Wenn Stephan Bolliger, Leiter Forensische Medizin und Bildgebung am Institut für Rechtsmedizin (IRM) in Bern, eine Obduktion macht, steht er nicht nur im Seziersaal, sondern sitzt auch am Computer. Mit der Maus fährt er über ein graues, tönern aussehendes Gesicht, das sich unter dem Cursor in einen Schädel verwandelt. Als hätte innerhalb von Sekundenbruchteilen der vollständige Verwesungsprozess stattgefunden. Auf dem Bildschirm dreht sich der computeranimierte Schädel. Bolliger dringt ins Innere ein, zoomt, auf dem Bildschirm erscheint das Hirn aus der Vogelperspektive. Der Rechtsmediziner zoomt weiter, die Hirnmasse verschwindet, nun sind die Hirngefässe freischwebend sichtbar. Unverletzt.
«Das wäre bei einer Leichenöffnung nicht möglich», sagt Bolliger. «Da weiss man nie, ob nicht der Rechtsmediziner ein Gefäss verletzt hat.» Auch die äussere Leichenschau ist mittels Computer möglich. Kein versteckter Einstich, keine noch so kleine Narbe oder Hautverletzung bleibt verborgen.
Der Fachbegriff für die virtuelle Obduktion heisst Virtopsy. Statt des Skalpells und der Säge kommen ein dreidimensionales optisches Oberflächenscanning, computertomografische Röntgenaufnahmen (CT) und die Magnetresonanzuntersuchung (MRI) zur Anwendung. Gewebeproben für histologische Untersuchungen werden mit Hilfe von bildgebenden Verfahren gezielt mit einer Sonde entnommen.
Spätere Untersuchung ohne Exhumierung möglich
Dank der so gesammelten Daten ist eine erneute Untersuchung auch nach vielen Jahren noch möglich, ohne dass eine Exhumierung nötig wäre. «Sind die Daten erhoben, sind auch Zweitgutachten von einem Institut am anderen Ende der Welt möglich», sagt Bolliger. Virtuelle Obduktionen können mit Hilfe eines Beamers auch direkt in einem Gerichtssaal verfolgt werden.
Bern gehört in der Virtopsy-Forschung zu den führenden Instituten. Das ist nicht selbstverständlich. Früher war das IRM Bern auch mal durch verhängnisvolle Patzer aufgefallen. So etwa 1985 im Kehrsatzer Mordfall. Dort war der Mageninhalt einer Leiche zu untersuchen. Bald einmal war niemandem mehr klar, ob die Überreste eines halbverdauten Toast Hawaii aus dem Magen des Opfers stammten oder ob es sich dabei um die erbrochene Vergleichsprobe des Laboranten handelte.
Oder 1998, als die Geräte für die Messung der Blutalkoholkonzentration falsch validiert waren. Das IRM Bern trat damals von sich aus an die Öffentlichkeit, orientierte die zuständigen Gerichte, Strassenverkehrsämter sowie Polizeikommandanten der betroffenen Kantone und rief sämtliche Berichte aus dem fraglichen Zeitraum zurück.
«Das ist bis heute die Philosophie des IRM Bern», sagt Bolliger. Stephan Stucki, Präsident der Strafabteilung des Berner Obergerichts, stellt dem IRM Bern denn auch ein gutes Zeugnis aus: «Die Hauptanliegen von Staatsanwaltschaft und urteilender Justiz sind regelmässig erfüllt: Die Gutachten sind sorgfältig erarbeitet und die Sprache ist verständlich.»
Bei Unregelmässigkeiten rückhaltlos zu informieren, ist auch die Devise der anderen Institute. «Bei Fehlern gibt es keine andere Möglichkeit, als die Öffentlichkeit zu orientieren», sagt auch Volker Dittmann, Leiter des Basler IRM. «Das wäre sonst das Ende unserer Glaubwürdigkeit.» Für Thomas Sigrist, Leiter des IRM am Kantonsspital St. Gallen, ist nicht nachvollziehbar, wie die Fehler damals in Bern passieren konnten.
Um solche Fehler künftig zu vermeiden, unterziehen sich sämtliche rechtsmedizinischen Institute regelmässig sogenannten Ringversuchen, die von der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin (SGRM) durchgeführt und kontrolliert werden. Sämtliche Institute untersuchen dann gleichzeitig dieselben Haar-, Blut-, Urin- und andere Stoffproben. Auf diese Weise können Aussagen über die Messgenauigkeit und über die Messqualität gemacht werden. «Für die DNA-Datenbank dürfen nur Labore DNA-Profile liefern, die akkreditiert sind und die bei den Ringversuchen mitmachen», sagt Sigrist. «Sonst ist die Datenbank wertlos.»
Entzug der Akkreditierung bei unsorgfältiger Arbeit
Eine entsprechende Verordnung regelt die Einzelheiten. Zugelassen als DNA-Analyselabore für die DNA-Datenbank sind die Institute von St. Gallen, Zürich, Basel, Bern und das fusionierte Institut von Lausanne und Genf. Alle Institute wissen, dass ihnen bei schlechter Arbeit die Akkreditierung auch wieder entzogen werden kann. Die Labore werden jährlich durch externe Experten überprüft.
Keine Angaben zur Fehlerquote erhältlich
Um Fehler zu vermeiden, gilt an den rechtsmedizinischen Instituten das Vier-, meistens sogar das Sechsaugenprinzip. Drei Mitarbeiter prüfen unabhängig voneinander die Gutachten. «Und wir arbeiten auch nicht im gleichen Büro. So lesen wir die Gutachten unbefangen», sagt Bolliger. «Bei forensischen Analysen sind Doppelbestimmungen zwingend vorgeschrieben», sagt Volker Dittmann vom IRM Basel.
Und wie sieht es mit der Fehlerquote aus? «Ich bin seit neun Monaten am IRM Bern als Leiter der Abteilung Forensische Toxikologie tätig und in dieser Zeit mussten wir einen einzigen Flüchtigkeitsfehler bei der Beschreibung der Länge einer Haarprobe korrigieren. Toxikologisch ist die erkannte Fehlerquote weniger als im Promillebereich», sagt Wolfgang Weinmann. «Staatsanwalt, Richter und Verteidiger legen im Prozess jedes Wort auf die Goldwaage», sagt Bolliger, «und das ist auch gut so. So wissen wir, dass unsere Arbeit auch von aussen ständig überprüft wird.» In St. Gallen muss das IRM pro Jahr ungefähr zwei bis drei Gutachten als fehlerhaft zurücknehmen. Zur Fehlerquote schweigen sich die Institute sonst aus. «Die Rechtsmedizin in der Schweiz ist aber verglichen mit anderen westlichen Ländern auf einem sehr hohen Niveau», sagt Patrice Mangin vom IRM Lausanne/Genf.
Der St. Galler Strafrechtler Fredy Fässler beurteilt die Arbeit des St. Galler IRM als sehr gut. «Klar gibt es immer mal wieder einen Fall, wo man als Verteidiger nicht einverstanden ist», sagt Fässler. «Mir ist aufgefallen, dass die St. Galler Rechtsmediziner gerade bei der Beurteilung ärztlicher Kunstfehler mit ihren Medizinerkollegen nicht zimperlich umgehen - im Gegenteil.» Wenn es um Alkohol am Steuer oder Betäubungsmittel gehe, seien die St. Galler streng: «Das ist aber auch nachvollziehbar», sagt Fässler, «andererseits sind sie im Zweifel eher auf der Seite der Opfer.»
Der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy lobt die Gutachter des IRM Zürich dafür, dass «sie sich auch auf Gespräche mit der Verteidigung einlassen». An Unregelmässigkeiten seitens des IRM kann er sich nicht erinnern.
Auftritt im Gerichtssaal nur in manchen Kantonen
Je nach Kanton liefern die Gerichtsmediziner nicht nur einen Bericht zuhanden der Verfahrensakten ab. Ihre Ausführungen sind auch in Verhandlungen gefragt, in denen Gericht und Parteien zusätzliche Fragen stellen können. Für Bolliger ist wichtig, dass er als Experte vor Gericht geladen wird. «In Bern ist das zum Glück häufig», sagt er, «so wissen wir auch, ob unsere Gutachten verstanden worden sind.» Auch Oberrichter Stephan Stucki schätzt es, wenn die Berner Rechtsmediziner Gutachten vor Gericht erklären. «Einmal machte ein Gutachter des IRM über mehrere Stunden detaillierte Aussagen zur Beständigkeit und Übertragung von DNA-Spuren. Alle Verfahrensbeteiligten nahmen viel Wissen für weitere Fälle mit», sagt Stucki.
Auch Volker Dittmann, Leiter des IRM Basel, ist regelmässig als Sachverständiger im Gerichtssaal, wenn es um komplexe Fragestellungen geht. Das Gleiche gilt für Zürcher Rechtsmediziner. Das ist bei Thomas Sigrist anders: «Im Einzugsgebiet des IRM St. Gallen ist es offenbar nicht vorgesehen, dass wir am Prozess teilnehmen.» Auch Fredy Fässler, Anwalt in St. Gallen, kann sich nicht erinnern, dass ein Rechtsmediziner als Sachverständiger aufgetreten wäre: «In St. Gallen gab es nach der kantonalen Strafprozessordnung bisher nur den reinen Aktenprozess.»
Nicht ohne Schwierigkeiten ist offenbar das interdisziplinäre Verständnis von Juristen für die Naturwissenschaften. «Wir arbeiten mit Hypothesen - das sind sich die Juristen nicht gewohnt», sagt Sigrist vom IRM St. Gallen. «In den Naturwissenschaften gibt es nie eine Sicherheit. Ich wünsche mir oft, dass Gerichte und Anwälte unsere Gutachten nicht einfach so hinnehmen, sondern nachfragen. Und zwar kritisch.»
Die Skepsis gegenüber der Rechtsmedizin
Auch Volker Dittmann sieht Handlungsbedarf bei der Weiterbildung von Anwälten in Rechtsmedizin. Für Patrice Mangin muss ein Jurist ein Minimum an rechtsmedizinischem Wissen haben. Und für Stephan Bolliger vom IRM Bern steht fest: «Anwälte können nie genug über Rechtsmedizin wissen.» Michael Thali, der Leiter des IRM Zürich, bringt es auf den Punkt: «Ein Anwalt sollte ein Skeptiker mit gesundem Menschenverstand sein. Denn er soll unsere Arbeit kritisch hinterfragen, das bringt auch uns Rechtsmediziner weiter.»
Weiterführende Informationen
Auf den Webseiten der verschiedenen rechtsmedizinischen Institute finden sich weiterführende Informationen. Zusätzlich können die Skripte der rechtsmedizinischen Vorlesungen für Juristen heruntergeladen werden. Diese sind auch für Praktiker durchaus von Interesse.
Virtopsy: www.virtopsy.com
Englische Seite mit deutschen Filmsequenzen, in denen die Arbeit mit Virtopsy aufgezeigt wird.
Institut für Rechtsmedizin Bern: www.irm.unibe.ch
Lexikon der rechtsmedizinischen Begriffe, Skript Rechtsmedizinvorlesung für Juristen.
Schweizerische Gesellschaft für Rechtsmedizin: www.sgrm.ch
Angebot sämtlicher Skripte der Mitgliedsinstitute zum Thema, Adresse der Ombudsstelle.