Strafprozessrecht
Psychiatrische Gutachten müssen nachvollziehbar sein
Ein nachträgliches psychiatrisches Gutachten zur Frage, wie eine Fachperson eine Explorandin zu einem früheren Zeitpunkt beurteilt hätte, muss nachvollziehbar sein. Zwischen den Ausführungen im Gutachten und den darin enthaltenen Schlussfolgerungen muss ein plausibler und konkreter Zusammenhang bestehen.
Sachverhalt:
Nachdem die Sportschützin A. zwei Pistolen auf B. gerichtet hatte, beschlagnahmte die Zuger Polizei die beiden Waffen und verlangte für die Rückgabe eine ärztliche Unbedenklichkeitserklärung. Nach einem einstündigen Gespräch stellte der Allgemeinmediziner und Psychoanalytiker X. diese für A. aus. Gestützt darauf erhielt A. am 1. Dezember 2003 die beiden Waffen zurück, schoss C. mit einer davon an und verletzte ihn schwer. A. führte zudem eine weitere, nie beschlagnahmte Waffe mit sich. Das Bezirksgericht Zürich sprach X. vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung frei, das Obergericht bestätigte den Freispruch. Auf Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft hin wies das Bundesgericht den Fall zur neuen Entscheidung ans Obergericht zurück. Dieses sprach X. mit Urteil vom 22. Januar 2010 der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig. Dagegen erhob X. Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, das ihm zur Last gelegte Verhalten sei für den Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs der schweren Körperverletzung von C. nicht relevant gewesen, da auch eine sorgfältige Fachperson im November 2003 zum Schluss gekommen wäre, dass von A. keine relevante Gefahr für Dritte ausgehe. Das Gutachten von Dr. med. E., Facharzt FMH für Psychiatrie, vom 17. August 2009, wonach eine sorgfältige Fachperson im November 2003 von einer Rückgabe der beiden beschlagnahmten Schusswaffen abgeraten hätte, da von A. auch eine moderat erhöhte Gefahr für Dritte ausgehe, sei nicht plausibel und schlüssig begründet. Die Vorinstanz hätte daher nicht auf dieses Gutachten abstellen dürfen.
2.2 Obschon die Vorinstanz in ihrem ersten Urteil vom 4. April 2008 den Beschwerdeführer mangels Erfolgsrelevanz des ihm zur Last gelegten Verhaltens vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung freisprach, prüfte sie eingehend, ob das Verhalten des Beschwerdeführers, das heisst die Ausstellung der «Unbedenklichkeitserklärung», sorgfaltswidrig war. Sie bejahte dies unter Hinweis auf das ausführlich begründete Urteil der ersten Instanz und auf das Gutachten von Dr. med. D. von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich vom 15. Dezember 2005. Das Bundesgericht überprüfte diese Auffassung in seinem ersten Urteil vom 3. Februar 2009 (BGE 135 IV 56 E. 4.2). Es erwog in Übereinstimmung mit den kantonalen Instanzen, dass der Beschwerdeführer erstens bereits durch die Annahme des Auftrags von A. und zweitens im Rahmen seiner Untersuchung Sorgfaltspflichten verletzte (BGE 135 IV 56 E. 4.3.2).
2.3 Gemäss den Weisungen des Bundesgerichts hatte die Vorinstanz, soweit dies überhaupt noch möglich war, abzuklären, zu welcher Einschätzung eine sorgfältige Fachperson im November 2003 in Bezug auf die Fragen der Suizidgefahr und der Gefahr für Dritte gelangt wäre, und zu prüfen, ob in Anbetracht dieser fachmännischen Einschätzung und in Anwendung der Bestimmungen der Waffengesetzgebung die Rückgabe der Schusswaffen angeordnet oder aber wegen einer relevanten Suizidgefahr und/oder wegen einer relevanten Gefahr für Dritte verweigert worden wäre.
3.1.1 Die Vorinstanz ordnete im neuen Berufungsverfahren die Einholung eines Gutachtens an. Dem Experten wurden die folgenden beiden Fragen gestellt:
Frage 1: Ist es möglich, im heutigen Zeitpunkt abzuklären, zu welcher Einschätzung von A. eine sorgfältige Fachperson im November 2003 in Bezug auf die Fragen der Suizidgefahr und der Gefahr für Dritte gelangt wäre?
Frage 2: Zu welcher Einschätzung von A. wäre eine sorgfältige Fachperson im November 2003 in den Fragen der Suizidgefahr und der Gefahr für Dritte gelangt?
In seinem Gutachten vom 17. August 2009 bejahte der Experte Dr. med. E., Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, die Frage 1. In Beantwortung der Frage 2 kam der Gutachter zum Ergebnis, dass eine sorgfältige Fachperson mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur von der Rückgabe der beiden Pistolen abgeraten, sondern angeregt hätte, auch andere Schusswaffen, die sich im Besitz von A. befanden, zu beschlagnahmen. Der Gutachter stellte klar, dass aus fachlicher Sicht die Rückgabe der Waffen einer regelmässigen psychotherapeutischen Behandlung und allenfalls einer medikamentösen Therapie zur Stimmungsstabilisierung und zur Vermeidung von weiteren depressiven Phasen bedurft hätte. Der Beschwerdeführer erhob in zwei Stellungnahmen vom 17. Dezember 2009 und vom 14. Januar 2010 im Berufungsverfahren zahlreiche Einwände gegen das Gutachten.
3.1.2 Die Vorinstanz kam in ihrem neuen Urteil nach eingehender Auseinandersetzung mit dem Gutachten und den vom Beschwerdeführer dagegen erhobenen Einwänden zum Schluss, dass die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen im Gutachten nachvollziehbar und plausibel erscheinen. Es sei deshalb davon auszugehen, dass eine sorgfältige Fachperson im November 2003 mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Einschätzung gelangt wäre, bei welcher die zuständige Behörde in Anwendung der Bestimmungen der Waffengesetzgebung auch eine relevante Gefahr für Dritte bejaht und damit bei einer «Unbedenklichkeitserklärung» mindestens einen entsprechenden Vorbehalt angebracht hätte. Damit sei der eingetretene Erfolg dem Beschwerdeführer zurechenbar (angefochtenes Urteil S. 35).
4.3.1 Der Experte hielt in seinem Gutachten vom 17. August 2009 unter anderem Folgendes fest: Die Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses, Berichts, Gutachtens oder einer sogenannten «Unbedenklichkeitserklärung» beinhalte, wie vom Beschwerdeführer richtig festgehalten, zuerst eine empathische Begegnung zwischen Arzt und Patientin. Daran schliesse sich eine Befragung an, welche die Vorgeschichte sowohl bezüglich Daten und Fakten als auch bezüglich des inneren Erlebens zum Inhalt habe. Im Wissen über die psychiatrische Hospitalisation von A. und die langjährige ambulante Therapie wäre das In-Erfahrung-Bringen einer Diagnose oder zumindest die Erstellung einer diesbezüglichen Hypothese sicher nicht verkehrt gewesen.
Um sich nicht restlos auf die Angaben von A. verlassen zu müssen, hätte nach den weiteren Ausführungen im Gutachten ein Anruf des Beschwerdeführers bei der ehemals behandelnden Psychiaterin nach deren Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht sicher ebenfalls nicht geschadet. Hätte A. diese Entbindung nicht unterzeichnet, hätte dies stutzig machen und zur Ablehnung des Auftrags führen müssen. Schliesslich hätten auch die aktuellen psychischen respektive psychopathologischen Befunde etwas ausführlicher gestaltet werden dürfen.
Gemäss den weiteren Ausführungen im Gutachten hätte auf jeden Fall aber eine Legalprognose zur Beurteilung des Rückfallrisikos erstellt werden müssen, zumal ein entsprechendes Arbeitsinstrument der Fachkommissionen des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz bereits im Dezember 1999 vorgelegen habe und auch schon in früheren Jahren Legalprognosen immer wichtiger und in vielen Lehrbüchern beschrieben worden seien. Im April 2003 hätten sowohl die Schweizerische Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie als auch die Fachkommission für psychiatrische Begutachtung im Kanton Zürich je eigene Leitfäden zur Gutachtenserstellung erlassen, in welchen natürlich auch die Prognose, sei es betreffend Arbeitsfähigkeit, sei es hinsichtlich weiterer Straftaten, einen breiten Raum einnehme. Im Anschluss an diese Ausführungen hielt der Gutachter fest, wie eine entsprechende Beurteilung von A. etwa hätte lauten können:
«Die Gesuchstellerin leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung, vermutlich auf dem Boden einer Persönlichkeitsstörung, mit emotional instabilen und abhängigen Zügen, welch letztere sich in einer starken Unterwerfung unter die Bedürfnisse des jeweiligen Partners manifestieren. Insbesondere in Beziehungskonflikten und speziell bei oder nach Trennungen von Intimpartnern neigt sie zu Störungen der Impulskontrolle und zu Gewalttätigkeiten gegen sich und andere. Es ist daher mit einer mindestens moderat erhöhten Gefahr weiterer einschlägiger Straftaten und/oder mit suizidalen Handlungen auch in Zukunft in einer ähnlichen Situation, wie sie sich am 12. April 2001 konstelliert hat, zu rechnen.»
Abschliessend beantwortete der Experte die Frage 2 wie folgt:
«Aufgrund der damals bekannten Vorgeschichte inkl. der psychiatrischen Hospitalisation, der Suizidversuche und der langjährigen psychiatrischen Behandlung und in Kenntnis des fluktuierenden Verlaufs der Befindlichkeit von A., insbesondere im Rahmen von Liebesbeziehungen und bei den sich anbahnenden Trennungen und der Vorkommnisse am 12. April 2001, hätte eine sorgfältige Fachperson mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur von der Rückgabe der beiden Faustfeuerwaffen abgeraten, sondern angeregt, auch andere im Besitz von A. sich befindlichen Feuerwaffen zu beschlagnahmen.
Aus fachlicher Sicht hätte die Rückgabe der Waffen einer regelmässigen psychotherapeutischen Behandlung und allenfalls einer medikamentösen Therapie zur Stimmungsstabilisierung und zur Vermeidung von weiteren depressiven Phasen bedurft.»
4.3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, es sei die Aufgabe des Experten gewesen, der Vorinstanz nachvollziehbar und plausibel zu erklären, was eine sorgfältige Fachperson im November 2003 im Rahmen einer sorgfältigen Untersuchung erfahren und daraus geschlossen hätte. Das Gutachten gebe dazu jedoch keine Antworten. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe seine Einwände gegen das Gutachten grösstenteils stillschweigend übergangen, zu Unrecht weder ein Ergänzungsgutachten noch eine Oberexpertise eingeholt, stattdessen ungeachtet der geltend gemachten Mängel auf das Gutachten abgestellt und dadurch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und die Chance verpasst, ihn gerecht, das heisst ohne Willkür, zu behandeln.
Der Beschwerdeführer äussert ein gewisses Verständnis dafür, dass der Experte kein Explorationsgespräch mit A. geführt habe. Denn diese sei im Jahre 2009, als der Experte sein Gutachten erstellt habe, nicht mehr der gleiche Mensch gewesen wie im November 2003, als er (der Beschwerdeführer) die «Unbedenklichkeitserklärung» ausgestellt habe.
Der Experte habe indessen gar nicht ernsthaft versucht, über die Akten ein Bild von der komplexen psychischen Verfassung von A. im November 2003 einerseits und von der allenfalls erkennbaren Verbindung zum Vorfall vom 11. März 2004 andererseits zu erlangen.
Das Geschworenengericht sei zusammenfassend zum Schluss gekommen, dass A. den Geschädigten C. am 11. März 2004 aufgesucht habe, um sich vor ihrem geplanten Suizid von ihm zu verabschieden, und dass sie im Verlauf des Gesprächs den Geschädigten schliesslich im Rahmen eines parasuizidalen Appells die Pistole habe zeigen wollen, worauf es zur unbeabsichtigten Schussabgabe gekommen sei.
Der Beschwerdeführer meint, ihm könne höchstens vorgeworfen werden, er habe einen Schiessunfall nicht vorausgesehen, der sich ausgerechnet in einer anscheinend suizidalen Phase von A. ereignet habe und welcher stark an den Vorfall vom 12. April 2001 erinnere.
Der Experte gehe kurzschlüssig davon aus, dass eine sorgfältige Fachperson im November 2003 das gleiche Wissen gehabt hätte wie der Experte fast sechs Jahre später im August 2009 mit voller Einsicht in die Akten des Verfahrens in Sachen A. und des Verfahrens in Sachen des Beschwerdeführers.
4.4.2 Dem Experten standen mithin Akten zur Verfügung, die im November 2003, als der Beschwerdeführer die «Unbedenklichkeitserklärung» ausstellte, überwiegend noch gar nicht vorlagen.
Der Beschwerdeführer macht mit Recht nicht geltend, dass die Überlassung dieser Akten an den Experten prinzipiell unzulässig sei, weil eine sorgfältige Fachperson im November 2003 die Akten gar nicht zur Verfügung gehabt hätte. Der Experte durfte und musste sich auf diese Akten stützen, um in Erfahrung zu bringen, welche Ereignisse und Umstände schon vor November 2003 eingetreten waren beziehungsweise in jenem Zeitpunkt noch bestanden. Allerdings können im Rahmen eines Strafverfahrens mit dem dabei zur Verfügung stehenden Instrumentarium relevante Umstände zu Tage gefördert werden, welche eine sorgfältige Fachperson wahrscheinlich nicht in Erfahrung gebracht hätte. Solche Umstände müssen im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben.
4.9 Der Experte hielt in seinem Gutachten unter dem Titel «Kursorische Vorgeschichte» unter anderem fest, nachdem A. von ihrem damaligen Lehrmeister vergewaltigt worden sei, habe sie im Alter von etwa 18 Jahren ein Kind zur Welt gebracht, welches unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigegeben worden sei.
Der Beschwerdeführer macht geltend, A. sei nicht im Alter von 18 Jahren von ihrem damaligen Lehrmeister, sondern im Alter von 16 Jahren von einem Wirt, bei dem sie in den Ferien aushilfsweise gearbeitet habe, vergewaltigt worden. Das Kind sei nicht bei dieser Vergewaltigung gezeugt worden, sondern mehrere Jahre später im Rahmen einer Beziehung, als A. 23 Jahre alt gewesen sei. Dies ergebe sich unter anderem aus dem Bericht der Psychiatrischen Klinik Königsfelden vom 12. März 1998. Die unzutreffenden Angaben im Gutachten machten deutlich, dass der Experte die Akten nicht studiert habe.
Tatsächlich scheinen die genannten Angaben im Gutachten unzutreffend zu sein, wie auch die Vorinstanz festhält (angefochtenes Urteil S. 32-34). Die im massgebenden Zeitpunkt im November 2003 mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse sind indessen jedenfalls in den Einzelheiten für die Beurteilung der Frage, zu welcher Einschätzung eine sorgfältige Fachperson im November 2003 hinsichtlich der Suizidgefahr und der Gefährdung für Dritte gelangt wäre, nach der willkürfreien Auffassung der Vorinstanz kaum relevant.
4.13.1 Das Gutachten reicht indessen aus nachstehenden Gründen als Grundlage für eine Verurteilung des Beschwerdeführers nicht aus. Zwischen den Ausführungen im Gutachten und den darin enthaltenen Schlussfolgerungen besteht kein plausibler, nachvollziehbarer Zusammenhang. Der Experte stellt im Wesentlichen dar, was er erforscht hätte. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind allerdings generell-abstrakt und ziemlich unverbindlich. Der Experte hätte darstellen müssen, was eine sorgfältige Fachperson im November 2003 untersucht, was sie dabei herausgefunden hätte und zu welchen Schlüssen sie gestützt hierauf gelangt wäre. Zu diesem Zweck hätte der Experte festhalten müssen, welchen Wissensstand eine sorgfältige Fachperson im November 2003 erlangt hätte. Dies ergibt sich aus dem Gutachten nicht. Es ist unklar, ob der Experte sich wirklich in die Lage einer sorgfältigen Fachperson im November 2003 zurückversetzte oder ob er sich nicht - allenfalls unbewusst - zu sehr von den zur Verfügung stehenden Akten beeinflussen liess, die fast allesamt nach November 2003 produziert wurden und zu einem erheblichen Teil Tatsachen und Ereignisse betreffen, die erst nach November 2003 stattfanden.
4.13.2 Im Gutachten wird nicht erläutert, durch welche konkreten Vorkehrungen eine Fachperson im Rahmen einer sorgfältigen Untersuchung im November 2003 sehr wahrscheinlich welche Tatsachen in Erfahrung gebracht hätte. Aus dem Gutachten wird auch nicht ersichtlich, welche relevanten Erkenntnisse aus welchen weiteren Abklärungen sehr wahrscheinlich zu erwarten gewesen wären. Der Gutachter weist einerseits darauf hin, dass «ein Anruf ... bei der ehemals behandelnden Psychiaterin ... sicher ebenfalls nicht geschadet» hätte. Er hält andererseits fest, dass eine sorgfältige Fachperson den Auftrag hätte ablehnen müssen, wenn A. sich geweigert hätte, die Psychiaterin, bei der sie bis zum 8. Oktober 2001 in Behandlung gewesen war, vom Arztgeheimnis zu entbinden. Welche für die Prognose relevanten Umstände ein solcher Anruf zutage gefördert hätte, ergibt sich aus dem Gutachten jedoch nicht.
5. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 22. Januar 2010 aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Urteil 6B_365/2010 der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 14. März 2011.
Verfassungsrecht
Tram-Initiative in Basel ist rechtlich zulässig
Eine Initiative darf nicht teilweise für ungültig erklärt werden, wenn für ihre Umsetzung der Abschluss eines Staatsvertrages notwendig ist. Der Grundsatz der Einheit der Materie schliesst nicht aus, dass eine Initiative mehrere Sach-fragen umfasst, solange sie in einer sachlichen Beziehung zueinander stehen und dasselbe Ziel verfolgen.
Sachverhalt:
Die Initiative «Ja zur Tramstadt Basel» verlangte die Ergänzung kantonaler Gesetze. Im Einzelnen sollte das System Tram erhalten bleiben und eine Tramverbindung zwischen Gross- und Kleinbasel sofort sowie eine Tramverbindung zu den Agglomerationen später gebaut werden. Der Regierungsrat hat die Initiative auf ihre rechtliche Zulässigkeit geprüft. Er hat dem Grossen Rat unter anderem empfohlen, die Initiative für teilweise rechtlich unzulässig zu erklären. Der Grosse Rat hat darauf die Initiative zur Klärung ihrer rechtlichen Zulässigkeit an das Verfassungsgericht überwiesen.
Aus den Erwägungen:
2. In Bezug auf ihre rechtliche Zulässigkeit bejaht der Regierungsrat die Beachtung von höherrangigem Recht (Bundesrecht und Staatsvertragsrecht) und erwägt, soweit die Initiative eine Gesetzesbestimmung verlange, wonach das bestehende System Tram zu erhalten sei, sei sie rechtlich zulässig. Auch die Forderung, sofort eine zusätzliche, über die Johanniterbrücke führende Tramverbindung zwischen Gross- und Kleinbasel zu bauen, sei zulässig.
Rechtlich unzulässig sei dagegen das Anliegen der Initiative, dass später weitere, bis zu Agglomerationsgemeinden führende Tramverbindungen gebaut werden müssten. Hierfür sei der Abschluss von Staatsverträgen mit anderen Kantonen und Staaten notwendig. Staatsvertragsinitiativen seien rechtlich jedoch nicht zulässig. Unter dem Aspekt der Einheit der Materie will der Regierungsrat von den beiden als rechtlich zulässig erkannten Forderungen der Initiative nur eine zur Abstimmung zulassen, «da mit einer Initiative nur ein Begehren gestellt werden (darf)».
Da das System Tram im Kanton Basel-Stadt bereits bestehe, «würde sich mit der Annahme einer solchen Gesetzesbestimmung (wonach das bestehende System Tram zu erhalten sei) nichts ändern». Er empfiehlt daher, die Initiative lediglich insofern als rechtlich zulässig zu erklären, als sie «den Erlass eines Grossratsbeschlusses über die Bewilligung eines Geldbetrages für die Projektierung einer zusätzlichen, über die Johanniterbrücke führenden Tramverbindung von Grossbasel nach Kleinbasel verlangt».
4.3.1 Die Forderung nach einer späteren Erweiterung des Tramnetzes mit einer Mehrzahl weiterer, bis zu Agglomerationsgemeinden führenden Tramverbindungen (§ 2 des vorgesehenen Anhangs zum ÖVG) wird vom Regierungsrat als unzulässig erachtet. Zur Begründung führt er aus, bevor mit dem Bau von Tramverbindungen bis zu Agglomerationsgemeinden begonnen werden könne, müssten mit den entsprechenden Kantonen resp. Staaten Staatsverträge abgeschlossen werden. Da der Abschluss eines Staatsvertrages von der Zustimmung des Vertragspartners abhänge und diese mit einer Initiative nicht erzwungen werden könne, seien Staatsvertragsinitiativen rechtlich unzulässig.
4.3.2 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.
Zum andern wäre die Initiative auch dann nicht unzulässig, wenn sie eine Erweiterung des Tramnetzes über die Kantonsgrenzen hinaus verlangte, was den Abschluss von Staatsverträgen voraussetzt. Initiativen können durchaus auch auf den Abschluss von Staatsverträgen gerichtet sein. Dies hat das Bundesgericht in einem Basler Fall (Volksinitiative «Wohnliche Stadt») bereits 1971 erkannt (BGE 104 Ia 415 E. 5 S. 422 f.; vgl. Wullschleger, a.a.O., S. 154). Auch im Fall der im Jahr 2004 lancierten und Anfang 2006 vom Volk angenommenen (unformulierten) «Wiese-Initiative» wäre eines der Ziele, die Verhinderung der Zollfreistrasse zwischen Lörrach und Weil am Rhein über Schweizer Boden, nur durch Neuverhandlungen über den Staatsvertrag von 1977 betreffend die Zollfreistrasse erreichbar gewesen (vgl. BGE 122 II 234, VGE 675/2004 vom 7. März 2005).
Trotzdem wurde die Initiative als zulässig erklärt. Die Umsetzung dieses (Teil-)Ziels scheiterte am fehlenden Verhandlungswillen der Eidgenossenschaft und Deutschlands. Im Übrigen wurde die Wiese-Initiative durch verschiedene Grossratsbeschlüsse vom 12. November 2008 umgesetzt, worauf das Initiativkomitee die Initiative zurückzog.
4.3.3 Aus diesen Erwägungen folgt, dass auch der geforderte § 2 des Anhangs zum ÖVG rechtlich zulässig ist.
4.4.1 Der Regierungsrat ist im Weiteren der Meinung, die Traminitiative - resp. die beiden von ihm als rechtlich zulässig erklärten Anliegen, das bestehende System Tram zu erhalten und eine neue Tramverbindung zwischen Grossbasel und Kleinbasel über die Johanniterbrücke zu realisieren - verletzt den Grundsatz der Einheit der Materie. Wörtlich führt er aus: «Um nicht gegen das Prinzip der Einheit der Materie zu verstossen, darf mit einer Initiative nur ein Begehren gestellt werden.»
4.4.2 Der Grundsatz der Einheit der Materie folgt aus Art. 34 Abs. 2 der Bundesverfassung, welcher die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe schützt (vgl. BGE 129 I 366 E. 2.1, S. 369). Die kantonale Grundlage in § 14 IRG ist nicht strenger als die bundesrechtlich gewährleistete Garantie und hat daher keine selbständige Bedeutung. Zum Inhalt des Grundsatzes der Einheit der Materie ist auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu verweisen, welche im neusten Entscheid 1 C_103/2010 vom 26. August 2010 wie folgt zusammengefasst wird:
«Der Grundsatz der Einheit der Materie verlangt, dass eine Vorlage grundsätzlich nur einen Sachbereich zum Gegenstand haben darf bzw. dass zwei oder mehrere Sachfragen und Materien nicht in einer Art und Weise miteinander zu einer einzigen Abstimmungsvorlage verbunden werden, die die Stimmberechtigten in eine Zwangslage versetzt und ihnen keine freie Wahl zwischen den einzelnen Teilen belässt. Umfasst eine Abstimmungsvorlage mehrere Sachfragen und Materien, ist erforderlich, dass die einzelnen Teile einen sachlichen inneren Zusammenhang aufweisen und in einer sachlichen Beziehung zueinander stehen und dasselbe Ziel verfolgen.»
In BGE 130 I 185 (Pra 2006 Nr. 13) hat das Bundesgericht zudem ausgeführt, die Anforderungen an die Einheit der Materie seien bei einer ausformulierten Initiative strenger als bei einer nicht formulierten Initiative (E. 3.1).
4.4.3 Es ist somit nicht richtig, wenn der Regierungsrat ausführt, eine Initiative dürfe nur ein Begehren stellen. Eine Abstimmungsvorlage darf durchaus mehrere Sachfragen und Materien umfassen, sofern diese in einer sachlichen Beziehung zueinander stehen und dasselbe Ziel verfolgen.
4.4.4 Die vorliegend zu beurteilende Traminitiative beinhaltet drei Forderungen:
- die Erhaltung des Systems Tram mit seinem heutigen Streckennetz (§ 13 Abs. 6 USG, § 2 Abs. 2 ÖVG)
- eine konkrete Ergänzung des Tram-Streckennetzes über die Johanniterbrücke (ÖVG Anhang 1 § 1)
n die Verpflichtung zu einer späteren Erweiterung des Tramnetzes ohne konkrete Linienvorgaben (ÖVG Anhang 1 § 2).
Diese drei Forderungen stehen in einem engen sachlichen Zusammenhang. Die zweit- und drittgenannten Forderungen konkretisieren zudem das als § 13 Abs. 6 USG und § 2 Abs. 2 ÖVG formulierte Kernanliegen, das System Tram mit seinem heutigen Streckennetz zu erhalten und auszubauen. Schliesslich verfolgen alle drei Forderungen dieselben Ziele, nämlich die Luftreinhaltung und die Entlastung der Innenstadt. Damit ist der Grundsatz der Einheit der Materie gewahrt.
4.6 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die formulierte Initiative «Ja zur Tramstadt Basel (Traminitiative» in ihrer Gesamtheit rechtlich zulässig ist.
Urteil VD.2010.68 des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt als Verfassungsgericht
vom 13. Oktober 2010
Scheidungsrecht
Kinder aus erster Ehe sind gleich zu behandeln
Bei der Berechnung der Unterhaltspflicht dürfen die minderjährigen Kinder aus erster Ehe gegenüber jenen aus der zweiten Ehe nicht benachteiligt werden. Bei der Berechnung des massgeblichen Existenzminimums des Unterhaltsschuldners dürfen kinderbezogene
Positionen der im gleichen oder in einem anderen Haushalt wohnenden Kinder nicht berücksichtigt werden.
Sachverhalt:
Das Amtsgericht Luzern-Land legte im Scheidungsurteil die monatlichen Unterhaltsbeiträge zulasten von Y zugunsten seiner drei Kinder fest. Aus der neuen Ehe von Y. gingen weitere zwei Kinder hervor. Deswegen und weil sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich verändert hätten, stellte Y. beim Amtsgericht Hochdorf den Antrag auf Abänderung des Scheidungsurteils, damit er keine Unterhaltsbeiträge mehr zahlen müsse. Das Amtsgericht Hochdorf hiess den Antrag von Y. gut, das Obergericht wies die Appellation von X. ab. X. gelangte daraufhin mit Beschwerde an das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
4.2.1 Die Grundsätze zur Bemessung des elterlichen Unterhaltsbeitrages sind in Art. 285 Abs. 1 ZGB geregelt. Nach der Rechtsprechung ergibt sich aus dieser Vorschrift, dass alle unterhaltsberechtigten Kinder eines Elternteils im Verhältnis zu ihren objektiven Bedürfnissen finanziell gleich zu behandeln sind. Ungleiche Unterhaltsbeiträge sind somit nicht von vorneherein ausgeschlossen, bedürfen aber einer besonderen Rechtfertigung (BGE 126 III 353 E. 2b, S. 358 f. mit Hinweisen).
Die Höhe des Unterhaltsbeitrages hängt freilich nicht nur von der Leistungsfähigkeit des in die Unterhaltspflicht genommenen, sondern auch von den finanziellen Umständen des obhuts- bzw. sorgeberechtigten Elternteils ab (BGE 126 III 353 E. 2b, S. 359 mit Hinweisen). Über die Schranke der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Elternteils kann sich das Gericht bei der Bemessung des Unterhaltsbeitrags für die Kinder nach Art. 285 Abs. 1 ZGB aber in aller Regel nicht hinwegsetzen (BGE 127 III 68 E. 2c, S. 70 f.; 123 III 1 E. 3b/bb, S. 5 mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist dem Rentenschuldner mit Bezug auf alle familienrechtlichen Unterhaltskategorien das betreibungsrechtliche Existenzminimum stets voll zu belassen vgl. BGE 126 III 353 E. 1a/aa, S. 356, bestätigt in 135 III 66 E. 2 ff., S. 67 ff. mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung ist dahingehend zu verdeutlichen, dass der Rentenschuldner lediglich für seine eigene Person die Sicherung der Existenz beanspruchen kann. Er ist also nur im für ihn allein massgeblichen betreibungsrechtlichen Existenzminimum zu schützen.
4.2.2 Diesem Grundsatz und dem aus Art. 285 ZGB folgenden Gleichbehandlungsprinzip ist insbesondere bei angespannten finanziellen Verhältnissen dadurch Rechnung zu tragen, dass zur Ermittlung der tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Rentenschuldners zunächst von dessen betreibungsrechtlichem Grundbetrag auszugehen ist.
Massgeblich ist je nach den konkreten Umständen der Grundbetrag für einen alleinstehenden Schuldner, derjenige für einen alleinerziehenden Schuldner oder derjenige für einen verheirateten, in einer eingetragenen Partnerschaft oder als Paar mit Kindern lebenden Schuldner.
In den drei zuletzt genannten Fällen ist dem Unterhaltsschuldner jedoch lediglich die Hälfte des Grundbetrages anzurechnen, denn der (neue) Ehegatte, eingetragene Partner bzw. Lebensgefährte des Rentenschuldners soll gegenüber dessen Kindern jedenfalls nicht privilegiert werden. Zum Grundbetrag sind alsdann die üblichen betreibungsrechtlichen Zuschläge hinzuzuzählen, soweit sie für den Unterhaltsschuldner allein massgeblich sind.
Dazu zählen namentlich seine Wohnkosten, seine unumgänglichen Berufsauslagen sowie die Kosten für seine Krankenversicherung und - bei selbständiger Erwerbstätigkeit - für seine Altersvorsorge. Benützt der Unterhaltsschuldner seine Wohnung zusammen mit seinem Ehegatten oder mit anderen erwachsenen Personen, so ist ihm nach Massgabe deren - tatsächlicher oder hypothetischer - wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit lediglich ein angemessener Anteil an den gesamten Wohnkosten als eigenes Existenzminimum anzurechnen.
Bei der Ermittlung des Existenzminimums des Rentenschuldners sind demnach weder kinderbezogene Positionen (namentlich der betreibungsrechtliche Grundbetrag und die Krankenkassenprämie) der im gleichen Haushalt wohnenden Kinder des Unterhaltsschuldners zu berücksichtigen, noch allfällige Unterhaltsbeiträge miteinzubeziehen, die der Unterhaltsschuldner seinen in einem anderen Haushalt lebenden vor- oder ausserehelichen Kindern zu bezahlen hat (BGE 127 III 68 E. 2c, S. 71; Urteil 5A_352/2010 vom 29. Oktober 2010 E. 6.2.1 mit Hinweisen). Ausser Acht bleiben müssen aber auch diejenigen Positionen, die ausschliesslich den Ehegatten betreffen und für die der Rentenschuldner allenfalls nach den in Art. 163 ff. ZGB enthaltenen Vorschriften aufzukommen hätte, soweit der Ehegatte seinen eigenen Unterhalt nicht aus eigenen Kräften bestreitet bzw. bestreiten kann. Das Gleiche gilt sinngemäss im Falle einer eingetragenen Partnerschaft des Rentenschuldners (vgl. Art. 13 des Partnerschaftsgesetzes vom 18. Juni 2004 [SR 211.231]).
4.2.3 Soweit das massgebliche Einkommen des Unterhaltsschuldners sein nach der geschilderten Berechnungsweise (E.4.2.1) ermitteltes eigenes Existenzminimum übersteigt, ist dieser Überschuss zunächst unter alle unterhaltsberechtigten Kinder (nach Massgabe ihrer jeweiligen Bedürfnisse und der Leistungsfähigkeit des anderen Elternteils) zu verteilen; gegebenenfalls muss der Schuldner zu diesem Zweck auch auf Abänderung früherer Urteile klagen, die zu hohe Beiträge festsetzen (Urteil 5A_62/2007 vom 24. August 2008 E. 6.2; Urteil 5C.197/2004 vom 9. Februar 2005, E. 3.1; Urteil 5C.127/2003 vom 15. Oktober 2003, E. 4.1.4).
Vom Bedarf jedes unterhaltsberechtigten Kindes ist dabei in jedem Fall dessen Kinder- oder Ausbildungszulage abzuziehen, denn diese Leistungen, die ausschliesslich für den Unterhalt des Kindes bestimmt sind, werden nach der Rechtsprechung nicht zum Einkommen des bezugsberechtigten Elternteils hinzugezählt, sondern sind bei der Ermittlung des durch den Unterhaltsbeitrag zu deckenden Bedarfs des Kindes vorweg in Abzug zu bringen (BGE 128 III 305 E. 4b, S. 310; Urteil 5A_352/2010 vom 29. Oktober 2010 E. 6.2.1 mit Hinweisen). Reicht der allfällige Überschuss des unterhaltspflichtigen Elternteils nicht aus, um die Bedürfnisse all seiner Kinder zu decken, so ist das Manko auf alle Kinder und somit auf alle betroffenen Familien zu verteilen. Verbleibt überhaupt kein Überschuss, so können auch keine Unterhaltsbeiträge zugesprochen werden.
4.2.4 Die erläuterten Grundsätze gelten nicht nur für das aussereheliche Kind, das unterhaltsmässig gleich gestellt werden will wie seine älteren Halbgeschwister aus einer anderen Verbindung seines Vaters. Die Prinzipien sind in gleicher Weise anzuwenden, wenn die Gleichbehandlung der älteren Kinder aus der ersten Ehe mit den jüngeren Halbgeschwistern aus der zweiten Ehe desselben Vaters in Frage steht. (Urteil 5A_352/2010 vom 29. Oktober 2010 E. 6.2.1).
4.3.2 Aus diesen vorinstanzlichen Schlussfolgerungen bzw. aus den erstinstanzlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts vom 10. November 2009, auf welche die Vorinstanz ihre Erkenntnisse abstützt, geht hervor, dass das Obergericht des Kantons Luzern bei der Ermittlung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Beschwerdegegners die in E. 4.2 dargelegten Regeln nicht befolgt und damit die in Art. 285 ZGB enthaltene Vorschrift falsch angewendet hat.
Die vorinstanzliche Rechtsverletzung beruht zunächst darauf, dass das Obergericht nicht das Existenzminimum des Beschwerdegegners allein, sondern dasjenige seiner gesamten (zweiten) Familie ermittelt und bei der Prüfung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als Ganzes berücksichtigt hat. Anstatt alle kinder- und ehegattenbezogenen Positionen von der Berechnung auszuklammern, ist das Obergericht unter Einrechnung dieser Elemente zum falschen Schluss gelangt, der Beschwerdegegner könne selbst unter Anrechnung des hypothetischen Einkommens seiner zweiten Ehefrau ab Juni 2010 bloss den Notbedarf seiner Familie decken und daher die Unterhaltspflicht gegenüber seinen Kindern aus erster Ehe nicht erfüllen.
Sodann hat das Obergericht auch gegen das Bundeszivilrecht verstossen, indem es die Kinderzulagen, die der Beschwerdegegner für seine zweitehelichen Kinder beanspruchen kann, von deren Grundbedarf nicht in Abzug gebracht hat. Diese Rechtsfehler haben zur Folge, dass der Beschwerdegegner gemäss dem angefochtenen Urteil jedenfalls bei Mitberücksichtigung eines (hypothetischen) Einkommens seiner Ehefrau und bei Anrechnung der Kinderzulagen den Unterhalt seiner zweitehelichen Kinder über deren betreibungsrechtlichen Grundbedarf hinaus decken kann, während der Grundbedarf der erstehelichen Kinder überhaupt nicht oder - unter Berücksichtigung allfälliger Kinder- bzw. Ausbildungszulagen - nur teilweise gesichert ist.
4.4 Im Ergebnis erweist sich die Beschwerde als begründet.
In welcher Höhe die Beistandspflicht der Ehefrau des Beschwerdegegners im Einzelnen anzusetzen ist, bestimmt sich nach dem massgeblichen Grundbedarf der Kinder aus erster Ehe. Davon sind nach dem Gesagten (E. 4.2.3) wiederum allfällige Familienzulagen in Abzug zu bringen, die der Beschwerdegegner bezieht und der Beschwerdeführerin überweist.
Urteil 5A_272/2010 der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 30. November 2010
Sozialversicherungsrecht
Ausstandsentscheid vor Bundesgericht anfechtbar
Wird die Abhängigkeit der Begutachtungsstelle zur Suva gerügt, ist dies als Geltendmachung eines gesetzlichen Ausstands- und Ablehnungsgrundes zu behandeln. Ein Nichteintretensentscheid über diese Rüge ist faktisch ein Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren,
der vor Bundesgericht selbständig anfechtbar ist.
Sachverhalt:
Auf Geheiss des Sozialversicherungsgerichts musste die Suva nach Herabstufung des Invaliditätsgrades von T. die Sachlage abklären lassen. Sie teilte T.s Rechtsvertreter die Absicht mit, das Institut X. damit zu beauftragen. Mit Eingabe an die Suva machte T. geltend, X. könne die Sachlage nicht unabhängig beurteilen. Die Suva hielt mit Zwischenverfügung an der X. fest. Auf die dagegen erhobene Beschwerde trat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nicht ein. T. gelangte mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2.1 Rechtsprechungsgemäss stellt die Anordnung einer Begutachtung keine anfechtbare Zwischenverfügung dar. Selbstständig anfechtbar sind allein Zwischenverfügungen über formelle Ausstandsgründe. Zwischenverfügungen über andere Fragen der Begutachtung sind bereits vor dem kantonalen Gericht nur dann anfechtbar, wenn sie einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken können (BGE 136 V 156 E. 3.2 S. 157; 132 V 93 E. 6.1, S. 106 und E. 6.3, S. 107). In der Regel keinen solchen Nachteil bewirken Zwischenverfügungen über Einwände, welche Fragen der Beweiswürdigung betreffen und daher beim Endentscheid in der Sache noch berücksichtigt werden können. Dazu gehören beispielsweise die Fragen, aus welcher medizinischen Fachrichtung ein Gutachten einzuholen ist, ob ein behandelnder Arzt als Gutachter eingesetzt werden kann, ob die vorgesehene Gutachtensperson die notwendigen Fachkenntnisse besitzt oder ob der Sachverhalt bereits hinreichend abgeklärt ist (BGE 136 V 156 E. 3.2, S. 157 f.; 132 V 93 E. 6.5).
2.2 Für Sachverständige gelten nach der Rechtsprechung grundsätzlich die gleichen Ausstands- und Ablehnungsgründe, wie sie für die Richterschaft vorgesehen sind. Danach ist Befangenheit anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit zu erwecken. Bei der Befangenheit handelt es sich allerdings um einen inneren Zustand, der nur schwer bewiesen werden kann.
Es braucht daher für die Ablehnung nicht nachgewiesen zu werden, dass die sachverständige Person tatsächlich befangen ist. Es genügt vielmehr, wenn Umstände vorliegen, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit und der Gewichtung solcher Umstände kann jedoch nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abgestellt werden. Das Misstrauen muss vielmehr in objektiver Weise als gerechtfertigt erscheinen. Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung, welche den Arztgutachten im Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit der begutachtenden Person ein strenger Massstab anzusetzen (BGE 132 V 93 E. 7.1, S. 109 f. mit Hinweis).
3.2.1 Entgegen der vorinstanzlichen Betrachtungsweise hat die Beschwerdeführerin mit der Rüge der Abhängigkeit der mit der Begutachtung betrauten Institution durchaus einen gesetzlichen Ausstands- und Ablehnungsgrund geltend gemacht (welcher im Rahmen der Zwischenverfügung vom 1. Juli 2010 durch die Beschwerdegegnerin denn auch als solcher geprüft und abschlägig beurteilt wurde), zumal der Anspruch auf Prüfung gesetzlicher Ausstands- und Ablehnungsgründe die gleichzeitige Beantwortung der Vorfrage nach der (formellen oder materiellen) Natur der Einwendungen gegen die sachverständige Person umfasst (Urteil 9C_199/2009 vom 9. Juni 2009 E. 4.1).
Im Widerspruch zu seiner zusammenfassenden Darstellung, wonach keine formellen Ausstandsgründe vorgebracht worden seien (E. 3.5 des Entscheids), und der daraus folgernden dispositivmässigen Konsequenz des Nichteintretens auf die Rechtsvorkehr hat sich das kantonale Gericht in den Erwägungen inhaltlich dennoch vertieft mit der Frage beschäftigt, ob die vorgetragenen Kritikpunkte Ausstands- und Ablehnungsgründe darstellten (E. 3.3 des Entscheids).
Dieses Vorgehen kommt indes einer materiellen Behandlung der Beschwerde gleich. Seinen Ausführungen entsprechend, es könne im Ergebnis offen bleiben, ob es sich bei den im Zusammenhang mit der gutachterlichen Unabhängigkeit formulierten Rügen um gesetzliche Ausstandsgründe handle, «denn bejahendenfalls sind sie als offensichtlich unbegründet abzuweisen oder andernfalls ist nicht darauf einzutreten», wäre die Beschwerde im Dispositiv korrektermassen abzuweisen gewesen, soweit überhaupt zulässig.
3.2.2 Hätte die Vorinstanz somit die Frage des Vorhandenseins formeller Ausstands- und Ablehnungsgründe prüfen und beurteilen sollen (was faktisch im Rahmen der Entscheidbegründung auch geschehen ist), erweist sich der angefochtene (Nichteintretens-)Entscheid seinem Kerngehalt nach als Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren, gegen welchen die bundesgerichtliche Beschwerde gemäss Art. 92 BGG ohne weitere Voraussetzungen erhoben werden kann. Da die Versicherte im Rahmen ihrer Beschwerdeführung in Anbetracht der vorgegebenen Nichteintretensproblematik zu Recht darauf verzichtet hat, sich mit den (materiellen) Ausführungen des kantonalen Gerichts zu den geltend gemachten formellen Ausstands- und Ablehnungsgründen auseinanderzusetzen, ist die Angelegenheit an dieses zurückzuweisen, damit es auf die Beschwerde eintrete und sich mit der betreffenden Thematik befasse. Bei sofortigem Entscheid in der Sache ginge die Beschwerdeführerin einer Rechtsmittelinstanz verlustig.
Urteil 8C_1020/2010 der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 14. April 2011
Unentgeltlicher Rechtsbeistand bei Zusatzleistungen
Der Anspruch der Beschwerdeführenden auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters ist, sofern alle übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, sachlich geboten, wenn bei der Berechnung des Anspruches auf Zusatzleistungen fraglich ist, ob ein hypothetisches Einkommen anzurechnen ist.
Sachverhalt:
Das Amt für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Zürich setzte in der Verfügung über Zusatzleistungen ein hypothetisches Erwerbseinkommen von 30 000 Franken fest. In der Einsprache gegen diese Festlegung beantragte das Ehepaar zusätzlich die unentgeltliche Prozessvertretung. Das Amt verzichtete auf die Anrechnung des hypothetischen Erwerbseinkommens, lehnte aber das Gesuch um die Bestellung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes mittels separater Verfügung ab. Gegen diese Verfügung erhob das Ehepaar beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
1.2 Die Verfügung der Beschwerdegegnerin über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege gehört zu den prozess- und verfahrensleitenden Verfügungen, die einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken können (Urteil des Bundesgerichts in Sachen T. vom 9. Dezember 2008, 8C_83/2008, Erw. 1). Entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin (Urk. 7) ist sie daher ohne vorgängiges Einspracheverfahren direkt mit Beschwerde beim hiesigen Gericht anfechtbar (Art. 52 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [AISG]; Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Auflage, N 10 zu Art. 56).
3.1 Strittig bleibt, ob sie im Einspracheverfahren Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsvertreter hatten, weil die anwaltliche Vertretung im konkreten Fall sachlich geboten war (vgl. Urk. 1, Urk. 7).
3.2 Das Amt für Zusatzleistungen hat die Abweisung des Gesuchs um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters damit begründet, dass der Ehefrau bereits seit Beginn ihres Anspruchs auf Zusatzleistungen im August 2005 immer unangefochten ein Erwerbseinkommen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG angerechnet worden sei, wobei sich das Amt dazu auf die bekannte bundesgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Thematik abgestützt und dies den Beschwerdeführenden erläutert habe.
Die Beschwerdeführenden hätten im Einspracheverfahren hauptsächlich ärztliche Zeugnisse als Beweis für die Arbeitsunfähigkeit der Ehefrau eingereicht. Es könne ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass dafür eine unentgeltliche anwaltliche Verbeiständung nicht notwendig gewesen wäre (Urk. 2, S. 2 f.).
3.3 Der Sichtweise des Amtes für Zusatzleistungen kann nicht gefolgt werden. Die Klärung der Frage, ob einem Leistungsansprecher bei der Berechnung des Anspruchs auf Zusatzleistungen ein hypothetisches Einkommen anzurechnen ist oder nicht, erfordert vertiefte juristische Abklärungen, insbesondere auch eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung (vgl. etwa das Urteil des Bundesgerichts in Sachen B. vom 6. Februar 2008, 8C_172/2007, Erw. 4.2 mit Hinweisen; vgl. auch Urk. 8/54, S. 4 f.), da diese Thematik im Gesetz nicht abschliessend geregelt ist.
Solche Abklärungen dürften einen nicht regelmässig mit spezifischen zusatzleistungsrechtlichen Fragen beschäftigten juristischen Laien - worunter auch gewöhnliche Mitarbeiter sozialer Institutionen fallen dürften - in der Regel überfordern. Im Ergebnis zeigt sich die Schwierigkeit der Fragestellung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auch darin, dass das Amt für Zusatzleistungen die eigene Verfügung auf rechtlich präzise formulierte Einsprache der Beschwerdeführenden hin aufheben musste.
Sodann trifft es entgegen der Ansicht des Amtes nicht zu, dass lediglich die im Einspracheverfahren eingereichten medizinischen Zeugnisse zum neuen Entscheid geführt hatten. Wie sich aus der Begründung des Einspracheentscheids vom 1. April 2009 ergibt, führte auch eine Würdigung der aktuellen arbeitsmarktlichen Situation und der Arbeitsbemühungen der Ehefrau dazu, dass die Verwaltung am mit der Verfügung vom 13. Juni 2008 angerechneten hypothetischen Erwerbseinkommen nicht mehr festgehalten hat (Urk. 8/74/18).
Ins Gewicht fällt auch, dass die Beschwerdeführenden davon ausgehen durften, dass die von ihnen angestrengte Nichtberücksichtigung des hypothetischen Einkommens im Betrag von 30 000 Franken einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der ihnen zustehenden Zusatzleistungen hatte, weshalb der Ausgang des Einspracheverfahrens für sie von grosser Bedeutung war.
3.4 Es ergibt sich, dass der Anspruch der Beschwerdeführenden auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters im Einspracheverfahren erstellt ist. Die angefochtene Verfügung vom 1. April 2009 ist folglich aufzuheben und die Sache ist an das Amt für Zusatzleistungen zurückzuweisen, damit dieses die Entschädigung für die unentgeltliche Rechtsvertretung im Einspracheverfahren festsetze.
Urteil ZL-2009.00039 des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 31. August 2010.
Gerichte des Bundes aktuell
Banker wegen Lüge entlassen
Das Direktionsmitglied einer Bank ist laut Bundesgericht zu Recht fristlos entlassen worden, nachdem es beim Vorstellungsgespräch über seine bisherige Arbeitslosigkeit gelogen hat. Der Mann hatte erklärt, aktuell noch bei einer anderen Bank zu arbeiten, wo er Kundengelder in der Höhe von 300 Millionen Franken betreue. In Wahrheit hatte er seit anderthalb Jahren Arbeitslosengelder bezogen, nachdem er seinen früheren Bankjob wegen ungenügender Leistungen verloren hatte. Als Mitglied der Direktion hat er laut Bundesgericht eine sehr hohe Verantwortung inne. Seine Anstellung setzt zusätzlich zur Erfüllung seiner Aufgaben ein besonderes Vertrauen in seine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit voraus. Die wahrheitswidrigen Angaben sind deshalb unabhängig der bisherigen Leistungen geeignet, das Vertrauen grundlegend zu zerstören.
Urteil 4A_568/2010 vom 14.2.2011
IV-Neurenten weiter in den Kosovo
Kosovaren können Neurenten der Invalidenversicherung gegen den Willen des Bundesrates weiter in ihrem Heimatland beziehen. Laut Bundesverwaltungsgericht profitieren sie als kosovarisch-serbische Doppelbürger vom Abkommen mit Serbien, das nach dem Auslaufen des Sozialversicherungsabkommens mit dem Kosovo weiter in Kraft ist. Entscheidend ist laut den Richtern in Bern, dass Kosovaren mit der Unabhängigkeitserklärung von 2008 die serbische Staatsangehörigkeit nicht verloren haben.
Urteil C-4828/2010 vom 7.3.2011
Erste Cassis-de-Dijon-Beschwerde
Der Schweizer Obstverband ist mit einer ersten Beschwerde im Zusammenhang mit dem Cassis-de-Dijon-Prinzip vor Bundesverwaltungsgericht erfolglos geblieben. Der Verband hatte sich dagegen gewehrt, dass dänischer Cidre mit 85 Prozent Wasseranteil als Apfelwein verkauft werden darf, obwohl verdünnter Apfelwein nach Schweizer Recht maximal 30 Prozent Wasser enthalten darf. Das Gericht ist auf die Beschwerde gar nicht eingetreten, weil sich keine Beschwerdelegitimation aus den möglichen Nachteilen ergibt, die den vom Obstverband vertretenen Schweizer Produzenten von Apfelwein entstehen könnten.
Urteil C_6540/2010 vom 3.3.2011
Rüffel aus Lausanne ins Tessin
Das Bundesstrafgericht muss auf Geheiss des Bundesgerichts in der Zigarettenschmuggel-Affäre über die Bücher. Die Verurteilung von zwei Italienern und der Freispruch der sieben restlichen Angeschuldigten ist nach Ansicht der Richter in Lausanne willkürlich, weil sich ihre Kollegen im Tessin mit den von der Bundesanwaltschaft erhobenen Vorwürfen nur in allgemeiner und pauschaler Weise befasst und nicht für jeden Angeschuldigten einzeln analysiert haben, ob der behauptete Sachverhalt zutrifft. Die Beweiswürdigung der Vorinstanz ist unvollständig, einseitig und willkürlich ausgefallen. Über weite Strecken nennt das Bundesstrafgericht in seinen Urteilen keine Beweismittel, auf welche es seine Überzeugung stützt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind auch von der Verteidigung erhobene Einwände ungeprüft geblieben. Eine nachvollziehbare Beweiswürdigung ist ausgeblieben.
Urteil 6B_609/2009 vom 22.2.2011
SBB muss israelkritisches Plakat aufhängen
Die SBB haben laut Bundesverwaltungsgericht die Meinungsfreiheit verletzt, indem sie im Zürcher Hauptbahnhof ein israelkritisches Plakat der Aktion Palästina-Solidarität nicht aufhängen liessen. Das Plakat richtet sich gegen die Siedlungspolitik Israels und enthält unter anderem den Satz «Israel: mit Gewalt errichtet auf dem Boden der Palästinenser» und den Aufruf «Unrecht verlangt Widerstand!». Laut Gericht sind die Bundesbahnen bei der Nutzung der Bahnhofswände durch Dritte an die Einhaltung der Grundrechte gebunden. Das generelle Verbot der SBB von Werbung und Botschaften «zu aussenpolitisch brisanten Themen» geht zu weit. Eine mildere, aber ebenso geeignete Massnahme ist laut Gericht eine Bewilligungspflicht für Meinungsäusserungen, welche eine unmittelbare und schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder des ordnungsgemässen Bahnverkehrs bewirken könnten. Das ist beim umstrittenen Plakat nicht der Fall, weshalb es aufgehängt werden muss.
Urteil A-7454/2009 vom 29.3.2011
Fernsehbeiträge über «Yasmin» korrekt
Das Schweizer Fernsehen hat mit seinen Berichten im Nachrichtenmagazin «10vor10» über mögliche Nebenwirkungen der Antibabypille «Yasmin» das Gebot der Sachgerechtigkeit nicht verletzt. Das Bundesgericht stützt einen Entscheid der Unabhängigen Beschwerdeinstanz (UBI). Laut dem Urteil wurde in den Sendungen nicht behauptet, dass «Yasmin» gefährlicher sei als andere Verhütungspillen. Einzelne Aspekte wurden von «10vor10» zwar auf tendenziöse Weise hinterfragt. Für das Publikum ist aber der anwaltschaftliche, kritische Standpunkt der Sendungen erkennbar gewesen.
2C_664/2010 vom 21.4.2011
Kein 00-Datum im Ausweisvon Asylbewerbern
Das Bundesamt für Migration (BFM) darf auf Dokumenten von Asylbewerbern nicht mehr «00» als Geburtstag eintragen, wenn betroffene Personen ihr genaues Geburtsdatum nicht nachweisen können. Das Bundesverwaltungsgericht hat einer Afghanin recht gegeben. Ihr Geburtsdatum ist im Zentralen Migrationsinformationssystem (Zemis) und auf ihrem Ausweis für Asylsuchende mit 00.08.1990 angegeben. Dies verunmöglichte es ihr unter anderem, ein Postkonto zu eröffnen. Laut Gericht kann das Geburtsdatum offensichtlich nicht «00» sein. Darum könne es im Sinne des Datenschutzgesetzes auch nicht als richtig gelten. Das BFM wird angewiesen, das Datum wie von der Asylbewerberin angegeben auf den 01.08.1990 einzutragen, verbunden mit dem Hinweis, dass diese Angabe möglicherweise nicht zutreffend ist.
A-8180/2010 vom 24.3.2011
Keine Sozialhilfe für Statuspflege
Ein Schweizer Rentner im thailändischen Pattaya erhält keine Sozialhilfe aus der Heimat, um in seinem Altersdomizil als «sozial höher gestellte Person» die Nachbarschaft beschenken zu können. Er hatte um Fürsorgeleistungen für Auslandschweizer ersucht, da seine AHV-Rente nicht zur Bestreitung des Lebensunterhaltes ausreiche. Unter anderem sei zu berücksichtigen, dass seine gesellschaftliche Stellung als Schweizer in Thailand etwa die Übernahme gewisser Kosten in der Nachbarschaft verlange. Das Bundesverwaltungsgericht erinnert daran, dass für einen Anspruch auf Unterstützung nicht die wünschbaren, sondern nur die notwendigen Auslagen massgebend sind. Allfällige Kosten, zu deren Übernahme sich jemand aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung verpflichtet fühle, könnten nicht auf die Sozialhilfe überwälzt werden.
C-6819/2009 vom 14.3.2011
PJ
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) ist befugt, auch im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerer Steuerhinterziehung auf der Basis von Art. 46 Abs. 1 lit. b VStrR eine Konten- und Depotsperre anzuordnen.
1B_417/2010 vom 1.4.2011
Das Aargauer Verwaltungsgericht darf die Grundsätze vorgeben, nach denen die Gemeinden des Kantons die Sprachkenntnisse Einbürgerungswilliger zu beurteilen haben. Konkret wurde die Autonomie der Gemeinde Erlinsbach nicht verletzt.
1D_1/2011 vom 13.4.2011
Anbieter von Open-Source-Software sind bei der Vergabe eines Informatikauftrags des Bundes an Microsoft auch vor Bundesgericht erfolglos geblieben. Das Bundesverwaltungsgericht ist auf ihre Beschwerden zu Recht nicht eingetreten, da ihr Angebot mit jenem von Microsoft nicht austauschbar ist.
Urteil 2C_783/2010 vom 11.3.2011
Die unterirdische Verkabelung von Hochspannungsleitungen kann künftig auch in Betracht fallen, wenn es um den Erhalt einer Landschaft von «nur» mittlerer Bedeutung geht. Aufgrund der Stromverluste bei Freileitungen in Verbindung mit den steigenden Stromkosten einerseits und der leistungsfähiger sowie kostengünstiger gewordenen Verkabelung andererseits hat sich die Interessenabwägung zugunsten einer unterirdischen Verlegung verschoben.
1C_398/2010 vom 5.4.2011
Das Genfer Prostitutionsgesetz verletzt die Wirtschaftsfreiheit, wenn es verlangt, dass Betreiber eines Bordells oder einer Escort-Agentur vorgängig das Einverständnis des Immobilieneigentümers einholen müssen. Unangekündigte Kontrollen in Sexbetrieben durch die Behörden sind aus triftigen Gründen zulässig. Die Erhebung und Aufbewahrung der Daten von Prostituierten muss in einem Gesetz geregelt werden.
2C_230/2010 vom 12.4.2011
Die Swisscom hat gegenüber ihrer Konkurrenz 2004 und 2005 die Preise für die Terminierung von Mobilfunkgesprächen nicht «erzwungen» im Sinne von Art. 7 Abs. 2 lit. c KG. Die Konkurrenz hätte die ComCom anrufen können, um die Tarife behördlich festsetzen zu lassen. Für die von der Weko gegen die Swisscom ausgesprochene Sanktion über 333 Mio. Franken ist damit kein Platz.
2C_343/2010 vom 11.4.2011
Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts selber und nicht die Bundesanwaltschaft (BA) muss von versiegelten elektronischen Daten diejenigen ausscheiden, die mit dem Strafverfahren nichts zu tun haben und dem Betroffenen mit Rücksicht auf seine Persönlichkeitsrechte zurückzugeben sind. Keine Rolle spielen die grosse Datenmenge und die gegenüber der BA geringere Dossierkenntnis des Bundesstrafgerichts.
1B_412/2010 vom 4.4.2011
Strafrecht
Der Strafrichter darf bei einer unbedingten Verurteilung wegen SVG-Widerhandlungen gestützt auf Art. 67b StGB kein Fahrverbot aussprechen.
6B_632/2010 vom 24.2.2011
Zivilrecht
Gegen Entscheide eines Handelsregisteramtes muss gemäss Art. 165 Abs. 2 HRegV direkt ein oberstes kantonales Gericht angerufen werden können und nicht wie im Kanton Zürich zunächst die Justizdirektion. Der Bundesrat hat bei der Umsetzung von Art. 929 Abs. 1 OR sein Ermessen nicht überschritten.
4A_578/2010 vom 11.4.2011
Ein neues, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhendes Dosierungsregime für ein Medikament kann patentierfähig sein.
4A_435/2010 vom 4.3.2011
Sozialversicherungsrecht
Die für bestimmte Berufsgruppen mit häufig wechselnden Anstellungen geltende Ausnahmebestimmung von Art. 12a AVIV, wonach die Beitragszeit für die ersten dreissig Kalendertage eines befristeten Arbeitsverhältnisses verdoppelt wird, kann nicht auf eine Striptease-Tänzerin mit Kurzaufenthaltsbewilligung angewendet werden.
8C_967/2010 vom 20.4.2011
Konkubinatspartner können sich bei der Auflösung ihrer Gemeinschaft gegenüber der Arbeitslosenversicherung nicht auf die für Ehegatten und eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaften mögliche Befreiung von der Beitragszeit gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG berufen.
8C_564/2010 vom 11.4.2011
Wird der Streit um eine IV-Rente vom kantonalen Gericht zu ergänzenden Abklärungen und neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen, steht der obsiegenden Partei unter dem ATSG eine ungekürzte Parteientschädigung zu. Verfahrenskosten dürfen ihr nicht auferlegt werden.
9C_592/2010 vom 23.3.2011
Die dreissigtägige Nachdeckungsfrist von Art. 3 Abs. 2 UVG gilt auch für Personen, die in dieser Zeit bereits eine selbständige Tätigkeit aufgenommen haben und noch nicht anderweitig versichert sind.
8C_238/2010 vom 26.4.2011
PJ
Strassburg aktuell
Lange Untersuchungshaft im Fall Tinner rechtmässig
Die der Lieferung von Kriegsmaterial an Libyen - unter anderem bezüglich Plänen zum Bau einer Atombombe - und der Geldwäscherei verdächtigten Gebrüder Urs und Marco Tinner wurden 2004 verhaftet und während rund dreieinhalb Jahren in Untersuchungshaft behalten. Die Hauptverhandlung steht noch aus. In ihrer Beschwerde an den Gerichtshof behaupteten sie vergeblich, die Dauer der Untersuchungshaft sei exzessiv gewesen.
Der EGMR verneinte einstimmig eine Missachtung der konventionsrechtlichen Garantien bei Freiheitsentzug (Art. 5 Abs. 1c und 3 EMRK). Die schweizerische Justiz habe die Haftgründe (unter anderem Fluchtgefahr wegen der Familienbande nach Thailand) ausreichend dargetan und detailliert begründet. Auch die Dauer der Untersuchungshaft war unter den besonderen Umständen dieses Falles nicht exzessiv: Es handelt sich nach Auffassung des Gerichtshofs um ein extrem komplexes Verfahren, in dem 16 Länder um Rechtshilfe gebeten worden waren und in dem sehr gravierende Straftaten zur Diskussion stehen. Es habe in diesem Untersuchungsverfahren auch keine längeren Phasen behördlicher Untätigkeit gegeben.
Der Gerichtshof verwarf auch den Einwand, die vom Bundesrat 2007 angeordnete Vernichtung brisanter Informationen aus dem Verfahrensdossier habe die Untersuchungshaft ungebührlich verlängert. Die Vernichtung eines Teils der Verfahrensakten änderte nach Auffassung des EGMR nichts am dringenden Tatverdacht gegen die beiden Brüder. Sie missachtete offenkundig auch nicht den Anspruch auf Waffengleichheit bei der gerichtlichen Überprüfung des Freiheitsentzugs (Art. 5 Abs. 4 EMRK). Dieser Anspruch werde etwa dann verletzt, wenn die Behörden dem Anwalt eines Inhaftierten den Zugang zu Akten verweigern, die für ein wirksames Bestreiten der Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs wichtig wären. Im vorliegenden Fall sei aber kein ausreichender Zusammenhang zwischen der Aktenvernichtung und den Garantien für den Freiheitsentzug dargetan worden. Die Anwälte hätten die Vernichtung vielmehr primär hinsichtlich der noch ausstehenden gerichtlichen Beurteilung des Falles kritisiert.
Urteil der 2. Kammer N° 59301/08 und 8439/09 «Tinner c. Schweiz» vom 26. April 2011
Zulässiger Druck auf flüchtigen Schweizer
Ein in Thailand lebender Schweizer hat sich beim Gerichtshof vergeblich gegen die Weigerung der schweizerischen Behörden gewehrt, seinen Pass zu verlängern. Diese Massnahme sollte ihn indirekt dazu veranlas