1. Strafrecht
1.1 Allgemeine Bestimmungen
Art. 12 StGB (Vorsatz): Wer einen inhaltlich unwahren Kreditantrag «absichtlich blind» unterschreibt (also den unwahren Inhalt nicht kennt), erfüllt den subjektiven Tatbestand der Falschbeurkundung (Art. 251 Ziff. 1 StGB) in der Form des Eventualvorsatzes.1
Art. 13 StGB (krankheitsbedingter Irrtum): Ein schuldunfähiger Beschuldigter kann sich nicht auf einen Sachverhaltsirrtum nach Art. 13 StGB berufen, wenn seine irrige Vorstellung über die tatsächlichen Verhältnisse auf seine zur Schuldunfähigkeit führende psychische Erkrankung zurückgeht.2
Art. 17 StGB (rechtfertigender Notstand): Das Bundesgericht verneint einen rechtfertigenden Notstand gestützt auf den Klimawandel, welchen das Kantonsgericht Genf noch angenommen und einen Sprayer vom Vorwurf der Sachbeschädigung wegen Verschmierens einer Bankfassade freigesprochen hatte.3
Das Bundesgericht bestätigte auch die kantonale Verurteilung der Klimaaktivisten wegen Hausfriedensbruchs, welche im Jahr 2018 eine Bank in Lausanne besetzt und sich unter anderem auch auf Notstand berufen hatten.4
Art. 28 Abs. 1 StGB (Strafbarkeit beim «Teilen» und Kommentieren eines fremden Beitrags auf Facebook): Der in Art. 28 Abs. 1 StGB verankerte Begriff des «Mediums» umfasst nicht nur sämtliche Kommunikationsträger, sondern auch Kommunikationsmittel. Die Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 1 StGB erfordert zunächst, dass das Medienerzeugnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird – dies gilt grundsätzlich für Beiträge auf Internetplattformen, soweit sie nicht durch persönliche Einstellungen nur für einen beschränkten Personenkreis verfügbar sind. Die Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 1 StGB bedingt zusätzlich, dass sich die strafbare Handlung in der Veröffentlichung erschöpft. Art. 28 Abs. 1 StGB privilegiert dabei alle innerhalb der für das Medium typischen Herstellungs- und Verbreitungskette tätigen Personen. Der weite Medienbegriff setzt voraus, dass im Einzelfall geprüft werden muss, wer Teil der medientypischen Kette ist. Im vorliegenden Fall hat dies das Bundesgericht beim «Teilen» und Kommentieren eines fremden, bereits veröffentlichten Beitrags auf Facebook verneint.5
Art. 30, Art. 186 StGB (Umfang des Strafantrags bei Dauerdelikten [vorliegend Hausfriedensbruch]): Ein Strafantrag gemäss Art. 30 StGB kann immer nur für bereits begangene Handlungen oder Lebenssachverhalte gestellt werden; eine vorsorgliche Antragstellung für allfällige spätere Straftaten ist unzulässig. Bei Dauerdelikten erfasst der Strafantrag das strafbare Verhalten bis zur Beendigung der Tat, mithin auch Beteiligte, die erst nach Antragstellung am Dauerdelikt teilnehmen, soweit ihnen das angezeigte (strafbare) Verhalten nach materiell-rechtlichen Beteiligungsformen zugerechnet werden kann. Hierzu gehören an der Ausführung der Haupttat massgebend zusammenwirkende Mittäter oder nachträglich akzessorisch teilnehmende Gehilfen, nicht aber (Neben-)Täter mit eigenständigem Vorsatz.6
Art. 48 StGB (obligatorische Strafmilderung): Art. 48 lit. e StGB enthält einen Strafmilderungsgrund, der zwingend zu beachten ist.7
Art. 52 StGB (Fehlendes Strafbedürfnis verneint): Nach Ansicht des Bundesgerichts kann im Zusammenhang mit der «Legalisierung» von Sans-Papiers und dem Tatbestand des rechtswidrigen Aufenthalts und der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung aufgrund der langen Dauer der Straftat nicht von einem geringfügigen Verschulden i.S.von Art. 52 StGB ausgegangen werden. Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin die strengen Voraussetzungen für eine ausländerrechtliche Härtefallbewilligung erfüllte, spielte dabei offenbar keine Rolle.8
Art. 53 StGB (Wiedergutmachung): Sind die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung nach Art. 53 StGB erfüllt, dann ist diese obligatorisch.9
Art. 59 Abs. 4 StGB (Anordnung einer stationären therapeutischen Behandlung von psychischen Störungen nach rechtskräftiger Massnahmenaufhebung; Beginn der Frist): Wird nach einer rechtskräftigen Massnahmenaufhebung eine stationäre therapeutische Behandlung von psychischen Störungen (Art. 59 StGB) angeordnet und wird die Massnahme nicht aus der Freiheit heraus angetreten, ist für die (Fünfjahres-)Frist, wie bei der erstmaligen Massnahmenanordnung, grundsätzlich auf das Datum des in Rechtskraft erwachsenen Anordnungsentscheids abzustellen.10
Ob ein Behandlungserfolg zu erwarten ist, der in genügendem Ausmass und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit innerhalb der erforderlichen Zeit eintritt und das Rückfallrisiko folglich deutlich im Sinne von Art. 62c Abs. 1 lit. a StGB zu reduzieren vermag, stellt eine Rechtsfrage dar. Dass schon innerhalb einer Behandlungsdauer von fünf Jahren ein Zustand erreicht werden kann, der eine Bewährung des Betroffenen in Freiheit rechtfertigt, wird nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht vorausgesetzt.11
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit kann jedoch gebieten, dass eine stationäre Massnahme bereits bei der Anordnung – allenfalls auch allein gestützt auf einen Therapiebericht – zeitlich zu beschränken ist.12
Art. 62a StGB (Folgen der Nichtbewährung): Für die Umwandlung der stationären therapeutischen Massnahme in eine Verwahrung im Rahmen von Art. 62a Abs. 1 lit. b StGB genügt eine ernsthafte Gefahr für weitere Straftaten nach Art. 64 Abs. 1 StGB. Nicht erforderlich ist, dass die während der Probezeit neu begangenen Taten bei isolierter Betrachtung von einer die Verwahrung rechtfertigenden Schwere sind.13
Art. 62c Abs. 4 StGB (nachträgliche Verwahrung): Der Kausalzusammenhang zwischen der im Sachurteil angeordneten stationären therapeutischen Massnahme und der im Nachverfahren angeordneten Verwahrung setzt nicht voraus, dass der Betroffene auf die Möglichkeit der Umwandlung der Massnahme in eine Verwahrung hingewiesen bzw. diese Folge angedroht wurde. Im konkreten Fall bejahte das Bundesgericht einen hinreichenden Kausalzusammenhang und es verneinte einen Anwendungsfall von Art. 65 StGB. Damit seien Art. 5 und Art. 7 EMRK sowie Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK nicht verletzt.14
Entscheide über die Aufhebung einer stationären therapeutischen Massnahme wegen Aussichtslosigkeit können nicht von einem Einzelrichter gefällt werden.15
Art. 63 Abs. 4 StGB (Anordnung einer ambulanten Behandlung von psychischen Störungen, Frist): Wird eine ambulante Behandlung von psychischen Störungen erst nach deren rechtskräftiger Anordnung angetreten, beginnt die Fünfjahresfrist gemäss Art. 63 Abs. 4 Satz 1 StGB bzw. die richterlich festgesetzte Frist mit dem effektiven Behandlungsbeginn zu laufen. Hat die betroffene Person bereits «vorzeitig» – in Freiheit als Ersatzmassnahme oder während der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug – mit einer ambulanten Behandlung begonnen, ist für den Fristenlauf grundsätzlich auf das Datum des in Rechtskraft erwachsenen Anordnungsentscheids abzustellen.16
Art. 64b StGB i.V.m. Art. 5 Ziff. 4 EMRK (Gesuch um Entlassung aus der Verwahrung): Im vollzugsrechtlichen Verwaltungsverfahren muss das Verwaltungsgericht als Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK amten und seine Kognition effektiv ausschöpfen. Nach Auffassung des Bundesgerichts schadet es allerdings nicht, wenn der zuständige Einzelrichter die Unangemessenheit des angefochtenen Entscheids nicht prüft. Im Verfahren gemäss Art. 64a i.V.m. Art. 64b StGB besteht weder ein zwingender Anspruch auf eine persönliche mündliche Anhörung noch auf eine öffentliche Verhandlung. Ein neunmonatiges verwaltungsgerichtliches Verfahren lässt sich mit der kurzen Frist von Art. 5 Ziff. 4 EMRK jedoch nicht vereinbaren.17
Art. 66d StGB (Vollzug der Landesverweisung): Nach einem neuen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts ist es grundsätzlich nicht möglich, gegen eine rechtskräftig verfügte Landesverweisung im Vollstreckungsverfahren nochmals vor Bundesgericht zu prozessieren. Die Prüfung des Härtefalls obliegt dem Sachrichter im Zeitpunkt der Anordnung des Landesverweises.18
Art. 70 Abs. 1 StGB (Ausgleichseinziehung und Ersatzforderung): Vermögenswerte aus mittels Korruption abgeschlossenen Rechtsgeschäften können grundsätzlich eingezogen werden. Das Bundesgericht äussert sich in diesem «Petrobas-Urteil» in verschiedener Hinsicht zum konkreten Umfang der Einziehung (Nettoprinzip [vgl. auch BGE 146 IV 201, E. 8.3], unmittelbarer Kausalzusammenhang bei Beeinflussung von Ermessensentscheiden, Unschuldsvermutung und Mitwirkungspflicht, Grundsatz von Treu und Glauben sowie Rückgriff auf den wirtschaftlich Berechtigten).19
1.2 Besondere Bestimmungen
Art. 146 Abs. 1 StGB (Betrug; Täuschung über die Zahlungsbereitschaft bei sexuellen Dienstleistungen): Die Vorspiegelung der Zahlungsbereitschaft ist als Täuschung über innere Tatsachen grundsätzlich arglistig. Dass das Täuschungsopfer im konkreten Fall die sexuellen Dienstleistungen erbracht hat, ohne auf die Vorauszahlung des vereinbarten Entgelts zu bestehen, führt nicht zu seiner alleinigen, die Strafbarkeit des Täuschenden ausschliessenden Verantwortung für den erlittenen Schaden. Dem Anspruch einer sich prostituierenden Person auf Entschädigung für die von ihr erbrachte sexuelle Dienstleistung kommt Vermögenswert zu.20
Die Betreibung eines effektiv nicht wirklich existierenden «Pandemie-Infodiensts» mit dem Ziel, gutgläubige Rechnungsempfänger zur Bezahlung einer «Jahresgebühr» zu bewegen, stellt einen arglistigen Täuschungsangriff dar.21
Zur Frage der Opfermitverantwortung beim geringfügigen Betrug hält das Bundesgericht in einem Urteil fest, dass es zur Annahme einer arglistigen Täuschung ausreichend sei, wenn der Schuldner bei Vertragsschluss weder zahlungswillig noch zahlungsfähig sei. Es betont, dass die Opfermitverantwortung nur in wenigen Ausnahmefällen zur Anwendung gelange.22
Art. 148a Abs. 2 StGB (unrechtmässiger Bezug von Leistungen der Sozialhilfe, leichter Fall): Der unrechtmässige Bezug von Sozialhilfe durch eine Putzfrau in der Höhe von 3303 Franken stellte in der konkreten Konstellation einen leichten Fall dar. Das Bundesgericht knüpft dabei weniger am Deliktsbetrag, sondern an der Schuld der beschuldigten Person an.23
Art. 190 StGB (mittäterschaftliche Vergewaltigung): Wenn der Beschwerdeführer das Zimmer verlässt, in welchem sich die Privatklägerin und der Mitbeschuldigte gegenüberstanden und diesem Zimmer fernbleibt, obwohl ihm die Möglichkeit einer Vergewaltigung bzw. sexuellen Nötigung der Privatklägerin durch den Mitbeschuldigten (zuletzt) bekannt war, mag dies nach Ansicht des Bundesgerichts zwar verwerflich und unter moralischer Betrachtung vorwerfbar erscheinen. Weil der Beschwerdeführer am strafbaren Verhalten des Mitbeschuldigten nicht aktiv mitwirkte und weil ihn auch keine Garantenstellung trifft, die ihn zu einem Eingreifen verpflichtet hätte, bleibt sein Verhalten in strafrechtlicher Hinsicht folgenlos.24
Art. 307 StGB (falsches Zeugnis): Wer als Zeuge einvernommen wird, tatsächlich aber als beschuldigte Person hätte einvernommen werden müssen, kann sich weder des falschen Zeugnisses noch des Versuchs strafbar machen.25
2. Nebenstrafrecht
2.1 Strassenverkehrsgesetz
Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG (Fahrunfähigkeit und Cannabis): Das Bundesgericht bleibt trotz Kritik aus der Lehre bei seiner Nulltoleranzrechtsprechung im Zusammenhang mit Cannabis im Strassenverkehr. Der Nachweis der Substanz genügt weiterhin für eine Verurteilung unabhängig von der psychoaktiven Wirkung im Tatzeitpunkt.26
Art. 91 Abs. 2 lit. a; Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG (Konkurrenz zwischen Fahren in fahrunfähigem Zustand unter qualifiziertem Alkoholeinfluss und Fahren in fahrunfähigem Zustand aus anderen Gründen): Infolge des zugrunde liegenden unterschiedlichen deliktischen Willens besteht zwischen Fahrunfähigkeit unter qualifiziertem Alkoholeinfluss (Art. 91 Abs. 2 lit. a SVG) und Fahrunfähigkeit aus anderen Gründen (Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG) echte Konkurrenz im Sinne von Art. 49 StGB.27
2.2 Betäubungsmittelgesetz
Art. 19 Abs. 2 lit. c BetmG (qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz durch gewerbsmässigen Handel): Bei bandenmässiger Tatbegehung nach Art. 19 Abs. 2 lit. b BetmG ist der von der Bande erzielte grosse Umsatz oder erhebliche Gewinn im Sinne von Art. 19 Abs. 2 lit. c BetmG vollumfänglich jedem einzelnen Mitglied zuzurechnen.28
3. Strafverfahren
3.1 Allgemein
Art. 29 Abs. 2 BV (Anspruch auf rechtliches Gehör): Wer seine Mittellosigkeit behauptet, hat sie im Verwaltungsverfahren grundsätzlich mit eigenen Angaben und Belegen nachzuweisen, solange sie nicht evident ist. Der Grundsatz kennt jedoch bei langjährigem Freiheitsentzug Ausnahmen.29
Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK (Anspruch auf Konfrontation): Wird ein «Belastungszeuge» im polizeilichen Ermittlungsverfahren als Auskunftsperson einvernommen, besteht zwar kein Teilnahmerecht, ein Konfrontationsanspruch im späteren Verlauf des Verfahrens aber allemal. Wenn sich der «Belastungszeuge» in der Konfrontationseinvernahme nicht (mehr) substanziell zur Sache äussert, kann der Beschuldigte seine Verteidigungsrechte nicht wirksam ausüben, insbesondere vermag er unter diesen Umständen den Beweiswert der ersten – ohne seine Mitwirkung erfolgten – Aussage nicht auf die Probe und auch nicht in Frage zu stellen.30 Wird der bereits rechtskräftig verurteilte «Belastungszeuge» entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichts bloss als Auskunftsperson befragt (vgl. BGE 144 IV 97), kann der Konfrontationsanspruch der beschuldigten Person nicht gewährleistet werden, wenn die Auskunftsperson von ihrem Schweigerecht Gebrauch macht.31
3.2 Schweizerische Strafprozessordnung:
Art. 2 Abs. 2, Art. 374 f. und Art. 404 Abs. 2 StPO (Grundsatz der Formstrenge in selbständigen Massnahmenverfahren bei einer schuldunfähigen beschuldigten Person): Beim Grundsatz der Formstrenge (Art. 2 Abs. 2 StPO) handelt es sich um einen fundamentalen Grundsatz des Strafprozessrechts. Das Verfahren bei einer schuldunfähigen Person ist ein vom ordentlichen Verfahren klar abzugrenzendes selbständiges, besonderes Verfahren, in dem mangels Vorwurfs eines schuldhaften Verhaltens kein Schuldspruch ergehen kann. Es gelangt zur Anwendung, wenn bereits im Vorverfahren die Schuldunfähigkeit hinsichtlich aller zu beurteilenden Straftaten eindeutig festgestellt wird. Wird eine Person mehrerer Taten beschuldigt, die teilweise mit und teilweise ohne Schuld begangen wurden, sind alle Taten im ordentlichen Verfahren gemäss Art. 328 ff. StPO zu beurteilen. Wird in einem Verfahren bei einer schuldunfähigen Person ein Schuldspruch ausgesprochen, stellt dies zwar einen besonders schweren und offensichtlichen Verfahrensfehler dar, der jedoch im entsprechenden Fall nicht zur Nichtigkeit des Urteils, sondern zu dessen Anfechtbarkeit geführt hat. Jedoch muss das Berufungsgericht in einem solchen Fall gestützt auf Art. 404 Abs. 2 StPO zugunsten der beschuldigten Person auch einen nicht angefochtenen (unzulässigen) Schuldspruch überprüfen bzw. aufheben.32
Art. 9 StPO (Anklagegrundsatz): Das Bundesgericht wirft der kantonalen Instanz in einem Urteil vor, einen Beschuldigten in Verletzung des Anklagegrundsatzes verurteilt zu haben. Die Angaben in der Anklage seien derart pauschal gewesen, dass eine wirksame Verteidigung kaum möglich gewesen sei. Insbesondere wäre aufgrund der fehlenden Bestimmtheit ein Alibibeweis geradezu unmöglich gewesen.33
Art. 10 StPO (Unschuldsvermutung und Sachverständigenbeweis): Dass sachverständige Personen ihr Gutachten in einem frühen Stadium der Strafuntersuchung auf Arbeitshypothesen der Strafverfolgungsbehörden sowie in der Regel auf die Verfolgungsperspektive der Staatsanwaltschaft stützen, ist bundesrechtskonform und begründet keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur.34
Art. 21 Abs. 2 StPO, Art. 56 StPO (Unabhängigkeit des Berufungsgerichts): Wer als Mitglied der Beschwerdeinstanz tätig geworden ist, kann im gleichen Fall nicht als Mitglied des Berufungsgerichts wirken (Art. 21. Abs. 2 StPO). Kein «gleicher Fall» liegt gemäss Bundesgericht vor, wenn ein Gerichtsschreiber beim Entscheid über eine Beschwerde gegen eine Verfahrenstrennung später auch als Gerichtsschreiber im Berufungsverfahren mitwirkt. Eine gleiche Sache sei bei Identität der betroffenen Parteien, des Verfahrens und der zur Beantwortung stehenden Streitfragen anzunehmen. Gemäss Bundesgericht bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass bei Art. 21 Abs. 2 StPO ein anderer Begriff der gleichen Strafsache bzw. des gleichen Falls zugrunde zu legen wäre als bei Art. 56 lit. b StPO.35
Art. 29 StPO (Grundsatz der Verfahrenseinheit): Das Bundesgericht scheint die Voraussetzungen, die ausnahmsweise die Trennung von gemeinsam zu führenden Verfahren bewirken können, zu lockern. So scheint die Möglichkeit der Durchführung abgekürzter Verfahren gegen (geständige) Mitbeschuldigte im Betäubungsmittelstrafrecht einen sachlichen Grund darzustellen.36
Art. 56 StPO (Ausstand): Wie hoch die Hürde ist, um einen Staatsanwalt in den Ausstand zu befördern, ist einem neueren Urteil des Bundesgerichts zu entnehmen. Wenn die Verfahren komplex sind, die Verjährung droht und der Beschuldigte nicht mitwirkt, kann ein Staatsanwalt Aktennotizen verfassen, welche gegen die Ergebnisoffenheit des konkreten Untersuchungsverfahrens sprechen.37
Ein Staatsanwalt, der einen Strafverteidiger bei der Aufsichtsbehörde wegen angeblicher Verletzung der Berufspflichten verzeigt, ist für das weitere Strafverfahren nicht unbedingt befangen.38
Art. 84 Abs. 4 StPO (Begründungsfrist für Urteile): Im vorliegenden Fall stellte das Strafgericht dem Beschuldigten die schriftliche Begründung des Urteils acht Monate nach der Urteilsverkündung zu. Diese Dauer ist auch bei komplexeren Verfahren zu lange und verletzt das Beschleunigungsgebot, insbesondere wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet.39
Art. 88 Abs. 4 StPO (Zustellung eines Strafbefehls ins Ausland): Das Bundesgericht hält fest, dass Strafbefehle grundsätzlich auf dem Weg der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen zu eröffnen sind, wenn keine völkerrechtlichen Vereinbarungen eine vereinfachte Zustellung zulässt. Die Einsprachefrist beginnt erst mit gültiger Zustellung eines Strafbefehls zu laufen. Das im vorliegenden Fall seitens der Staatsanwaltschaft verwendete Standardformular (Zustellung an ein «Wahldomizil») widerspricht den bundesrechtlichen und den völkerrechtlichen Vorschriften.40
Art. 91 StPO (Einhaltung von Fristen): Eine Videoaufnahme kann grundsätzlich als Beweis dafür dienen, dass eine gerichtliche Eingabe fristgerecht in einen Briefkasten der Schweizerischen Post eingeworfen wurde.41
Die von der Post angebotene Dienstleistung der Zurückbehaltung von Einschreiben beeinflusst die Zustellfiktion nach Art. 84 Abs. 4 lit. a StPO nicht. Eingeschriebene Post gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellversuch als zugestellt.42
Art. 135 StPO (Wirksame Verteidigung und Honoraranspruch): Erneut entscheidet das Bundesgericht, dass sich ein amtlicher Verteidiger im Zusammenhang mit seinem Honoraranspruch nicht auf den Anspruch wirksamer Verteidigung berufen kann, da es sich hierbei um einen Individualanspruch der beschuldigten Person handeln soll.43
Art. 141 Abs. 2 StPO, Art. 12 und 13 DSG, Art. 90 SVG (Verwertbarkeit von in strafbarer Weise von Privaten erlangter Beweise): Beweise, die unter Verletzung des DSG oder des ZGB erlangt wurden, können als in strafbarer Weise erlangte Beweismittel qualifiziert werden. Rechtfertigungsgründe, welche die Rechtswidrigkeit eines Beweises aufheben, insbesondere betreffend die Aufzeichnung einer Verletzung des SVG durch eine an einem Fahrzeug befestigte Dashcam, können beschränkt zugelassen werden. Wurde ein Beweis von einem Privaten unter Verletzung der im DSG statuierten Grundsätze erlangt, ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob Rechtfertigungsgründe im Sinne von Art. 13 DSG vorliegen. Wird die Rechtswidrigkeit der Persönlichkeitsverletzung durch einen Rechtfertigungsgrund aufgehoben, ist der Beweis uneingeschränkt verwertbar. Ist der Beweis als rechtswidrig erlangt zu qualifizieren, sind in einem zweiten Schritt die im Strafverfahren geltenden Voraussetzungen für die Verwertbarkeit zu prüfen. Im vorliegenden Fall (zu beurteilen war ein Überholungsmanöver) hat das Bundesgericht das Vorliegen «schwerer Straftaten» im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO verneint.44
Anders hat das Bundesgericht bei der Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Videoaufnahmen bei Landfriedensbruch entschieden: Für die Frage, ob eine schwere Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO vorliegt, ist nicht das abstrakt angedrohte Strafmass, sondern die Schwere der konkreten Tat entscheidend. Das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung und der Verwertbarkeit von Beweismitteln wiegt bezogen auf den Tatbestand des Landfriedensbruchs grundsätzlich schwer. Für die Bewertung der Schwere dieser Tat ist nicht nur der individuelle Tatbeitrag der beschuldigten Person, sondern sind die gesamten Umstände mitsamt den durch die weiteren Teilnehmer begangenen Gewalttätigkeiten massgebend. Im Ergebnis verletzte die Vorinstanz kein Bundesrecht, indem sie den vorliegenden Landfriedensbruch als schwere Straftat nach Art. 141 Abs. 2 StPO qualifiziert und das öffentliche Interesse an der Aufklärung dieser Tat höher als dasjenige der beschuldigten Person an der rechtskonformen Erhebung resp. Unverwertbarkeit der privaten Videoaufnahmen gewichtet hat.45
Art. 147 StPO (Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen): Eine belastende Aussage, die ohne Teilnahme der beschuldigten Person erhoben wurde, wird nur dann verwertbar, wenn bei der anschliessenden Einvernahme in Anwesenheit der beschuldigten Person die Belastungen wiederholt – und nicht bloss bestätigt – werden.46
Allerdings hält das Bundesgericht in einem weiteren Entscheid fest, dass die Durchführung einer Einvernahme ohne Teilnahme des Beschuldigten einer Wiederholung der Beweiserhebung im Grundsatz zwar nicht entgegenstehe. Wenn die Einvernahme wiederholt resp. zu einem späteren Zeitpunkt eine Konfrontationseinvernahme durchgeführt werde, dürfe die Strafbehörde nicht auf die Ergebnisse der vorausgegangenen Einvernahmen zurückgreifen, soweit diese einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Aufzeichnungen über unverwertbare Beweise sind nach Art. 141 Abs. 5 StPO vielmehr aus den Strafakten zu entfernen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und danach zu vernichten.47
Art. 158 Abs. 2 i.V.m. Art. 177 Abs. 3 Satz 2 StPO (Unverwertbare Einvernahme mangels «doppelter» Belehrung): Eine beschuldigte Person muss anlässlich einer Einvernahme sowohl über ihr Selbstbelastungsprivileg («nemo tenetur se ipsum accusare») und auch über das spezifische Aussageverweigerungsrecht betreffend den mitbeschuldigten Ehemann aufgeklärt werden (sog. «doppelte» Belehrung), ansonsten die Aussagen einem absoluten Beweisverwertungsverbot unterliegen.48
Art. 164 i.V.m. Art. 177 Abs. 2 StPO (Abklärungen über die Zeugin): Gemäss Bundesgericht sind Abklärungen zum Vorleben von Zeugen nur dann notwendig, wenn sich Zweifel an der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Zeugen auf die Glaubhaftigkeit von konkreten Zeugenaussagen auswirken können. Fragen zur generellen Glaubwürdigkeit seien erst zu stellen, wenn sie für die Beurteilung einer Aussage konkrete Bedeutung erlangen. Erhebungen zum allgemeinen Lebenswandel seien nicht zulässig. Umstände, die Einfluss auf die Würdigung der Zeugenaussage haben könnten, seien frühere Strafverfahren wegen Rechtspflegedelikten oder Hinweise auf sachliche Befangenheit wegen Befürwortung der Tat aus Loyalität oder politischer Überzeugung. Auch körperliche Mängel und Krankheiten, Fachkunde, Geschicklichkeit und gleichartige Vorstrafen könnten ebenfalls interessieren. Am Ende – so das Bundesgericht – sei jedoch die Glaubhaftigkeit der konkreten Zeugenaussage entscheidend.49
Art. 215, Art. 213 StPO (Polizeiliche Anhaltung bei Gefahr im Verzug): Bei Gefahr im Verzug kann die Polizei zum Zweck der Anhaltung oder der Festnahme einer Person Räumlichkeiten auch ohne Hausdurchsuchungsbefehl betreten (Art. 213 Abs. 2 StPO). Nach einem neueren Urteil des Bundesgerichts muss in einem solchen Fall auch nachträglich kein Durchsuchungsbefehl ausgestellt werden.50
Art. 218 StPO (vorläufige Festnahme durch Privatpersonen): Art. 218 StPO bildet einen ausserstrafrechtlichen Rechtfertigungsgrund der gesetzlich erlaubten Handlung im Sinne von Art. 14 StGB, welcher das mit der Festnahme verbundene tatbestandsmässige Verhalten von Privaten rechtfertigt, sofern es den gesetzlichen Anforderungen, namentlich den Grundsätzen der Subsidiarität und der Proportionalität, entspricht. Wer in Missachtung der gesetzlichen Voraussetzungen als Privatperson eine Festnahme vornimmt, erfüllt objektiv den Tatbestand der Amtsanmassung und der Freiheitsberaubung. Diese Grundsätze gelten auch für private Sicherheitsunternehmen. Im konkreten Fall hat das Bundesgericht die entsprechende Verurteilung eines Ladendetektives durch die kantonalen Instanzen geschützt.51
Art. 222 und Art. 237 Abs. 4 StPO (Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft bei Nichtanordnung von Ersatzmassnahmen anstelle Untersuchungshaft): Die Staatsanwaltschaft ist berechtigt, den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, mit welchem dieses die Anordnung von ihr beantragter Ersatzmassnahmen ablehnt, bei der kantonalen Beschwerdeinstanz anzufechten.52
Art. 233 StPO (Haft während eines Verfahrens vor Berufungs- resp. Bundesgericht): Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts erfolgt mangels Verweises in den Art. 231 f. StPO auf Art. 227 Abs. 7 StPO keine periodische Überprüfung der Sicherheitshaft, sobald das Berufungsgericht mit der Sache befasst ist. Die beschuldigte Person kann gestützt auf Art. 233 StPO aber jederzeit ein Haftentlassungsgesuch stellen. Weil sich das Bundesgericht nicht als Haftgericht sieht, bleibt die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts (über das Berufungsurteil hinaus) auch während des Verfahrens vor Bundesgericht bzw. bis zur Rechtskraft seines Urteils für die erstinstanzliche Behandlung von Haftentlassungsgesuchen zuständig.53
Art. 248 Abs. 1 und Art. 264 Abs. 1 lit. c StPO, Art. 321 Ziff. 2 und 3 StGB (Arztgeheimnis als Entsiegelungs- und Durchsuchungshindernis): Kantonale Verwaltungsnormen (im vorliegenden Fall das Gesundheitsgesetz des Kantons Schaffhausen) dürfen die bundesgesetzlichen Vorschriften über den Schutz der Berufsgeheimnisse und über die strafprozessualen Editions- und Zeugnispflichten nicht unterlaufen. Dies gilt namentlich für die in Art. 171 Abs. 2 lit. b StPO i.V.m. Art. 321 Ziff. 2 StGB abschliessend geregelten Modalitäten einer Entbindung des Berufsgeheimnisses. Mangels einer gesetzeskonformen Entbindung vom Arztgeheimnis verletzte der im vorliegenden Fall angefochtene Entsiegelungsentscheid Bundesrecht.54
Nach der vorläufigen Sicherstellung ist der Inhaber über seine Siegelungsrechte zu informieren. Diese Information muss rechtzeitig, d.h. spätestens nach Abschluss der Hausdurchsuchung, und inhaltlich ausreichend erfolgen. Ein Hinweis im Hausdurchsuchungsbefehl und im Durchsuchungsprotokoll auf Art. 248 StPO genügt – jedenfalls bei einem juristischen Laien – nicht. Ein Gesuch der Verteidigung auf Siegelung zwei Tage nach der Hausdurchsuchung ist deshalb nicht verspätet.55
Beim Vorwurf einer gewerbsmässigen Tatbegehung (im vorliegenden Fall ging es um den Verdacht gewerbsmässigen Betrugs mittels falscher Kreditkarten) gilt das Prinzip der verdachtssteuernden Wirkung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Ziff. 2 EMRK) nicht. Nach Auffassung des Bundesgerichts muss es der Staatsanwaltschaft möglich sein, den Sachverhalt umfassend abzuklären, weswegen eine fehlende Triage des ZMG in thematischer und zeitlicher Hinsicht bundesrechtskonform gewesen sei.56
Wer im Rahmen eines Entsiegelungsverfahrens eines Mobiltelefons die «Apps» bezeichnet, in welchen sich die beschlagnahmeunfähigen Datenerzeugnisse befinden, kommt seiner Substanziierungsobliegenheit hinreichend nach.57
Zudem besteht kein Anspruch auf die Durchführung einer parteiöffentlichen mündlichen Triageverhandlung.58
Die Triage durch das Zwangsmassnahmengericht hat in einem einheitlichen Verfahren zu erfolgen, «hybride» Entscheide über Entsiegelung sind unzulässig.59
Schliesslich hat die Privatklägerschaft keine Parteistellung im Entsiegelungsverfahren, wenn sie keine eigenen rechtlich geschützten Geheimhaltungsinteressen im Sinne von Art. 248 Abs. 1 StPO geltend macht, die einer Durchsuchung von sichergestellten und versiegelten Gegenständen entgegenstehen (Art. 246–248 StPO), sondern «nur» das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft unterstützen will.60
Art. 260 StPO (Erkennungsdienstliche Erfassung): Beschimpfungen während einer Kontrolle durch die Polizei erfüllen die Voraussetzung einer schweren Rechtsgutsverletzung zweifellos nicht. Auch eine Tätlichkeit (der Beschwerdeführer hat die Hand des Polizisten weggeschlagen) weist keine erforderliche Deliktsschwere auf. Auch die Vorstrafen liegen allesamt im unteren Bereich der Strafbarkeit und weisen Bagatellcharakter auf. Sie erreichen die Schwelle der geforderten Deliktsschwere nicht und rechtfertigen keinen Grundrechtseingriff zu rein präventiven Zwecken.61
Art. 264 Abs. 1 lit. d StPO (Einschränkungen der Beschlagnahme): Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gilt nur als Anwalt im Sinne von Art. 264 Abs. 1 lit. d StPO, wer nach BGFA zur Vertretung von schweizerischen Gerichten berechtigt ist.62
Art. 281 Abs. 3 lit. a StPO (Geheime Überwachung im Strafvollzug): Technische Überwachungsgeräte dürfen nicht gegen Personen angeordnet werden, die sich im Freiheitsentzug befinden (Art. 281 Abs. 3 lit. a StPO). Das bedeutet nach einem neuen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts jedoch nicht, dass der Besuchsraum des Gefängnisses nicht abgehört werden darf, wenn sich die geheime Überwachung gegen den Besucher richtet.63
Art. 303 StPO (Untersuchung ohne Strafantrag): Die Staatsanwaltschaft ist offenbar befugt, auch ohne Strafantrag in Antragsdelikten zu ermitteln und den geschädigten Personen die Beweise zu präsentieren und sie aufzuklären, damit diese in der Folge entscheiden können, ob sie allenfalls einen Strafantrag stellen wollen.64
Art. 316 StPO (Vergleichsverhandlung bei Antragsdelikten): Bleibt die antragstellende Person der von der Staatsanwaltschaft einberufenen Vergleichsverhandlung fern, wirkt die Fiktion des Antragsrückzugs nur, wenn das Ausbleiben unentschuldigt ist und wenn aus den konkreten Umständen in Treu und Glauben geschlossen werden kann, dass die antragstellende Person kein Interesse an der Fortführung des Strafverfahrens mehr hat.65
Art. 355 Abs. 2 StPO (Verfahren bei Einsprache gegen den Strafbefehl): Die gesetzliche Rückzugsfiktion nach Art. 355 Abs. 2 StPO kommt nicht zur Anwendung, wenn die beschuldigte Person nicht rechtskonform vorgeladen wurde. Ein Zustellungsdomizil des amtlichen Verteidigers darf dabei nicht leichthin angenommen werden.66
Art. 364b Abs. 2 StPO (Sicherheitshaft während des Gerichtsverfahrens): Der vorsitzende Gerichtspräsident der Beschwerdekammer in einem nachträglichen (Beschwerde-)Verfahren betreffend Verlängerung einer stationären Massnahme kann nicht gleichzeitig als «Verfahrensleiter des Berufungsgerichts» über die Anordnung resp. Weiterführung der vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft entscheiden.67 Auch die vollzugsrechtliche Sicherheitshaft ist zu befristen.68
Art. 388 StPO (Zuständigkeiten nach Anmeldung der Berufung): Nach der Anmeldung einer Berufung liegt die Verfahrensleitung grundsätzlich weiterhin bei der Verfahrensleitung des erstinstanzlichen Gerichts.69
Art. 404 Abs. 1 StPO, Art. 329 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 StPO, Art. 333 StPO, Art. 391 StPO (Unzulässigkeit eines zusätzlichen Schuldspruchs aufgrund eines im Berufungsverfahren erweiterten Anklagesachverhalts): Der Streitgegenstand im Berufungsverfahren ist grundsätzlich auf Sachverhalte beschränkt, die bereits im erstinstanzlichen Urteil behandelt worden sind (Art. 404 Abs. 1 StPO). Art. 329 Abs. 2 StPO erlaubt nur Anklageergänzungen im Rahmen des erstinstanzlich fixierten Verfahrensgegenstands. Auch Art. 333 Abs. 1 StPO bietet keine Grundlage, um bisher nicht verfolgte Tatvorgänge in das Verfahren einzubeziehen. Ein zusätzlicher Schuldspruch wegen einer erst während des Berufungsverfahrens bekannt gewordenen Straftat (vgl. Art. 333 Abs. 2 StPO) scheitert am Verbot der «reformatio in peius» (Art. 391 Abs. 2 StPO). Das zulasten der beschuldigten Person erhobene Rechtsmittel hebt das Verschlechterungsverbot schon innerhalb des bisherigen Verfahrensgegenstands nur im Umfang der gestellten Anträge auf. Umso weniger darf das Berufungsgericht einen zusätzlichen Schuldpunkt in das Verfahren einführen. Daher ist Art. 333 Abs. 2 StPO im Berufungsverfahren generell nicht anwendbar. Im Sinne von Art. 333 Abs. 2 StPO «neue Straftaten» sind auch keine Tatsachen, die im Sinn von Art. 391 Abs. 2 zweiter Satz StPO zu einer strengeren Bestrafung führen können.70
Art. 406 StPO, Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Voraussetzungen für die Durchführung eines schriftlichen Berufungsverfahrens): Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich. Es kann nur ausnahmsweise unter den engen Voraussetzungen von Art. 406 StPO schriftlich durchgeführt werden, deren Vorliegen von der Berufungsinstanz von Amtes wegen zu prüfen ist. Liegt ein Einverständnis der Parteien mit dem schriftlichen Verfahren vor, kann dieses die gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 StPO nicht ersetzen, sondern tritt zu diesen hinzu. Die Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 lit. a und b StPO müssen dabei kumulativ vorliegen. Art. 406 StPO entbindet das Berufungsgericht nicht davon, im Einzelfall zu prüfen, ob der Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. Nach der Rechtsprechung des EGMR soll die angeklagte Person grundsätzlich erneut angehört werden, wenn in der Berufungsinstanz das erstinstanzliche Urteil aufgehoben wird und der Aufhebung eine andere Würdigung des Sachverhalts zugrunde liegt. In vorliegender Konstellation waren die Voraussetzungen für die Durchführung des schriftlichen Verfahrens nicht erfüllt. Da das Berufungsgericht die erstinstanzlichen Sachverhaltsdarstellungen verwerfen und die beschuldigte Person in Abänderung des angefochtenen Urteils schuldig sprechen wollte, konnte es den Sachverhalt nicht lediglich auf Grundlage der Akten feststellen. Es hätte die Beschuldigte zu einer mündlichen Berufungsverhandlung vorladen und ihr damit die Möglichkeit einräumen müssen, sich zu den Vorwürfen persönlich zu äussern und diejenigen Umstände vorzubringen, die der Klärung des Sachverhalts und ihrer Verteidigung dienen können. Die Anwesenheit der Beschuldigten erwies sich im Berufungsverfahren als erforderlich, sodass die Vorinstanz nicht auf ein mündliches Verfahren verzichten konnte. 71
Art. 429 Abs. 1, Art. 432 Abs. 2 und Art. 436 Abs. 1 StPO (Entschädigung der im Schuldpunkt obsiegenden beschuldigten Person zulasten des Staats oder der Privatklägerschaft): Im Zusammenhang mit Antragsdelikten muss sich die Privatklägerschaft nicht mutwillig oder grob fahrlässig verhalten haben, um gegenüber der obsiegenden beschuldigten Person entschädigungspflichtig zu werden. Die Entschädigungspflicht der (aktiv am Verfahren teilnehmenden) Privatklägerschaft ist dispositiver Natur. Bei einer Einstellung des Strafverfahrens oder bei einem Freispruch geht die Entschädigung der beschuldigten Person zulasten des Staats, wenn es sich um ein Offizialdelikt handelt, bei einem Antragsdelikt jedoch (regelmässig) zulasten der Privatklägerschaft. Im Berufungsverfahren betreffend Offizialdelikte wird die unterliegende Privatklägerschaft entschädigungspflichtig, im Beschwerdeverfahren hingegen der Staat. Geht es um ein Antragsdelikt, wird die Privatklägerschaft, die das Rechtsmittel als einzige ergriffen hat, sowohl im Berufungs- wie im Beschwerdeverfahren grundsätzlich entschädigungspflichtig.72
Art. 431 StPO, Art. 125 Ziff. 2 OR (Verrechnung einer Entschädigung für rechtswidrige Haftbedingungen mit den Kosten des Strafverfahrens): Die besondere Natur der Genugtuung, die aufgrund gegen Art. 3 EMRK verstossender Haftbedingungen im Anschluss an die strafrechtliche Beurteilung zugesprochen wird, verlangt eine tatsächliche Erfüllung im Sinne von Art. 125 Ziff. 2 OR. Ein solcher Anspruch, der im Rahmen eines Staatshaftungsverfahrens geltend gemacht wurde, darf nicht ohne Zustimmung der beschuldigten Person mit den ihr auferlegten Kosten des Strafverfahrens verrechnet werden.73
4. Bundesgesetz über das Bundesgericht
Art. 40 Abs. 2 und Art. 41 Abs. 1 BGG (vollmachtlose Verteidigung im Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht): Das BGG kennt das Institut der notwendigen Verteidigung im Sinne von Art. 130 f. StPO nicht. Ohne entsprechenden Auftrag kann ein Anwalt nicht geltend machen, er sei zur Vertretung eines Beschuldigten berechtigt, weil es sich bei der Strafsache im kantonalen Verfahren um einen Fall notwendiger Verteidigung gehandelt hat. Ein Anwalt, der nicht entsprechend beauftragt wurde, ist nicht zur Beschwerdeführung befugt, wenn er beim Betroffenen weder Instruktionen noch eine Vollmacht erhältlich machen konnte.74
Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG, Art. 433 Abs. 1 lit. b StPO (Beschwerdelegitimation der Privatklägerschaft bezüglich der Kostentragungspflicht einer beschuldigten Person, deren Verfahren eingestellt wurde): Das rechtlich geschützte Interesse der Privatklägerschaft ist gegeben, weil der Entscheid über die Kostentragung die Entschädigungsfrage präjudiziert.75
In einem anderen Urteil hat das Bundesgericht entschieden, dass die für die Verfolgung von Übertretungen zuständigen kantonalen Verwaltungsbehörden im Sinne von Art. 381 Abs. 3 StPO nicht zur Erhebung der Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht berechtigt sind. Sie fallen nicht unter Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG und verfügen auch nicht über ein rechtlich geschütztes Interesse zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs.76
Art. 92 und Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur bei Trennung von Strafverfahren [Art. 29 f. StPO]): Art. 92 BGG ist bei Verfahrenstrennungen nur dann anwendbar, wenn im konkreten Einzelfall die Frage der Verfahrenstrennung ausnahmsweise mit derjenigen der Zuständigkeit zusammenfällt. Weil die Verfahrenstrennung zu erheblichen prozessualen Rechtsnachteilen führen kann (Verlust der Parteistellung) und vor dem Hintergrund der bundesgerichtlichen Praxis zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist es angezeigt, die beschuldigte Person bei Verfahrenstrennungen (bzw. der Verweigerung einer Verfahrensvereinigung) nicht auf die Anfechtbarkeit des Endentscheids zu verweisen, sondern grundsätzlich einen drohenden, nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinne dieser Bestimmung zu bejahen. Dass diese Voraussetzung im konkreten Fall gegeben ist, muss rechtsgenüglich begründet werden.77
5. Anwaltsgesetz
Art. 17 BGFA, Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung im anwaltsrechtlichen Disziplinarverfahren): In Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche besteht nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK ein Anspruch auf gerichtliche Beurteilung in einem öffentlichen Verfahren. Das anwaltsrechtliche Disziplinarverfahren nach Art. 17 BGFA sieht als Sanktion unter anderem ein Berufsausübungsverbot vor und stellt deshalb eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche dar. Die Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK – und damit auch der Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung – müssen bei der gerichtlichen Beurteilung auch dann gewährleistet werden, wenn im konkreten Fall nicht ein Berufsausübungsverbot, sondern nur eine Verwarnung angeordnet wurde bzw. vor Gericht streitig ist.78
1 Urteil 6B_1306/2020 vom 2.3.2021.
2 BGE 147 IV 193 (6B_1073/2020 vom 13.4.2021).
3 Urteile 6B_1298/2020, 6B_1310/2020 vom 28.9.2021.
4 Urteil 6B_1295/2020 vom 26.5.2021.
5 BGE 147 IV 65 (6B_440/2019 vom 18.11.2020).
6 BGE 147 IV 199 (6B_1214/2020 vom 25.3.2021).
7 Urteil 6B_1074/2020 vom 3.2.2021; vgl. auch BGE 140 IV 145, E. 3.1.
8 Urteil 6B_519/2020 vom 27.9.2021.
9 Urteil 6B_91/2021 vom 30.6.2021; vgl. aber auch Urteil 6B_51/2021 vom 11.6.2021.
10 BGE 147 IV 205 (6B_1375/2020 vom 22.2.2021).
11 Urteil 6B_296/2021 vom 23.6.2021. In diesem Urteil hat das Bundesgericht im Übrigen die Beweiskraft von KoFako-Beurteilungen stark relativiert und grundsätzlich die Einschätzungen der sachverständigen Personen als relevant erachtet.
12 Urteil 6B_1172/2020 vom 21.12.2020.
13 Urteil 6B_82/2021 vom 1.4.2021 (nicht publiziert in BGE 147 IV 218).
14 Urteil 6B_381/2021 vom 17.6.2021.
15 Urteil 6B_764/2021 vom 18.8.2021.
16 BGE 147 IV 209 (6B_1456/2020 vom 10.3.2021).
17 BGE 147 I 259 (6B_124/2021 vom 24.3.2021).
18 Urteil 6B_422/2021 vom 1.9.2021.
19 Urteil 6B_379/2020 vom 1.6.2021.
20 BGE 147 IV 73 (6B_572/2020 vom 8.1.2021).
21 Urteil 6B_184/2020 vom 13.9.2021.
22 Urteil 6B_447/2021 vom 16.7.2021.
23 Urteil 6B_1246/2020 vom 16.7.2021.
24 Urteil 6B_1437/2020 vom 22.9.2021.
25 Urteil 6B_1022/2020 vom 2.6.2021.
26 Urteil 6B_282/2021 vom 23.6.2021.
27 BGE 147 IV 225 (6B_1429/2020 vom 8.4.2021).
28 BGE 147 IV 176 (6B_1302/2020 vom 3.2.2021).
29 Urteil 6B_578/2020 vom 11.8.2021.
30 Urteil 6B_14/2021 vom 28.7.2021; vgl. auch Urteil 6B_1003/2020 vom 21.4.2021.
31 Urteil 6B_1028/2020 vom 1.4.2021.
32 BGE 147 IV 93 (6B_360/2020 vom 8.10.2020).
33 Urteil 6B_1416/2020 vom 30.6.2021; Urteil 6B_623/2020 vom 11.3.2021; vgl. aber auch Urteil 6B_694/2020 vom 17.6.2021 und Urteil 6B_19/2021 vom 27.9.2021.
34 Urteil 1B_406/2021 vom 13.10.2021.
35 Urteil 1B_269/2021 vom 12.8.2021.
36 Urteil 6B_23/2021 vom 20.7.2021; vgl. auch Urteil 1B_524/2020 vom 28.12.2020.
37 Urteil 1B_144/2021 vom 30.8.2021.
38 Urteil 1B_118/2021 vom 13.7.2021.
39 Urteil 1B_443/2021 vom 6.10.2021.
40 Urteil 1B_244/2020 vom 12.5.2021.
41 Urteil 6B_1247/2020 vom 7.10.2021.
42 Urteil 6B_1430/2020 vom 15.7.2021.
43 Urteil 6B_1281/2020 vom 27.8.2021; vgl. auch BGE 141 I 124, E. 4.2.
44 BGE 147 IV 16 (6B_1282/2019 vom 13.11.2020).
45 BGE 147 IV 9 (6B_1468/2019 vom 1.9.2020); vgl. auch Urteil 6B_1288/2019 vom 21.12.2020.
46 Urteil 6B_136/2021 vom 6.9.2021.
47 Urteil 6B_1080/2020 vom 10.6.2021.
48 Urteil 1B_56/2021 vom 5.10.2021.
49 Urteil 6B_323/2021 vom 11.8.2021.
50 Urteil 6B_913/2021 vom 25.10.2021; vgl. auch Urteil 6B_1409/2019 vom 4.3.2021, E. 1.6.1.
51 Urteil 6B_358/2020 vom 7.7.2021.
52 BGE 147 IV 123 (1B_438/2020 vom 27.11.2020).
53 Urteil 1B_478/2021 vom 28.9.2021; Urteil 1B_353/2021 vom 12.7.2021, E. 4.4.5; vgl. auch Urteil 1B_323/2020 vom 8.7.2020, E. 1.
54 BGE 147 IV 27 (1B_545/2019 vom 14.10.2020); vgl. auch Gianmarco Coluccia, «Ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug – zugleich Besprechung von BGE 147 IV 27», in: Forumpoenale 5/2021, S. 407 ff.
55 Urteil 1B_277/2021 vom 17.8.2021.
56 Urteil 1B_256/2021 vom 22.7.2021; vgl. aber Urteil 1B_469/2021 vom 27.10.2021 in Bezug auf den Umfang der Durchsuchung von Smartphones.
57 Urteil 1B_602/2020 vom 23.2.2021.
58 Urteil 1B_313/2020, 1B_314/2020 vom 4.11.2020 sowie Urteil 1B_569/2020 vom 27.7.2021.
59 Urteil 1B_380/2020 vom 13.1.2021.
60 Urteil 1B_497/2020 vom 22.7.2021.
61 Urteil 1B_171/2021 vom 6.7.2021.
62 Urteil 1B_333/2020 vom 22.6.2021.
63 Urteil 1B_638/2020 vom 4.6.2021.
64 Urteil 1B_488/2021 vom 16.9.2021.
65 Urteil 6B_1179/2020 vom 4.2.2021.
66 Urteil 6B_328/2020 vom 20.5.2021.
67 Urteil 1B_290/2021 vom 15.7.2021.
68 Urteil 1B_96/2021 vom 25.3.2021.
69 Urteil 1B_463/2021 vom 5.10.2021.
70 BGE 147 IV 167 (6B_1370/2019 vom 11.3.2021).
71 BGE 147 IV 127 (6B_973/2019 vom 28.10.2020); vgl. auch Urteil 6B_1349/2020 vom 17.3.2021; Urteil 6B_1087/2019 vom 17.2.2021 sowie Urteil 6B_958/2019 vom 5.2.2020.
72 BGE 147 IV 47 (6B_582/2020 vom 17.12.2020); vgl. auch BGE 141 IV 476, E. 1, sowie Nathalie Hiltbrunner, Myriam Lustenberger, Andreas Müller, «Verlegung der Kosten und Entschädigungen im Beschwerde- und Berufungsverfahren nach StPO – eine (tabellarische) Übersicht, in: Forumpoenale 2021, S. 392 ff.
73 BGE 147 IV 55 (6B_117/2020 vom 13.11.2020).
74 BGE 146 IV 364 (6B_639/2020 vom 15.9.2020).
75 BGE 147 IV 47 (6B_582/2020 vom 17.12.2020).
76 BGE 147 IV 2 (6B_753/2020 vom 11.1.2021).
77 BGE 147 IV 188 (1B_524/2020 vom 28.12.2020).
78 BGE 147 I 219 (2C_204/2020 vom 3.8.2020).