anders bei Bancomatbetrügereien
Ein Beispiel dafür sind Bancomatbetrügereien: Der St. Galler Staatsanwalt Hansjakob lehnt es mit dem Hinweis auf die Geringfügigkeit des Delikts ab, hier das Internet als Fahndungsinstrument einzusetzen. Simon Kopp, Leiter der Medienstelle der Staatsanwaltschaft Luzern, sagt demgegenüber: «Vereinzelt haben wir auch schon Bilder von Tatverdächtigen publiziert, die Bankkarten gestohlen hatten und sie an Bancomaten einsetzen wollten.»
Beispiel Hooligans: Die Staatsanwaltschaften stufen Hooliganismus unisono in die Kategorie «schwerwiegende Straftat» ein. Die Zürcher Rechtsanwältin Manuela Schiller kritisiert: «Die Gerichtspraxis betrachtet einen Schaden von über 10 000 Franken bereits als grossen Schaden. Der ist bei Ausschreitungen schnell erreicht.» Anzufügen wäre: Das Gleiche gilt auch für fast jeden Autounfall.
Rainer Schweizer sieht deshalb eindeutig Handlungsbedarf: «Es braucht eine gesetzliche Grundlage für die Kriterien, bei welchen schweren Delikten die Internetfahndung gerechtfertigt ist.» Für seinen Basler Kollegen Niklaus Ruckstuhl ist ein Deliktskatalog unnötig: «Es gilt das Verhältnismässigkeitsprinzip. Wegen einer Bagatelle darf man nicht öffentlich zur Fahndung aufrufen.»
Trotz all der Unklarheiten haben die Kantone nur teilweise Ausführungsbestimmungen zu der Internetfahndung erlassen, so beispielsweise Luzern, Basel-Stadt und indirekt auch Bern über ihre «Hooliganismus-Richtlinie». Schaffhausen, Zürich und St. Gallen verzichteten auf eine weitergehende Regelung. «Alle Internetfahndungen im Kanton werden von mir bewilligt. Damit ist eine einheitliche Handhabung sichergestellt», sagt der Erste St. Galler Staatsanwalt Hansjakob.
Massiver Eingriff in die Selbstbestimmung
Die Besonderheiten des Internets sind bei den Strafverfolgungsbehörden kein Thema - etwa die weltweite und jederzeitige Abrufbarkeit der Internetbilder. Sie berufen sich darauf, dass sie von der Internetfahndung nur als ultima ratio Gebrauch machen. Staatsrechtsprofessor Schefer aber gibt zu bedenken: «Die Internetfahndung greift massiv in die informationelle Selbstbestimmung ein.» Die Fahndungsbilder können im Netz einfach kopiert und so auch nach einer Löschung auf der behördlichen Seite auf weiteren Plattformen verbreitet werden. Das ist denn auch für den Zürcher Strafrechtsprofessor Christian Schwarzenegger problematisch: «Die Webpublikation sollte derart erfolgen, dass die Videos oder Bilder nicht kopiert und auf anderen Websites veröffentlicht werden können.»
In Zürich wurde laut Marco Cortesi von der Stadtpolizei die Möglichkeit einer Kopiersperre geprüft. Aber auch für ihn ist klar: «Ein Printscreen bleibt immer möglich.» Die Zürcher Polizei verwendet laut Cortesi deshalb konsequent Bilder von schlechter Qualität, die kaum vergrösserbar seien.
Suchmaschinen werden das Bild immer finden
René Huber, Datenschutzbeauftragter des Kantons Zug, weist auf ein weiteres gravierendes Problem hin: Fotos müssten vor dem ewigen Zugriff von Suchmaschinen geschützt werden: «Die Seiten könnten entsprechend programmiert werden. Oder es können Mechanismen eingesetzt werden, die das Auffinden der Bilder durch Maschinen erschweren», sagt Huber. Für den St. Galler Staatsanwalt Hansjakob ist die Möglichkeit der Weiterverbreitung kein Problem: «Wenn der Gesetzgeber in Artikel 74 StPO die Öffentlichkeitsfahndung erlaubt, nimmt er auch diese Konsequenz in Kauf.»
Die Internetfahndung wirkt als öffentlicher Pranger, bevor ein Gericht über Schuld oder Unschuld entschieden hat. Der Zuger Datenschützer René Huber verlangt deswegen, dass auch bei Internetfahndungen ausdrücklich auf die Unschuldsvermutung hingewiesen wird.
Eine Forderung, die mit dem jüngst erfolgten Freispruch eines angeblich gewalttätigen Fussballfans durch das Bezirksgericht Zürich an Gewicht gewinnen dürfte. Während sich die Zürcher Staatsanwaltschaft sicher war, dass der Angeklagte auf den im Internet veröffentlichten Bildsequenzen Teil einer gewalttätigen Auseinandersetzung gewesen sei, interpretierte das Gericht die Bilder anders und sprach den Angeklagten frei. Auch in Basel war schon mal der Falsche im Visier. Ein vermeintlicher Hooligan wurde per Internet gesucht. Nur war der Mann zum betreffenden Zeitpunkt gar nicht im Stadion. Seine Stelle verlor er trotzdem.
Bruchstückhafte Regelung in der StPO
Die Staatsanwaltschaften stützen sich für ihre Internetfahndungen auf die Artikel 74 und Artikel 211 der StPO. Darin werden Staatsanwaltschaft und die Gerichte sowie mit deren Einverständnis die Polizei ermächtigt, die Öffentlichkeit über hängige Verfahren zu orientieren, damit die Bevölkerung bei der Aufklärung von Straftaten oder bei der Fahndung nach Verdächtigen mitwirkt. Der Begriff Internet wird im Gesetz nicht erwähnt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die öffentliche Fahndung:
- Die Bedeutung der Straftat muss die Zwangsmassnahme rechtfertigen (Artikel 197 Absatz 1 Buchstabe d StPO)
- Ein hinreichender Tatverdacht muss vorliegen (Artikel 197 Absatz 1 Buchstabe a)
- Die Massnahme muss verhältnismässig sein (Artikel 74 Absatz 1 StPO und Artikel 197 Absatz 1 Buchstabe c StPO)
- Die Unschuldsvermutung und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen müssen beachtet werden (Artikel 74 Absatz 3 StPO)