1. Ausgangslage
1.1 Bundesgerichtspraxis
Das Bundesgericht hätte es bereits heute in der Hand, mit einer vernünftigen – und EMRK-konformen – Auslegung der heutigen Verjährungsregeln dafür zu sorgen, dass Forderungen nicht verjähren können, die (mangels Erkrankung) noch gar nicht entstanden sind (1). Die stossende heutige Rechtspraxis in Sachen gesundheitliche Spätschäden war vom Gesetzgeber des OR vor über hundert Jahren jedenfalls nicht so gewollt (2).
Auch bei Erkrankungen mit sehr langer Latenzzeit nimmt das Bundesgericht an, dass die Ansprüche von Asbesterkrankten verjährt sind, bevor sie sich überhaupt manifestiert haben. Haben die Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche eine vertragliche Basis (beispielsweise Ansprüche des Arbeitnehmenden gegen Arbeitgeber), richtet sich dabei die Frist nach Art. 127 OR i.V.m. Art. 328 OR (Fürsorgepflicht des Arbeitgebers).
Im ausservertraglichen Bereich unterliegen Personenschäden der Verjährungsregelung von Art. 60 OR. In jedem Fall verjähren jedoch die Ansprüche nach höchstens 10 Jahren, es sei denn, es kommt eine längere Verjährungsfrist aus dem Strafrecht (Art. 60 Abs. 2) zur Anwendung, die Verjährung wird unterbrochen (Art. 135 ff. OR) oder steht still (Art. 134 OR). Problematisch ist nicht diese 10-jährige Frist per se, sondern die Praxis des Bundesgerichts zur Frage, ab wann die Frist läuft («dies a quo»): Das Bundesgericht nimmt an, dass bei Personenschäden die Forderung mit der Pflichtverletzung fällig wird.3 Da der «dies a quo» für den Fristenlauf ab schädigendem Ereignis (Asbestexposition) berechnet wird, ergibt sich im Resultat, dass die Ansprüche bei vielen Asbesterkrankungen (beim Mesotheliom immer) regelmässig bereits verjährt sind, bevor sie überhaupt entstehen: ein schreiendes Unrecht.
Diese Praxis ist umso stossender, als sie nicht nur ungerecht, sondern unseres Erachtens auch juristisch inkorrekt ist: Das Schweizer Recht de lege lata würde nämlich eine EMRK-konforme Handhabung der Verjährung erlauben. Denn Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 OR legt fest, dass die Verjährung stillsteht, wenn eine Forderung nicht objektiv geltend gemacht werden kann – was logischerweise der Fall ist, wenn die Forderung, wie beim noch nicht existierenden Körperschaden wegen einer Asbestexposition, aufgrund der langen Latenzphase noch gar nicht existiert. Der Schaden kann von einem Gericht auch nicht nach Art. 46 Abs. 2 OR Abs. geschätzt werden; denn die Gesundheitsbeeinträchtigung kann eben nicht objektiv festgestellt werden bis zum Ablauf der Latenzphase (4).
1.2 Abdeckung nach UVG
In der Schweiz ist die Abdeckung von Asbestschäden als Berufskrankheit auch und gerade im internationalen Vergleich sehr gut. Die Tabelle rechts zeigt einen Überblick über ausgewählte wichtige Leistungen bei asbestbedingten Krankheiten, die auf berufliche Expositionen zurückzuführen sind. Für UVG-Versicherte ist also die Lage nicht allzu schlecht. Was für diese Kategorie von Personen ein Problem darstellt, ist die Tatsache, dass das Bundesgericht wegen seiner Praxis bei Verjährungsfragen keine Genugtuungs-Ansprüche überprüfen lässt. Anders sieht die Situation für die Kategorie von Geschädigten aus, die nicht unter das UVG fallen, sondern lediglich unter das KVG und die AHV/IV. Für diese Personen ist eine Revision angezeigt.
2. Gesetzesrevision
Der Bundesrat schlägt in seiner Reform des Verjährungsrechts vor, das OR insofern zu ändern, als die Verjährungsfristen im Haftpflichtrecht harmonisiert und verlängert werden sollten. Der Bundesrat führt als einen der Hauptgründe für die Reform an, er wolle auch für Spätschäden Schadenersatzansprüche ermöglichen (der Bundesrat schliesst sich also an die unseres Erachtens inkorrekte Interpretation von Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 und Art. 46 OR durch das Bundesgericht an) (5).
Im Kern geht es darum, dass die Verjährungsfristen von 10 auf 30 Jahre verlängert werden sollten. Wir haben oben erwähnt, dass dies natürlich für die asbestbedingten Personenschäden, insbesondere für Mesotheliome, keine Lösung darstellt (Latenzphasen von 50 Jahren und mehr). Dabei soll immer noch zwischen subjektiven und objektiven Fristen unterschieden werden (6).
Innerhalb einer Reformlogik wäre unseres Erachtens ein anderer, kohärenterer Ansatz für Schädigungen mit langer Latenzzeit die Abschaffung der absoluten Verjährungsfrist und die Einführung einzig einer (relativ kurzen) subjektiven Frist.
Damit würde eine Verjährungsfrist, zum Beispiel von drei oder fünf Jahren, erst ab dem Moment beginnen, in dem sich die Krankheit bemerkbar macht. In der Rechtskommission wurden entsprechende Anträge eingereicht. Eine solche Lösung bei Ansprüchen aus Körperschäden würde es auch ermöglichen, das Schweizer Recht flexibel auf «Emerging Risks» wie beispielsweise die Exposition mit Nano-Objekten, einzustellen: Heute ist noch weitgehend unklar, welche Wirkung solche Nano-Objekte auf die exponierten Angestellten langfristig haben werden.7
Die Einführung einer subjektiven Frist würde konkret bedeuten, dass der Schweizer Gesetzgeber je nach wissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnis laufend die Verjährungsfrist in Bezug auf die absoluten Fristen bei Körperschäden anpassen müsste, um à jour zu bleiben. Eine Lösung, die bei den subjektiv bestimmten Fristen ansetzt, würde hingegen eine einzelfallgerechte, individuelle Regelung je nach konkreter Erkrankung ermöglichen und keine Ungerechtigkeiten schaffen. Dies würde auch Best Practices aus dem Ausland entsprechen (8).
Unseres Erachtens bietet die Abschaffung der absoluten Verjährungsfristen bei der gleichzeitigen Einführung einer kurzen subjektiven Frist ab Kenntnis des Personenschadens den besten Schutz für die betroffenen Personen.
3. Fonds
Weiter stellt der Schweizerische Gewerkschaftsbund die Forderung nach der Schaffung eines Entschädigungsfonds auf. Die ungeklärten Fragen sind im Grunde genommen die beiden folgenden:
• Wer soll in den Genuss eines solchen Fonds kommen?
• Wer soll für die Finanzierung aufkommen?
Während Asbestopfer, deren Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt wird, wie oben beschrieben, über eine gute sozialversicherungsrechtliche Abdeckung seitens UVG verfügen, haben jene Asbestopfer (zum Beispiel Angehörige des Arbeitnehmenden), deren asbestbedingte Erkrankung nicht berufsbedingt ist, einen weit schlechteren sozialen Schutz. Hier greifen nur die Leistungen des KVG, der AHV/IV und allenfalls der beruflichen Vorsorge. Diese Asbestopfer wären zudem auch nach einer allfälligen Revision des Verjährungsrechts immer noch in einer sehr problematischen Situation: Sie könnten neu zwar formell Ansprüche geltend machen, haben aber Probleme, einen Schädiger ausfindig zu machen beziehungsweise Beweise nach vielen Jahrzehnten zu sammeln.
Finanziert werden sollte ein solcher Fonds in erster Linie durch die Wirtschaft, insbesondere von jenen Unternehmen, die Asbestprodukte hergestellt, verkauft und mit dem Rohstoff gehandelt haben, soweit sie noch eruierbar sind. Nur subsidiär, falls nötig, käme eine Finanzierung über die öffentliche Hand in Frage. Es versteht sich von selbst, dass dafür eine gesetzliche Grundlage im formellen Sinn geschaffen werden müsste.
Die Rechtskommission des Nationalrates hat an ihrer Sitzung vom 15. August 2014 eine Motion (14.3664) eingereicht, die einen Entschädigungsfonds für Asbestopfer verlangt, die wegen der langen Latenzzeiten aufgrund der Klageverjährung keine Entschädigung erhalten haben (9). Die in der Kommission vertretenen Parlamentarier regen an, sich an einem Beispiel aus dem Ausland zu orientieren: Das britische Parlament hat kürzlich einen «Mesothelioma Act» verabschiedet (10).
Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist neben der bereits bestehenden guten Abdeckung der Berufskrankheiten ein besserer Schutz für die anderen Asbestopfer (etwa betroffene Angehörige) nötig; aufgrund des tragischen Ausmasses der Asbestkatastrophe und der besonderen Bedeutung der Asbestproblematik für die Schweiz ist das ausserordentliche Mittel eines Fonds gerechtfertigt. Die möglichen Parameter eines solchen Fonds, die in der Tabelle unten dargestellt sind, müssten unseres Erachtens an einem runden Tisch, unter der Leitung des Bundesrates, unter Beteiligung aller betroffenen beziehungsweise interessierten Kreise diskutiert werden.
4. Fazit
Heute noch sterben Menschen in der Schweiz an den Folgen von Asbestexposition. In der Zukunft wird mit weiteren Toten zu rechnen sein. Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Schweiz, Standort eines der grössten ehemaligen Asbestproduzenten, endlich richtig und ganzheitlich auf die Asbestkatastrophe antwortet.
Angesichts der unzulänglichen Praxis des Bundesgerichts muss das Parlament aktiv werden. Der Gesetzgeber hat im Rahmen der laufenden Reform des OR zuerst einmal die heute viel zu rigide Verjährungsfrist von zehn Jahren anzupassen. Denn Asbesterkrankungen brechen oft erst frühestens 40 Jahre nach Exposition mit dem Stoff aus. Der bundesrätliche Vorschlag von 30 Jahren – vom Nationalrat nun auf 20 Jahre verkürzt – ist mit Blick auf die Latenzzeiten bei weitem nicht ausreichend. Richtig wäre es, die Verjährung generell erst ab Ausbruch der Krankheit laufen zu lassen. Eine solche neue Regelung könnte allenfalls auf Asbesterkrankungen beschränkt werden.
Die Politik muss auch menschenwürdige und gerechte Lösungen für bereits erkrankte Asbestopfer finden. Der SGB fordert einen Entschädigungsfonds. Durch Genugtuung oder Schadenersatz schafft ein solcher Fonds Gerechtigkeit auch für bereits verjährte Fälle. Vor allem kämen damit auch asbestbedingte Erkrankte zu ihrem Recht, die nicht unter das UVG fallen. Finanziert werden sollte ein solcher Fonds vor allem durch jene Unternehmen, die Asbestprodukte hergestellt und verkauft haben oder im Asbestrohstoffhandel tätig waren.
Doris Bianchi
Stellvertretende Sekretariatsleiterin Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Bern
Luca Cirigliano
Zentralsekretär Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Bezirksrichter, Bern
(1) Vgl. dazu die fundierte Kritik bei Corinne Widmer Lüchinger, «Die Verjährung bei Asbestschäden», in: ZBJV 150/2014, S. 460 ff.; ferner David Husmann, «Asbest – Ver-jährungsrechtsprechung des Bundesgerichts verstösst gegen Art. 6 EMRK», in: HAVE 2014, S. 149 ff.
(2) Die ausgesprochen langen Latenzphasen bei Asbesterkrankungen stellten 1930 ein wissenschaftliches Novum dar, vgl. für die Latenzphasen Ro-Ting Lin / Ken Takahashi et al., «Ecological association between asbestos-related diseases and historical asbestos consumption: an international analysis», in: The Lancet, Vol. 369/2007, Ausgabe Nr. 9564, S. 844 ff.
(3) So im Fall BGE 137 III 16, insbesondere E. 2.2. ff.
(4) Zu diesem ganzen Abschnitt vgl. mit weiteren Hinweisen Widmer Lüchinger, a.a.O., Fn. 5, S. 476 ff.
(5) Botschaft zur Änderung des Obligationenrechts (Verjährungsrecht) vom 29. November 2013, BBl 2014, 235 ff.
(6) Zur Verjährung statt vieler Ingeborg Schwenzer, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, Bern, 6. Aufl., S. 528 ff.
(7) Vgl. zu den Emerging Risks mit weiteren Hinweisen Luca Cirigliano, «Nano-Materialien als Emerging Risk am Arbeitsplatz», in: Sicherheit & Recht 3/2013, S. 187 ff.
(8) Vgl. für einen guten Überlick: Sénat de la République Française, Note sur les fonds d’indemnisation des victimes de l’amiante, Allemagne – Belgique – Italie – Pays-Bas –Royaume-Uni (Angleterre et Pays de Galles), www.senat.fr/lc/lc226/lc226.pdf (abgerufen am 22.10.2014).
(9) Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates, Motion 14.3664, Fonds zur gerechten Entschädigung von Asbestopfern.
(10) Vgl. zum Mesothelioma Act von 2014 http://services.parliament.uk/bills/2013-14/mesothelioma.html (abgerufen am 22.10.2014).