Felix Ziltener, 70, langjähriger Richter am Bezirksgericht ­Zürich und Ersatzrichter am Obergericht, scheint das Vertrauen in den Rechtsstaat teilweise verloren zu haben. Grund sind seine Erfahrungen in einer anderen Rolle vor Gericht – als Verteidiger ­seines 25-jährigen Stiefsohns. Diesem wurde im Kanton St. Gallen Cannabis-Konsum vorgeworfen. Im Magazin der «NZZ am Sonntag» vom 1. Mai berichtete Ziltener über seine Erfahrungen mit dem Strafverfahren. Er staunte über die rudimentäre polizeiliche ­Befragung, an der nicht einmal abgeklärt wurde, ob der Beschuldigte illegales THC- oder legales CBD-Kraut geraucht habe. Auch darüber, dass er nicht als ­Verteidiger seines Stiefsohns ­zugelassen wurde. Und über «eklatante ­Verletzungen der Verteidigungs- und Parteirechte». Zudem sei die Beweislast im Verfahren umgekehrt worden. So wurde der Beschuldigte etwa erst vor zweiter Instanz für eine Zeitperiode freigesprochen, für die er mittels ­Urinproben seine Unschuld habe nachweisen können. 

Das Bundesgericht wies seine Beschwerde ab. ­Ziltener tröstete sich mit einem Zitat des deutschen Richters und Schrift­stellers Bernhard Schlink: «Mit der Erwartung einer gerechteren Welt ist die Welt noch nicht ­gerechter geworden. Sie ist, wie sie ist.»

René Rall, 62, Geschäftsführer des Schweizerischen Anwalts­verbands, stellt klar, dass sich die Verbandsmitglieder «jeder Beratungstätigkeit» enthalten, welche «die Wirksamkeit der im Zusammenhang mit den Sank­tionen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg ergriffenen Massnahmen beeinträchtigen könnte». Andernfalls würden sie  gegen ihre Berufspflichten verstossen und könnten sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung namentlich wegen Geldwäsche aussetzen. «Das ­Berufsgeheimnis schützt nicht vor strafbaren Handlungen», schrieb er auf der Website des Verbandes. Gemeint war wohl, dass das Anwaltsgeheimnis nicht vor Strafverfolgung schützt. 

Auf Anfrage von plädoyer, ob diese Ausführungen als Ermahnung der Anwaltschaft gedacht waren, verneint Rall. Die Ausführungen seien ein «Statement gegen aussen ­gegen die in den Raum ­gestellte Pauschalbehauptung, dass Anwälte der Geldwäscherei Vorschub leisten würden». Anlass zur Rechtsbelehrung gab ein vom Verband beim Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel ­Niggli eingeholtes Gutachten. Er sollte die Frage klären, ob das Anwaltsgeheimnis der Ukraine-­Verordnung des Bundesrats vorgehe. Nigglis Antwort war eindeutig: Das Anwaltsgeheimnis ist trotz Embargomassnahmen des Bundesrats einzuhalten (siehe Seite 17).

Michael Vollenweider, 32, ­Ersatzrichter am Bezirksgericht Zürich, hatte an einem Freitag im April unerwartet einen Fall von grossem öffentlichem Interesse auf seinem Pult. Christoph ­Berger, Arzt und während der Pandemie als Chef der Eidgenössischen Impfkommission ­bekannt geworden, war wenige Tage zuvor entführt worden. Er beantragte über seinen Anwalt, den Medien des Tamedia-­Verlags zu untersagen, seinen ­Namen im Zusammenhang mit diesem Vorfall zu nennen. Vollenweider erliess wie gewünscht eine superprovisorische Verfügung. Interessant die Begründung: Darin steht nicht nur die Befürchtung, dass die Berichterstattung zu einer «wesentlichen Beeinträchtigung» von Bergers Privatsphäre führen könnte. Der Richter erachtete es auch als glaubhaft, dass durch eine Veröffentlichung «Nach­ahmungstäter motiviert sein könnten, weitere strafbare Handlungen zum Nachteil des Gesuchstellers zu verüben».

Nicht eingegangen wurde in den Erwägungen auf den ­Umstand, dass Bergers Name im Zusammenhang mit dem Fall inzwischen auch anderen Medien bekannt war. Die Wirkung der superprovisorischen Verfügung gegen ­einen einzelnen Verlag hielt sich ­deshalb in Grenzen. Und die Furcht vor Nachahmungstätern hat sich als unbegründet erwiesen.