Ein Streifzug durch die seit 2020 ergangenen Urteile zum Arzthaftpflichtrecht vermittelt den Eindruck, dass es zunehmend schwieriger wird, Haftungsansprüche geltend zu machen.1 Eine absolute Seltenheit sind insbesondere strafrechtliche Verurteilungen wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung, so etwa im Entscheid 6B_63/2020.
Strafanzeigen gegen Ärzte werden regelmässig nicht anhand genommen2 oder eingestellt,3 enden mit einem Freispruch4 oder werden ausnahmsweise zurückgewiesen, weil die falschen rechtlichen Bestimmungen angewandt worden sind.5 Die Gründe für die regelmässige Abweisung von Haftungsansprüchen sind vielfältig, wie die folgende Analyse der einschlägigen Urteile des Bundesgerichts ergibt.
Nicht nur die Geltendmachung von Haftungsansprüchen, sondern auch von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen erweist sich nach einem medizinischen Unfall («accident médical») als praktisch unmögliches Unterfangen. Im Entscheid 8C_267/2021 wurde beispielsweise das Vorliegen eines medizinischen Unfalles verneint, obwohl das im Zusammenhang mit der Wirbelsäulenoperation verwendete Biegeinstrument dem Operateur plötzlich aus den Händen geglitten war und das offen liegende Rückenmark verletzt hatte. Trotz der gutachterlichen Feststellung, dass derartige Zwischenfälle (sehr) selten sind, verneinte das Bundesgericht das Vorliegen eines Unfalles.
Der Leser dieses Urteils mag sich fragen – auch wenn er nicht wie der Schreibende der fallführende Geschädigtenanwalt war –, ob es überhaupt noch möglich ist, dass ein medizinischer Zwischenfall ein Unfallereignis begründet, wenn das Bundesgericht (sehr) seltene Ereignisse wie dieses nicht mehr als plötzlich oder aussergewöhnlich einstuft. Für Patienten wird es damit schwieriger, beim Eintritt eines medizinischen Zwischenfalls einen Ausgleich für den erlittenen Personenschaden zu erhalten.
1. Anwendbares Haftungsrecht
Diese Feststellung irritiert. Zwischen Arzt und Patient besteht ein unterschiedliches Kräfte- und Interessenverhältnis. Zudem fordert die Politik eine Stärkung der Patientenrechte, insbesondere auch im Zusammenhang mit medizinischen Zwischenfällen. Allerdings ist der politische Wille noch nicht so progressiv, dass für die mit erheblichen Gefahren verbundene moderne Medizin eine eigentliche Gefährdungshaftung eingeführt wird.
Gewiss wird die Verschuldenshaftung zunehmend durch das kantonale Staatshaftungsrecht und die regelmässig geltende ausschliessliche Kausalhaftung relativiert. Da die Haftungsvoraussetzung des Verschuldens aber im medizinischen Haftungsrecht von untergeordneter Bedeutung ist, das Staatshaftungsrecht kurze Verwirkungsfristen kennt und hinsichtlich der übrigen Haftungsvoraussetzungen auf die für die Verschuldenshaftung geltende Praxis abstellt, bringt die einfache Kausalhaftung keine nennenswerten Vorteile.
Im Gegenteil schliesst die Anwendbarkeit des Staatshaftungsrechts die Geltendmachung von Adhäsionsansprüchen im Strafverfahren aus.6 Ebenso können trotz dem direkten Forderungsrecht keine Haftungsansprüche gegenüber dem Haftpflichtversicherer im Strafverfahren geltend gemacht werden, da sich dieses gegen den angeschuldigten Arzt richtet.7
Zudem ist die Beurteilung, ob das Staatshaftungsrecht anwendbar ist, wenn die umstrittene medizinische Dienstleistung von einem privatrechtlich organisierten Betrieb erbracht worden ist, nicht immer einfach. So gilt im Kanton Bern beispielsweise das kantonale Staatshaftungsrecht auch für die regionalen Spitalzentren, die als privatrechtliche Aktiengesellschaften geführt werden.8 Dasselbe trifft im Kanton Aargau zu, wo das Kantonsspital Baden als Aktiengesellschaft organisiert ist.9
2. Anwendbare Haftungsdoktrin
2.1 Verhaltenshaftung
Die Verschuldenshaftung geht von einem körperzentrierten Ansatz aus. Sie knüpft die Haftung der medizinischen Fachpersonen, insbesondere der Ärzte, daran an, ob ihr patientenrelevantes Verhalten (Tun, Unterlassen oder Dulden) pflichtgemäss erfolgt ist und dem Standard entsprochen hat, den ein vergleichbarer sorgfältig tätiger Berufsangehöriger eingehalten hätte. Der Unterscheidung zwischen der deliktischen und der vertraglichen Haftung kommt im medizinischen Kontext im Zusammenhang mit der Haftungsbegründung keine grosse Bedeutung zu.
Nur in seltenen Fällen, etwa im Entscheid 4A_168/2021, muss sich das erkennende Gericht mit der Frage auseinandersetzen, ob die Vertragsparteien über den an sich massgeblichen medizinischen Standard – der von Gesetzes wegen gilt – hinaus oder beim Fehlen eines solchen die Verhaltenspflichten des Arztes vertraglich geregelt haben.
Die ältere Rechtsprechung gewährte dem Arzt aufgrund seiner gefahrgeneigten Tätigkeit ein Haftungsprivileg, indem die haftungsbegründende Voraussetzung der Pflichtverletzung erst dann bejaht wurde, wenn ein eigentlicher Kunstfehler – also eine erhebliche Abweichung vom ärztlichen Standard – vorlag.10 Das Bundesgericht schaffte dieses Haftungsprivileg in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ab und stellt seither in konstanter Rechtsprechung fest, dass jede Abweichung vom ärztlichen Standard an sich haftungsbegründend ist.11
Es ist allerdings nach wie vor schwierig, den ärztlichen Standard und seine Nichteinhaltung nachzuweisen, wie zahlreiche Urteile im Berichtszeitpunkt verdeutlichen. Beispielhaft kann hier auf die Urteile des Bundesgerichts 4A_255/2021, 4A_432/2020 und 4A_579/2019 hingewiesen werden. Die Beurteilung, ob ein Standard besteht, was dessen Inhalt ist und ob dieser im konkreten Fall im Handlungszeitpunkt eingehalten wurde, ist zwar Aufgabe des Gerichts, setzt aber eine gutachterliche Expertise voraus, die auch von einem Facharzt für Rechtsmedizin erstattet werden kann.12
Da die medizinische Wissenschaft keine exakte Wissenschaft darstellt und gesundheitliche Beeinträchtigungen oft mit verschiedenen Methoden behandelt werden können, bestehen regelmässig Unklarheiten, ob der schadenverursachende Arzt im Handlungszeitpunkt die ihm obliegende Sorgfalt eingehalten hat oder nicht. Die drei erwähnten und weitere Urteile legen nahe, dass die Gerichte im Zweifelsfall davor zurückschrecken, dem schadenverursachenden Arzt den Vorwurf zu machen, unsorgfältig gehandelt zu haben.
Lediglich in offensichtlichen Fällen wird eine Sorgfaltspflichtverletzung bejaht. Ein Beispiel dafür ist das Bundesgerichtsurteil 6B_10331/2016, das den Fall eines Wirbelsäulenchirurgen betraf, der nicht merkte, dass er während der Operation lediglich ein Standbild betrachtete.
Die Gerichte weichen zudem nur in den seltensten Fällen von den Beurteilungen der von ihnen bestellten Gutachter ab. Zudem wird die Befangenheit eines Gutachters nur bei einer expliziten Vorbefassung bejaht. Eine Vorbefassung liegt nicht vor, wenn ein gerichtlich bestellter Experte mehrmals zum gleichen Sachverhalt befragt wird oder wenn ergänzende oder vertiefende Arbeiten des Sachverständigen beigezogen werden. Abgelehnt werden kann nur ein gerichtlich bestellter Experte, der zu einer ähnlichen Thematik und im gleichen Zeitraum bereits ein Gutachten für eine der Parteien erstattet hat.13
2.2 Aufklärungshaftung
Es erstaunt deshalb wenig, dass in vielen Fällen nicht die Sorgfaltspflicht der ärztlichen Tätigkeit, sondern die Frage umstritten ist, ob der Patient hinreichend aufgeklärt worden ist und er eine hinreichende Einwilligungserklärung abgegeben hat. Die Aufklärungshaftung stellt gewissermassen das Surrogat zur Verhaltenshaftung des Arztes dar und wird als sogenannte Körperverletzungsdoktrin in wechselnden Phasen infrage gestellt. Aus der Perspektive des Arztes mag es erklärungsbedürftig sein, dass ihm der Vorwurf einer rechtswidrigen Handlung gemacht wird, wenn er letztlich seiner beruflichen Tätigkeit nachgeht, für welche er eine gesundheitspolizeiliche Bewilligung hat.
Das Bundesgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass die Körperverletzungsdoktrin gerechtfertigt sei, da die medizinischen Fachpersonen verpflichtet sind, die Patientenautonomie zu wahren. Die Körperverletzungsdoktrin hat zur Folge, dass der Patient, wenn er eine ungenügende Aufklärung oder eine fehlende oder mangelhafte Einwilligung behauptet, insoweit einen Beweisvorteil hat, als der Arzt mit der haftungsbegründenden Vermutung konfrontiert wird, die physische oder psychische Integrität des Patienten in widerrechtlicher Weise beeinträchtigt zu haben.
Der mit dieser Beweislastumkehr konfrontierte Arzt muss sich aber keine grossen Sorgen machen, den Rechtfertigungsgrund der hinreichenden Aufklärung und Einwilligung nicht erbringen zu können, wenn er sich zumindest einigermassen patientenfreundlich verhalten hat. Nicht zuletzt die jüngere Rechtsprechung relativiert zunehmend die Anforderungen an eine hinreichende Aufklärung. So wurde es zum Beispiel in Entscheid 4A_315/2022 als genügend erachtet, wenn dem Patienten vor einem operativen Eingriff lediglich allgemeine Informationen gegeben wurden, er aber ersatzweise schriftliche Unterlagen erhielt, aus denen (auch) die seltenen Risiken hervorgehen.14
Vor diesem Hintergrund ist die bisher als gefestigt zu betrachtende Praxis, ein persönliches Aufklärungsgespräch vor dem medizinischen Eingriff unter Wahrung einer angemessenen Bedenkzeit durchzuführen, infrage gestellt. Zu beachten ist zudem, dass das Bundesgericht einen konkludenten Verzicht auf Aufklärung zulässt und feststellt, dass einem Patienten mit einem Übermass an (schriftlichen oder mündlichen) Informationen nicht gedient sei.15
Gelingt dem Arzt der so herabgesetzte Nachweis einer hinreichenden Aufklärung nicht, ist die Rechtsprechung des Bundesgerichts seit Jahrzehnten sehr wohlwollend und gewährt dem Arzt den Einwand der mutmasslichen Einwilligung, wenn ein «vernünftiger» Patient bei objektiver Beurteilung zugestimmt hätte, wäre er vorgängig hinreichend aufgeklärt worden. Auch im Berichtszeitraum setzte das Bundesgericht etliche solche Rettungsanker in den Urteilsbegründungen, obwohl betont wird, die Einwilligung sei höchstpersönlich. Die hypothetische Einwilligung wird deshalb seltener verneint16 als bejaht.17
Sowohl die Relativierung der Anforderungen an eine hinreichende (persönliche) Aufklärung als auch die grosszügige Gewährung der Einrede der hypothetischen Einwilligung sind zu kritisieren. Die Heilung der unterbliebenen Aufklärung wird vom Bundesgericht nur dann verweigert, wenn der Patient einen echten Entscheidungskonflikt glaubhaft machen kann.18 Andererseits sei zu beachten, dass die Perspektive des Patienten ex post – nachdem sich die Risiken des Eingriffs tatsächlich verwirklicht haben – regelmässig eine andere sei als die Abwägung ex ante, wenn die durch den Eingriff zu beseitigenden Beschwerden im Vordergrund stünden.19
Es trifft sicherlich zu, dass der Patient die vollumfängliche Beweislast trägt. Gleichwohl stellt sich im Zusammenhang mit der Aufklärungshaftung die berechtigte Frage, ob es gerechtfertigt ist, die Berufspflicht des Arztes hinsichtlich der Wahrung der Patientenautonomie zunehmend zu relativieren. Es ist nicht nur die Aufgabe des Arztes, die Autonomie seiner (unvernünftigen) Patienten zu wahren, sondern er befindet sich auch in einer stärkeren Position. Einerseits verfügt er über das Fachwissen, andererseits erzielt der Arzt ein nicht unerhebliches Einkommen und führt eine medizinische Behandlung im Zweifelsfall durch.
3. Autonomie- und Informationshaftung
3.1 Allgemeines
Die auch vom Bundesgericht regelmässig betonte Aufgabe, die Patientenautonomie zu wahren, wirft in einer zunehmenden Zahl von Fällen die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen die medizinischen Fachpersonen für andere Autonomie- oder Informationsdefizite des Patienten haftungsrechtlich verantwortlich sind. Von zentraler Bedeutung – auch im Berichtszeitraum – sind in diesem Zusammenhang die wirtschaftliche Aufklärung und die Anforderungen an die Dokumentationspflicht.
Ein Nebenschauplatz – wenn auch für betroffene Patienten von existenzieller Bedeutung – ist die Frage, wann medizinische Zwangsmassnahmen zulässig sind. Im Berichtszeitraum musste das Bundesgericht gewissermassen als Vorfrage für ein späteres Staatshaftungsverfahren die Zulässigkeit von medizinischen Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie20 sowie einer Zwangsernährung, die mitunter eine Fixierung der Patientin voraussetzte, beurteilen – und bejahte die Zulässigkeit.21
3.2 Aufklärung über die Behandlungskosten
Das Bundesgericht hat bereits vor einiger Zeit festgestellt, dass die medizinischen Fachpersonen Patienten darüber zu informieren haben, ob die absehbaren Kosten der beabsichtigten Behandlung durch einen Versicherungsträger, insbesondere im Rahmen der obligatorischen Heilungskostenversicherung, gedeckt sind. Das bundesgerichtliche Präjudiz betraf die obligatorische Heilungskostenversicherung und führt zur Folgefrage, ob und inwieweit auch in Bezug auf Zusatzversicherungen eine Informationspflicht besteht.
Mit Urteil 4D_1/2023 hat das Bundesgericht eine Pflicht zur Aufklärung über die Kostenübernahme auch bei der freiwilligen Spitalzusatzversicherung bejaht. Die Bundesrichter betonten zudem, dass aus einer allgemeinen Äusserung des Patienten («Geld spiele keine Rolle») nicht auf einen Verzicht der Kostenaufklärung geschlossen werden könne.22
Eine ungenügende wirtschaftliche Aufklärung führt nicht zur Widerrechtlichkeit des medizinischen Eingriffs, wie das bei der Verhaltens- und Aufklärungshaftung der Fall ist. Die säumige Fachperson hat bei einer ungenügenden Aufklärung über die Kostenträger lediglich die ungedeckten Kosten zu übernehmen. Der Patient seinerseits ist wie in den Fällen einer Verhaltens- und Aufklärungshaftung auch bei der Autonomiehaftung berechtigt, seinen Haftungs- und Rückerstattungsanspruch mit dem Honoraranspruch zu verrechnen, wie das Bundesgericht im Entscheid 4D_1/2023 bestätigt hat.23
3.3 Mangelhafte Dokumentation
Von zunehmender Bedeutung ist die medizinische Dokumentationspflicht. Der Patient wird einerseits durch die datenschutzrechtlichen Vorschriften mit Bezug auf seine Personendaten geschützt, wobei Gesundheitsdaten besonders schützenswerte Personendaten darstellen. Andererseits schützt die Bundesverfassung die informationelle Selbstbestimmung auch von Patienten. Die medizinischen Fachpersonen sind – regelmässig auch durch kantonales Gesundheitspolizeirecht – verpflichtet, ihre berufliche Tätigkeit hinreichend zu dokumentieren und dem Patienten auf Antrag hin seine medizinische Dokumentation, mithin die Krankengeschichte, zur Verfügung zu stellen.
Die Crux der medizinischen Dokumentationspflicht besteht unter anderem darin, dass es der Gesetzgeber bis anhin unterlassen hat, konkrete Vorgaben zu machen, wie die Dokumentation zu erfolgen hat. Es erstaunt deshalb nicht, dass gerichtlich beurteilte Arzthaftungsfälle zunehmend Erwägungen enthalten, die sich mit dem Vorwurf einer mangelhaften Dokumentation auseinandersetzen. Auch die Frage, wie umfangreich die Dokumentation zu sein hat, erfordert die richterliche Aufmerksamkeit; zudem auch die Feststellung, zu welchem Zeitpunkt die medizinische Fachperson die Dokumente verfasst hat.
Ausgangspunkt der Irritation war der Grundsatzentscheid BGE 141 III 363, in welchem das Bundesgericht erwog, dass übliche Vorgänge nicht zu dokumentieren seien. Es ist an dieser Stelle nicht Kritik an diesem älteren Entscheid zu üben, sondern nur darauf hinzuweisen, dass die damit aufgeworfenen Fragen – die Dokumentationspflicht besteht nicht nur gegenüber dem Patienten, sondern auch gegenüber dem Staat, insbesondere Sozialversicherungen – auch im Berichtszeitraum nicht geklärt worden sind. Ob die Feststellung des Bundesgerichts, die Dokumentation habe so detailliert zu sein, damit ein Experte die Fehlerfrage beantworten könne, eine Präzisierung oder eine Abkehr des vorerwähnten Präjudizes ist, sei dahingestellt.24
Immerhin musste das Bundesgericht in Urteil 4A_196/2021 entscheiden, ob eine echtzeitliche Dokumentation zwingend ist respektive ob der Arzt nachträglich unzutreffende Eintragung in der Krankengeschichte vornahm.25 Entscheidend sei in solchen Fällen die Einschätzung der Glaubwürdigkeit. Entweder änderte die medizinische Fachperson die neu eingereichte Krankengeschichte nachträglich ab respektive erstellte sie komplett neu und gibt dies nicht zu. Oder die neu eingereichte Krankengeschichte ist echt und die Abänderung entspricht somit dem echtzeitlich erfolgten Eintrag in der Krankengeschichte.26
Da sich das Bundesgericht auf eine Willkürprüfung beschränkt, werden regelmässig vorinstanzliche Feststellungen, eine unklare Krankengeschichte genüge zum Beweis der umstrittenen Aufklärung, nicht beanstandet. Das Bundesgericht verkneift sich trotz der selbst auferlegten Überprüfungseinschränkung gelegentlich aber nicht den Hinweis, dass es besser gewesen wäre, wenn die Notizen der Ärztin ausdrücklich darauf hingewiesen hätten, dass die Frage der Risiken des Medikaments im Zusammenhang mit einer möglichen Schwangerschaft mit der Patientin besprochen wurde.27 Mangel- und lückenhafte Krankengeschichten werden so vom Bundesgericht nicht beanstandet oder als Beweis ausgeschlossen, selbst wenn Experten die Fehlerhaftigkeit derselben bejahen.28
Der Patient ist somit, wenn er den Vorwurf einer mangelhaften medizinischen Dokumentation erhebt, vor erhebliche Beweisprobleme gestellt. Selbst wenn ihm der Nachweis gelingt, dass der umstrittene Eingriff nicht sorgfältig genug und nicht zum richtigen Zeitpunkt dokumentiert worden ist, hat dies nicht automatisch eine Haftung für den erlittenen Schaden zur Folge. Die Rechtsprechung gewährt zwar bei einer ungenügenden Dokumentation Beweiserleichterungen, hat aber noch keine gefestigte Praxis entwickelt, in welchen Fällen der geschädigte Patient als Folge einer ungenügenden Dokumentation einen Haftungsanspruch für den erlittenen Behandlungsschaden geltend machen kann.
Meines Erachtens wäre eine strengere und zudem klare Praxis vonnöten.
Nicht nur in den Fällen einer eigentlichen Beweisvereitelung, wenn etwa Operationsvideos oder andere belastende Unterlagen vernichtet werden oder unauffindbar sind,29 sollte der pflichtwidrig handelnde Arzt im Interesse der Patientenautonomie mit einer haftungsbegründenden Beweislastumkehr statt bloss mit einer Herabsetzung des Beweismasses konfrontiert werden.30
4. Beweisfragen
4.1 Beweiserleichterungen
Das Stichwort der Beweiserleichterung ist nicht nur im Zusammenhang mit der Dokumentationspflicht gesetzt, sondern betrifft das Arzthaftpflichtrecht in besonderer Weise. Anders als im deutschen Recht, das eine gesetzliche Regelung zu den Beweiserleichterungen enthält,31 besteht in der schweizerischen Rechtsprechung kein klares Konzept, in welchen Situationen geschädigten Patienten Beweiserleichterungen gewährt werden und wie diese Beweiserleichterungen ausgestaltet sind. Die Frage der Beweiserleichterung stellt sich gewiss erst dann, wenn der geschädigte Patient die Haftungsvoraussetzungen hinreichend substanziiert hat.
Das Bundesgericht beschied im Berichtszeitraum beispielsweise einer Patientin, das vorgelegte Privatgutachten stelle lediglich eine Behauptung, nicht aber ein Beweismittel dar. Die Haftung scheiterte zudem daran, dass die Patientin und ihr Rechtsvertreter im vorinstanzlichen Verfahren keinen Antrag stellten, eine gerichtliche Expertise einzuholen. Die Meinung der Patientin, dass die Zustimmung der Gegenpartei zum Privatgutachten aus diesem ein Schiedsgutachten mache, erwies sich als ein Trugschluss.32
So ist nach wie vor unklar, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verursachung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Rahmen der medizinischen Tätigkeit eine Haftungsvermutung (Beweislastumkehr) begründet. Dem Bundesgericht fehlte in Urteil 4A_255/2021 der Mut, eine derartige Haftungsvermutung anzunehmen. Es verneinte deshalb eine Haftung für die Hirnschädigung, verursacht durch einen beidseitigen Pneumothorax (Kollaps beider Lungenflügel) nach Vornahme einer Bronchoskopie.33 Eine Haftung ist gemäss dem Entscheid 4A_295/2022 ohnehin ausgeschlossen, wenn lediglich die Heilungschancen verringert werden oder diese gering sind.34
Ebenfalls mäandernd ist die Praxis zu den Beweiserleichterungen, die von einer Herabsetzung der Substanziierungspflicht oder des Beweisgrades bis hin zur eigentlichen Beweislastumkehr reichen. Da im Rahmen der vertraglichen Verschuldenshaftung ein Verschulden (persönliche Vorwerfbarkeit der Nichteinhaltung des medizinischen Standards) vermutet wird, besteht aufgrund der grundsätzlichen Identität des Haftungstatbestandes zudem die Frage, ob die vertragliche Beweislastumkehr im Geltungsbereich der Deliktshaftung anwendbar ist.
4.2 Beweiswürdigung
Die vom geschädigten Patienten zu überwindende Beweisproblematik wird zusätzlich durch den Umstand erschwert, dass die richterliche Beweiswürdigung in den jeweiligen Urteilen facettenreich ist. In Urteil 4A_295/2022 setzten sich die Bundesrichter etwa mit den unterschiedlichen Expertenmeinungen auseinander und mussten entscheiden – obwohl selber nicht im Besitz des medizinischen Fachwissens –, welche der beigezogenen Experten eine überzeugendere Beurteilung abgegeben hatten und unter welchen Voraussetzungen medizinische Studien und Leitlinien, etwa der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), aussagekräftig genug sind.35
Beim Durchlesen des einen oder anderen Entscheides fühlt sich der Leser an die sprichwörtliche Weisheit erinnert, dass ein Gerichtsverfahren an eine Seefahrt mit einem unbekannten, hoffentlich für stürmischeren Seegang nicht unfähigen Kapitän erinnert. Sorgen um die Fähigkeiten des Kapitäns weckt in den bundesgerichtlichen Haftungsfällen nicht zuletzt der Umstand, dass sich die Bundesrichter aus Respekt vor ihren kantonalen Kollegen darauf beschränken, lediglich eine Willkürprüfung vorzunehmen. Es sei zudem nicht Aufgabe des Bundesgerichts, sich erstmals mit konkreten Kritikpunkten auseinanderzusetzen, die eine Verwertbarkeit eines Gutachtens in Zweifel ziehen.36
Da die medizinische Wissenschaft keine exakte ist, hat diese Überprüfungseinschränkung des höchsten Gerichts zur Folge, dass in der Regel keine Überprüfung erfolgt. Es stellt sich die Frage, ob die verfassungsmässige Rechtsweggarantie nicht ihren Sinn verliert, wenn sich die letzte Instanz in vornehmer Zurückhaltung übt. Gerade bei Fällen, in denen die gutachterlichen Meinungen unterschiedlich ausfallen, sollte das höchste Gericht eine umfassende Überprüfung vornehmen und einheitliche Grundsätze aufstellen, wie die Fehlerbegutachtung zu erfolgen hat und wie deren Qualität zu beurteilen ist.
4.3 Kausalität
Die Beweiswürdigung betrifft nicht nur die Richtigkeit der Expertenmeinungen, sondern oft auch die Kausalität. In medizinischen Haftpflichtfällen stellen sich grundsätzlich zwei Kausalitätskonstellationen: Entweder hat das Gericht zu entscheiden, ob das tatsächliche Verhalten der pflichtwidrig handelnden Person die natürlich und adäquat eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit zusammenhängenden funktionellen Einschränkungen rechtserheblich verursacht hat.
Oder das Gericht ist in den Fällen einer pflichtwidrigen Unterlassung angehalten, zu beurteilen, ob das gebotene Handeln die eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit zusammenhängenden funktionellen Einschränkungen hypothetisch verhindert hätte.37
Der natürliche Kausalzusammenhang wird bejaht, wenn das pflichtwidrige Verhalten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit zusammenhängende funktionelle Einschränkung herbeigeführt hat. Da die medizinische Wissenschaft keine exakte ist und diverse Variationen bestehen, scheitert der Kausalitätsnachweis häufig.38
Überwiegende Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass aus objektiver Sicht wichtige Gründe für die Richtigkeit einer Behauptung sprechen, ohne dass andere Möglichkeiten von erheblicher Bedeutung sind oder vernünftigerweise in Betracht gezogen werden. Ist den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen zu entnehmen, dass zwar keine absolute Gewissheit, wohl aber eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bestand, dass der Hüftkopf bei unverzüglicher Operation nicht nekrotisch geworden wäre, ist die Bejahung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht zu beanstanden.39
Die Aussage des Gutachters, dass die Wahrscheinlichkeit einer Besserung mit einer zeitgerechten Versorgung deutlich höher gewesen wäre, ist demgegenüber nicht dahingehend zu verstehen, dass eine Genesung (keine bleibende Lähmung des Fusshebers) bei einer Operation innerhalb von 48 Stunden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre. Eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Besserung lässt die Möglichkeit einer ausbleibenden Genesung gerade nicht vernünftigerweise ausser Betracht fallen.40
Nach der allgemeinen Adäquanzformel ist das pflichtwidrige Verhalten der betroffenen Fachperson zurechenbar, wenn das natürlich kausale Verhalten nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen des Lebens an sich geeignet war, den Patientenschaden herbeizuführen. In Urteil 4A_65/2019 hat das Bundesgericht präzisierend festgestellt, dass auch ein verwirklichtes Schädigungsrisiko von lediglich ein bis zwei Prozent noch als adäquat kausal zu qualifizieren ist. Die Angemessenheit einer Ursache setzt jedoch nicht voraus, dass die betreffende Wirkung allgemein auftritt oder sogar üblich ist. Es genügt, wenn sie innerhalb des vernünftigen Bereichs der objektiv vorhersehbaren Möglichkeiten liegt.41
5. Einführung einer Gefährdungshaftung
Und so schliesst sich der Kreis, und die vorerwähnten Entscheide des Berichtzeitraums regen dazu an, das derzeitige Arzthaftungsrecht und die zunehmend feststellbare Tendenz zur Erschwerung einer Überwälzung der Patientenschäden auf die medizinische Milliardenindustrie kritisch zu hinterfragen – auch wenn das Bundesgericht den Vorwurf einer patientenfeindlichen Praxis nicht gelten lässt.42
Es wäre im Interesse der Sicherheit der auch von organisatorischen Strukturen zunehmend geschädigten Patienten43 längst angezeigt, das tradierte römischrechtliche Medizinalhaftungsrecht mit einer Gefährdungshaftung zu modernisieren, wie sie bereits für die Humanforschung gilt. Dafür sprechen auch die stetig aufgrund von unnötigen medizinischen Eingriffen steigenden Gesundheitskosten und die Asymmetrie zwischen Arzt und Patient.
Die Diskussion um die Einführung einer Gefährdungshaftung für medizinische Sach- und Dienstleistungen wurde in der Schweiz im Zusammenhang mit der Revision des Haftpflichtrechts geführt. Widmer/Wessner schlugen zwar eine allgemeine Gefährdungshaftungsnorm vor, vertraten aber die Ansicht, dass die Arzttätigkeit keine genuin «besonders gefährliche» Tätigkeit sei.44
Diesbezüglich darf sicherlich gefragt werden, warum Halter von Motorfahrzeugen und Jäger einer Gefährdungshaftung unterliegen, während medizinische Fachpersonen, die in vielfältiger Weise ebenfalls gefahrgeneigt tätig sind, noch das römischrechtliche Privileg der Verschuldenshaftung – ohne weitergehende Beweiserleichterungen – geniessen.
De lege ferenda wäre es angezeigt, für Schäden, die durch medizinische Dienstleistungen verursacht werden, eine einheitliche Gefährdungshaftung einzuführen.
Insbesondere für vermeidbare unerwünschte Ereignisse und die sogenannten «Never Events» wäre ein verschuldenunabhängiges Entschädigungssystem angezeigt. Die Politik lehnt (vorderhand) die Einführung einer Gefährdungshaftung in Bezug auf medizinische Massnahmen ab. Den Nachteilen, die sich aufgrund des geltenden Haftpflichtrechts im Medizinalbereich ergeben, soll primär durch spezifische, aber mit dem allgemeinen Haftungssystem konformen Massnahmen begegnet werden. Von der Einführung eines umfassenden verschuldenunabhängigen Entschädigungssystems soll zurzeit abgesehen werden. Hingegen soll ein subsidiäres Entschädigungssystem für spezifische, nicht fehlerbedingte Schäden aus medizinischen Behandlungen vertieft geprüft werden.45
Bis es so weit sein wird, bleibt als Trost der Hinweis auf Urteil 4A_605/2019. Darin wurde der fallführende Anwalt zu Schadenersatz verpflichtet, weil er pflichtwidrig die Informationen, welche aus juristischer Sicht für die Beurteilung der Kausalität massgebend sind, nicht angewandt und damit zum Scheitern des Haftungsanspruches gegenüber dem Arzt beigetragen hat. Im fraglichen Entscheid hält das Bundesgericht zudem fest, dass bereits ein «Teilerfolg» – also eine Teilkausalität – ausgereicht hätte, um den Arzt haftungsrechtlich verantwortlich zu machen.46
Fussnoten siehe angehängtes PDF.