Am 1. Januar 2011 traten nicht nur die eidgenössischen ZPO und StPO in Kraft, sondern zugleich auch das revidierte Lugano-Übereinkommen (LugÜ).1 Es wurde vor allem deshalb revidiert, um es an seine «Schwester-Verordnung», die EG-Verordnung Nr. 44/2001 (Verordnung des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, kurz EuGVO),2 anzugleichen und damit die Parallelität zwischen den beiden Instrumenten wiederherzustellen. Seit dem letzten Jahr gilt nun also für die Schweiz, was innerhalb der EU bereits seit längerem, nämlich seit Inkrafttreten der EuGVO im März 2002, galt.
Der vorliegende Beitrag stellt einige ausgewählte Neuerungen dar, so etwa die Ausdehnung des räumlichen Geltungsbereichs des Übereinkommens sowie den wesentlich überarbeiteten Vertragsgerichtsstand. Für weitergehende Ausführungen wird auf die Kommentarwerke zum revidierten Lugano-Übereinkommen verwiesen,3 die die Literatur zur EuGVO4 ergänzen.
1. IPRG zurückgedrängt
Der Anwendungsbereich des LugÜ wurde in den vergangenen Jahren massiv erweitert. Der erste Grund dafür liegt auf der Hand: Die wesentlich gewachsene Europäische Union ist neu Vertragspartei, weshalb das Übereinkommen nun für die Schweiz sowie die 27 Staaten der EU sowie Norwegen (in Kraft seit 1. Januar 2010) und Island (in Kraft seit 1. Mai 2011) gilt und somit neu insbesondere auch in Tschechien, der Slowakei, in Slowenien, Ungarn, Malta, Zypern, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien und Rumänien anwendbar ist. Polen ist bereits seit dem Jahr 2000 Vertragsstaat des LugÜ.
Aber auch die Rechtsprechung trug zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des LugÜ bei: So entschied der EuGH im März 2005 in der Angelegenheit Owusu, dass es für die Bestimmung des örtlichen Anwendungsbereichs grundsätzlich nur auf den Wohnsitz beziehungsweise Sitz des Beklagten ankäme, nicht aber auf denjenigen des Klägers.5 Das Schweizerische Bundesgericht hat sich dieser Auffassung schrittweise angeschlossen.6 Dies führt beispielsweise dazu, dass sich auch US-Unternehmen auf die Bestimmungen des LugÜ beziehungsweise der EuGVO berufen können. So kann etwa ein in den USA ansässiger Käufer einen österreichischen Verkäufer basierend auf den Vertragsgerichtsstand von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ in Basel verklagen, wenn die Waren dorthin zu liefern waren.
Dieser bereits unter dem alten Übereinkommen sehr weit gefasste örtliche Anwendungsbereich wurde durch die Revision abermals erweitert. So enthält das revidierte Übereinkommen Bestimmungen für Gerichtsstandsvereinbarungen, selbst wenn keine der Parteien ihren Wohnsitz in einem LugÜ-Staat hat. In solchen Fällen beurteilt sich die Gültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung zwar weiterhin nach nationalem Recht. Allerdings verstärkt das LugÜ die Derogationswirkung solcher Gerichtsstandsklauseln, indem es den Gerichten der derogierten Mitgliedstaaten verbietet, eine Entscheidung zu fällen, solange sich nicht das prorogierte Gericht rechtskräftig für unzuständig erklärt hat (Art. 23 Ziff. 3 LugÜ).
Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs ist teilweise aber auch erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Die in Art. 60 LugÜ neu enthaltene übereinkommensautonome Definition des Sitzes von Gesellschaften führt zum Beispiel dazu, dass nicht nur der satzungsmässige Sitz als Sitz einer juristischen Person gilt, sondern auch diejenigen Orte, an denen sich die «Hauptniederlassung» oder die «Hauptverwaltung» befinden.
Diese alternative Anknüpfung bewirkt nicht nur, dass eine Gesellschaft ohne weiteres einen Sitz in verschiedenen Staaten haben kann (zum Beispiel wenn eine Unternehmung mit statutarischem Sitz in Luxemburg ihre Hauptproduktionsstätten in Belgien hat, aber von der Schweiz aus verwaltet wird). Indirekt führt sie auch zu einer Ausdehnung des örtlichen Anwendungsbereichs. So können etwa Gesellschaften, die ihren statutarischen Sitz ausserhalb eines LugÜ Staates haben (zum Beispiel Gesellschaften auf den British Virgin Islands) als in einem LugÜ-Staat ansässig gelten, wenn sie von diesem Staat aus verwaltet werden.
In Kombination mit den bereits genannten Grundsätzen führt dies zu einer erheblichen Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Übereinkommens.7 Als Beispiel sei hier ein Unternehmen mit statutarischem Sitz in der Türkei genannt. Hat dieses Unternehmen seinen Hauptproduktionsort in Rumänien, hat es dort in Anwendung von Art. 60 LugÜ auch seinen Sitz. Dies erlaubt etwa einem tunesischen Kläger, die Unternehmung dort basierend auf Art. 2 LugÜ einzuklagen, und zwar nicht nur für Ansprüche im Zusammenhang mit den in Rumänien hergestellten Produkten, sondern für sämtliche Ansprüche, denn die auf Art. 2 LugÜ beruhende Zuständigkeit ist umfassend. Dadurch werden die Möglichkeiten eines «forum shopping» wesentlich erweitert.8
Die Zuständigkeiten des IPRG kommen entsprechend bei Zivil- und Handelssachen nur noch ausnahmsweise zur Anwendung. Erfasst sind primär noch jene Fälle, bei denen ein Beklagter mit Sitz ausserhalb des Konventionsgebiets in der Schweiz verklagt wird. Daneben bleibt das IPRG freilich weiterhin relevant für die Bestimmung der Zuständigkeit, wenn das LugÜ bloss die internationale Zuständigkeit festlegt (wie zum Beispiel im wichtigen Fall von Art. 2 LugÜ). Daran hat sich mit der Revision nichts geändert. Trotzdem hat sich auch in dieser Hinsicht in jüngster Zeit einiges getan, denn das IPRG enthält heute im Gegensatz zu früher diverse alternative Gerichtsstände, welche auch gegenüber Beklagten mit Sitz in der Schweiz geltend gemacht werden können. So erlaubt das IPRG seit dem 1. Juli 2008 die Anrufung der Gerichte an Handlungs- und Erfolgsort auch gegenüber Beklagten mit Wohnsitz in der Schweiz für sämtliche ausservertraglichen Ansprüche.9 Personen mit Wohnsitz in der Schweiz können daher auch von ausländischen Klägern innerhalb der Schweiz an einem alternativen Gerichtsstand (zum Beispiel an Handlungs- und Erfolgsort) verklagt werden (vgl. unten zum neuen Gerichtsstand des IPRG für Vertragsstreitigkeiten).
Insgesamt ergibt sich, dass die Bedeutung des IPRG auf diejenigen Bereiche zurückgedrängt wird, die das LugÜ nicht regelt. Somit regelt das IPRG insbesondere noch Streitigkeiten, die nicht als «Zivil- oder Handelssache» qualifizieren (wie die in Art. 1 Ziff. 2 LugÜ genannten Bereiche, zum Beispiel Güter- oder Erbrecht) sind, sowie die Bestimmung des anwendbaren Rechts und der Vollstreckung von aussereuropäischen Urteilen.
2. LugÜ: Neuer Gerichtsstand
Wie unter bisherigem Recht stellt das LugÜ einen alternativen Gerichtsstand für Vertragsstreitigkeiten zur Verfügung (Art. 5 Ziff. 1 LugÜ). Er wurde allerdings wesentlich überarbeitet.
Die bisherige Regel war verschiedentlich als zu kompliziert und als zu verkäuferfreundlich gerügt worden. Unter bisherigem Recht war der alternative Vertragsgerichtsstand nämlich dort gegeben, wo die streitgegenständliche Verpflichtung zu erfüllen war, das heisst jene Verpflichtung, die dem Streit zugrunde lag.10 Wurde bloss der Kaufpreis eingeklagt, kam es entsprechend nur auf den Erfüllungsort des Kaufpreises an. Der Erfüllungsort dieser Verpflichtung bestimmte sich dabei nach der lex causae.11
Weil nun insbesondere das Schweizer Recht (aber auch das Wiener Kaufrecht) Geldschulden zu Bringschulden erklärt,12 führte dies oft dazu, dass der Verkäufer die Kaufpreisforderung an seinem eigenen Wohnsitz geltend machen konnte. Trotz heftiger Kritik an diesem Zustand weigerte sich der EuGH standhaft, von seiner Rechtsprechung abzuweichen. Einer der Kernpunkte des Revisionsübereinkommens war daher, diese Rechtsprechung des EuGH ein für allemal zu überwinden, weshalb der Vertragsgerichtsstand von Art. 5 LugÜ substanziell revidiert wurde.
Konkret wurde Art. 5 Ziff. 1 LugÜ bei der Revision wie in der Tabelle links dargestellt geändert. Während der Einleitungssatz von Art. 5 also abgesehen von redaktionellen Änderungen unverändert übernommen worden ist, hält das Übereinkommen neu eine besondere Bestimmung für Kauf- und Dienstleistungsverträge bereit (lit. b).
Für Kauf- und Dienstleistungsverträge legt lit. b neu übereinkommensautonom fest, wie der Erfüllungsort zu bestimmen ist. Die Bedeutung von lit. b geht aber darüber hinaus: Festgelegt wird damit nämlich nicht nur der Erfüllungsort dieser Verpflichtung. Festgelegt wird vielmehr der Gerichtsstand für sämtliche Streitigkeiten aus Kauf- und Dienstleistungsverträgen, auch wenn dies nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut der Bestimmung hervorgeht.13 Konkret können daher an diesem Gerichtsstand sämtliche Verpflichtungen beziehungsweise Klagen aus dem Vertrag beurteilt werden, das heisst, nicht nur Streitigkeiten über die charakteristische Verpflichtung, sondern insbesondere auch über die Gegenleistung oder andere Leistungen aus dem Vertrag.14
Wichtig ist die Feststellung, dass lit. b nur für Kauf- und Dienstleistungsverträge gilt. Für alle anderen Verträge bleibt es somit beim bisherigen Rechtszustand, das heisst, die oben wiedergegebene Rechtsprechung bleibt insofern weiterhin relevant, denn der Wortlaut von Art. 5 Ziff. 1 aLugÜ wurde unverändert in Art. 5 Ziff. 1 lit. a LugÜ überführt.15 Entsprechend bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen Kauf- und Dienstleistungsverträgen einerseits und «anderen» Verträgen andererseits geworden.
Nach der Rechtsprechung des EuGH sollte man der Versuchung widerstehen, sämtliche Verträge entweder als Kauf- oder Dienstleistungsverträge zu qualifizieren und immer lit. b zu unterstellen.16 Der Verordnungsgeber wollte bloss für die faktisch wichtigsten Verträge, nämlich Kauf- und Dienstleistungsverträgen, besondere Regelungen festlegen. Für komplexere Verhältnisse sollte es demgegenüber bei der Bestimmung von lit. a bleiben.
Sowohl der Begriff des Kaufvertrags als auch derjenige des Dienstleistungsvertrags sind übereinkommensautonom, das heisst ohne Rückgriff auf nationales Recht, auszulegen. Dies kann mitunter zu eher ungewohnten Ergebnissen führen. So hielt etwa der EuGH dafür, dass unentgeltliche Dienstleistungsverträge per se nicht von lit. b erfasst seien17 oder dass «Kaufverträge» über individuell zu fertigende Waren als Dienstleistungsverträge qualifiziert werden können, wenn die Indvidualisierungsleistung in wirtschaftlicher Sicht im Vordergrund stehe und eine Haftung bloss für eine sorgfältige Ausführung der Instruktionen, nicht aber für ein Resultat bestehe.18
Auch die Lehre bringt oftmals überraschende Ergebnisse zutage: So seien «Kaufverträge» über unkörperliche Sachen wie Energie, Forderungen und Immaterialgüterrechte keine «Kaufverträge» im Sinne von lit. b und selbst Kaufverträge über verbriefte Rechte (Wertpapiere) werden nach der herrschenden Lehre nicht als Kaufverträge im Sinne von lit. b qualifiziert.19
Die meisten Schwierigkeiten bei der Anwendung von lit. b ergeben sich allerdings bei der Bestimmung des Erfüllungsorts der charakteristischen Verpflichtung. Klar ist einzig, dass der Erfüllungsort konventionsautonom, das heisst ohne Rückgriff auf das in der Sache anwendbare nationale Recht, zu bestimmen ist.20 Dies hilft freilich nicht wirklich weiter, weil es an klaren konventionsautonomen Vorgaben fehlt. Der Wortlaut von lit. b lässt immerhin erkennen, dass es auf den Ort ankommt, an den die Waren «geliefert» werden, an dem die Dienstleistungen «erbracht» werden. Nicht massgebend ist daher der Ort, an dem diese Handlung bloss vorbereitet wird oder von dem aus die Leistungserbringung gesteuert wird.21 So kann etwa bei einem Lufttransport nicht der Sitz der Fluggesellschaft massgeblich sein, auch wenn die Organisation des Fluges von dort her erfolgt.22
Abgesehen davon fehlt es allerdings an Anhaltspunkten, wie der Ort zu lokalisieren ist, an dem eine konkrete Handlung nach übereinkommensautonomen Massstäben als ausgeführt gilt.23 Dies hatte in der älteren Literatur zum Postulat geführt, dass primär auf den faktischen Erfüllungsort abzustellen sei, was sich insofern auf den Wortlaut der Bestimmung stützen kann, als dort auf den Ort verwiesen wird, an den «nach dem Vertrag geliefert worden» ist beziehungsweise die Dienstleistungen «nach dem Vertrag erbracht worden sind». Allerdings fand die faktische Bestimmung des Erfüllungsorts beim EuGH wenig Gehör.24 Zu Recht. Das Konzept des «Erfüllungsorts» ist stark normativ geprägt und entzieht sich daher in der Regel einer tatsächlichen Bestimmung.
Statt auf den faktischen Erfüllungsort auszuweichen, hebt der EuGH die primäre Bedeutung des vertraglich vereinbarten Erfüllungsorts hervor. Dies deckt sich mit der in lit. b enthaltenen Wendung «sofern nichts anderes vereinbart worden ist» sowie mit dem Verweis darauf, wo die Lieferung beziehungsweise die Dienstleistung «nach dem Vertrag» zu erbringen ist. Ist daher eine effektive Vereinbarung über den Erfüllungsort getroffen worden, hat es damit sein Bewenden. Am vereinbarten Erfüllungsort besteht eine Zuständigkeit.25 Dies gilt allerdings nur, wenn sich der Erfüllungsort ohne Rückgriff auf das in der Sache anwendbare Recht aus der Vereinbarung ergibt.26 Mit anderen Worten genügt nur eine eindeutige Festlegung des Erfüllungsorts im Vertrag, wobei Verweise auf standardisierte Lieferbestimmungen - zum Beispiel EXW (ab Werk) nach den Bestimmungen der Handelsklauseln «Incoterm» der Internationalen Handelskammer - möglich sind.27
Interessant ist, dass die Vereinbarung des Erfüllungsorts dem faktischen Erfüllungsort grundsätzlich vorgehen soll, und zwar auch dann, wenn die Lieferung effektiv erfolgt ist.28 Nur wenn sich der Lieferort ohne Rückgriff auf materielles Recht nicht aus dem Vertrag ergibt, ist auf den faktischen Lieferort abzustellen. Konkret massgeblich ist dabei derjenige Ort, an dem die körperliche Übergabe der Waren an den Käufer erfolgt.29 In diesem Zusammenhang spricht der EuGH teilweise etwas missverständlich vom «endgültigen Bestimmungsort».30 Damit ist allerdings nichts anderes gemeint als eben der Ort, an dem der Käufer oder sein Vertreter Gewahrsam über die Sache erlangt.31
Fraglich ist, inwiefern die soeben genannten Ausführungen auch auf Dienstleistungsverträge übertragbar sind. Obwohl der EuGH nämlich den Gleichlauf bei der Bestimmung des Erfüllungsorts bei Kauf- und Dienstleistungsverträgen hervorhebt,32 scheint die Rechtsprechung zumindest in Nuancen unterschiedlich zu sein. Auch bei Dienstleistungsverträgen sei primär auf den vereinbarten Erfüllungsort für die Dienstleistung abzustellen, wenn sich dieser aus den Bestimmungen des Vertrags selber ohne Rückgriff auf die lex causae ergibt.33
Subsidiär sei derjenige Ort massgeblich, an welchem die Dienstleistung tatsächlich überwiegend erbracht wurde.34 Wenn es nicht möglich sei, diesen Ort zu ermitteln, sei der Erfüllungsort - so der EuGH - «auf eine andere Weise» zu ermitteln.35 Bei einem Handelsvertretervertrag sei dabei auf den Wohnsitz des Erbringers der Dienstleistung abzustellen. «Dieser Ort kann nämlich immer mit Sicherheit ermittelt werden und ist demnach vorhersehbar. Darüber hinaus weist er eine räumliche Nähe zum Rechtsstreit auf, da der Vertreter dort aller Wahrscheinlichkeit nach einen nicht unerheblichen Teil seiner Dienstleistungen erbringen wird.»36
Der EuGH dürfte diese Überlegung nicht nur für Handelsvertreter-Verträge, sondern auch für andere Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen anwenden wollen. Aus dem Urteil des EuGH ergibt sich jedenfalls keine Einschränkung. Gerade deshalb ist es erstaunlich, wie viele Fragen der EuGH bei der befürworteten Anknüpfung offenlässt. So ist es etwa fraglich, ob die Zuständigkeit am Wohnsitz des Erbringers der Dienstleistung wegfällt, wenn dort faktisch bloss ein unerheblicher Teil der Dienstleistung erbracht wird. Das Ausweichen auf den Wohnsitz steht zudem in einem Spannungsverhältnis zur Rechtsprechung des EuGH bei mehreren Lieferorten bei Kaufverträgen, wo der EuGH auf ein Wahlrecht des Klägers befürwortete, wenn sich keine überwiegende Leistungserbringung an einem Ort zeigen lässt.37
Die Probleme bei der Bestimmung des zuständigkeitsrelevanten Erfüllungsortes potenzieren sich, wenn es mehrere Lieferungen beziehungsweise Lieferorte gibt. Nach der Rechtsprechung soll der Vertragsgerichtsstand auch in solchen Fällen zur Verfügung stehen, das heisst, der Kläger ist nicht auf den allgemeinen Gerichtsstand von Art. 2 beschränkt. Dabei sei eine Zuständigkeit grundsätzlich nur am Ort der Hauptlieferung gegeben.38 Nur wenn ein solcher nicht ermittelt werden könne, könne der Kläger zwischen den verschiedenen Lieferorten wählen, und zwar selbst dann, wenn die verschiedenen Lieferorte nicht im gleichen Staat liegen.40 Wie oben dargestellt, ist allerdings fraglich, ob diese Überlegungen auch für Dienstleistungsverträge gelten, beziehungsweise wann in solchen Fällen auf den Wohnsitz des Dienstleistungserbringers zurückgegriffen werden kann beziehungsweise soll.
Diese Ausführungen zeigen, dass auch die Anwendung des revidierten Vertragsgerichtsstands einige Schwierigkeiten birgt und wohl kaum wesentlich einfacher ist als die Anwendung der früheren Bestimmung. Aus praktischer Sicht zeigt die Rechtsprechung immerhin, dass Vereinbarungen über den Erfüllungsort eine herausragende Bedeutung haben. Andererseits ist die Bedeutung des faktischen Erfüllungsortes wohl kleiner, als dies gemeinhin erwartet wurde.
Leider lässt die Rechtsprechung des EuGH bislang relativ wenige klare Linien erkennen, was der Vorhersehbarkeit des Vertragsgerichtsstands in vielen Fällen abträglich ist. Auf jeden Fall sollte man die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Vertragsgerichtsstands nicht unterschätzen.
3. IPGR: Neuer Gerichtsstand
Trotz all dieser Probleme bei der Auslegung und Anwendung des neuen Vertragsgerichtsstands des LugÜ hielt es der schweizerische Gesetzgeber offenbar für angezeigt, auch den Vertragsgerichtsstand im IPRG (Art. 113 IPRG) zu ändern. Auch diese Änderung trat per 1. Januar 2011 in Kraft.
Damit gibt es im autonomen Zuständigkeitsrecht neu auch gegenüber Beklagten mit Wohnsitz in der Schweiz einen Gerichtsstand am Erfüllungsort. Ausserdem stellt auch Art. 113 IPRG neu nicht mehr auf die streitgegenständliche Leistung ab, sondern auf den Erfüllungsort der charakteristischen Leistung.
Daraus folgt, dass kein Verkäufergerichtsstand in der Schweiz mehr besteht, wenn sich der Lieferort der Ware im Ausland befindet. Dies im Gegensatz zur Rechtslage vor dem 1. Januar 2011, wo sich Exporteure für die Geltendmachung des Kaufpreises in der Regel darauf berufen konnten, dass die Kaufpreisforderung in der Schweiz zu erfüllen sei. Durch die Fokussierung auf den Erfüllungsort der charakteristischen Leistung funktioniert dies nicht mehr, es sei denn, der Exporteur habe einen schweizerischen Erfüllungsort für die Warenleistung vereinbart. Wurde keine spezifische Vereinbarung getroffen, fehlt es demgegenüber neu an einem Gerichtsstand in der Schweiz.
Art. 113 IPRG weist sodann diverse Unterschiede gegenüber Art. 5 Ziff. 1 LugÜ auf, obwohl es offenbar Ziel des Gesetzgebers war, die Regelung im IPRG derjenigen im LugÜ anzugleichen. Insbesondere gilt Art. 113 IPRG nicht nur für Kauf- und Dienstleistungsverträge, sondern generell. Dies führt zu schier unlösbaren Fragen, wenn komplexe Verträge zur Diskussion stehen. Schliesslich gilt Art. 113 IPRG auch innerhalb des Wohnsitz-Staates des Beklagten, während Art. 5 LugÜ bloss dann gilt, wenn ein Beklagter ausserhalb seines Wohnsitzstaates eingeklagt wird.
Gesamthaft scheinen die Änderungen von Art. 113 IPRG wenig durchdacht. Als Fazit bleibt, dass die vielen Unsicherheiten im Zusammenhang mit diesem Vertragsgerichtsstand sowohl unter dem LugÜ als auch unter dem IPRG in praktischer Hinsicht jedenfalls klar für den Abschluss einer Gerichtsstandsvereinbarung sprechen.
1 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007, SR 0.275.12.
2 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl vom 16.1.2001, L12/1.
3 Vgl. insbesondere Christian Oetiker / Thomas Weibel (Hrsg.), Basler Kommentar Lugano-Übereinkommen, Basel 2011 (zit. BSK LugÜ-Autor); Anton K. Schnyder (Hrsg.), Kommentar zum Lugano-Übereinkommen zum internationalen Zivilverfahrensrecht, Zürich/St. Gallen 2011 (zit. Dike LugÜ-Autor); Felix Dasser / Paul Oberhammer, Lugano-Übereinkommen (LugÜ), Stämpflis Handkommentar, 2. Aufl., Bern 2011 (zit. SHK LugÜ-Autor).
4 Insbesondere Reinhold Geimer / Rolf A. Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., München 2010 (zit. Geimer / Schütze); Jan Kropholler / Jan von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., Frankfurt a.M. 2011 (zit. Kropholler / von Hein); Thomas Rauscher (Hrsg.), Europäisches Zivilprozessrecht, Band I und Band II, München 2011 (zit. Rauscher-Autor).
5 EuGH, 1.3.2005, C-281/02, Andrew Owusu, Nr. 24 ff.
6 Vgl. BGE 135 III 185, E. 3.3; BGer 7.7.2008, 5A_230/2007, E. 6.1.
7 BSK-Oetiker / Weibel, vor Art. 1 N 132; BSK-Dallafior / Götz Staehelin, Art. 60 N 19.
8 Vgl. etwa Dike-Liatowitsch / Meier, Art. 60 N 4 f.; SHK-Furrer / Glarner, Art. 60 N 11.
9 Art. 129 IPRG und Art. 109 Abs. 2 IPRG (jeweils erster Satz).
10 EuGH, 6.10.1976, 14/76, Ets. A. De Bloos SPRL, Nr. 9/12.
11 EuGH, 6.10.1976, 12/76, Industrie Tessili Italiana Como, Nr. 14 f.
12 Art. 74 OR; Art. 57 WKR.
13 BSK-Hofmann / Kunz, Art. 5 N 175 und Art. 5 N 215 m.H.
14 EuGH, 3.5.2007, C-386/05, Color Drack GmbH, Nr. 26; EuGH, 9.7.2009, C- 204/08, Peter Rehder, Nr. 33; EuGH, 25.2.2010, C-381/08, Car Trim GmbH, Nr. 45; EuGH, 11.3.2010, C-19/09, Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH, Nr. 23; BGH, 22.4.2009, VIII ZR 156/07, Rz 17; BGH, 23.6.2010, VIII ZR 135/08, Rz 19.
15 EuGH, Falco Privatstiftung, 23.4.2009, C-533/07, Nr. 48 ff.
16 Ebd., Nr. 38.
17 Ebd., Nr. 29 [obiter]; a.A. Geimer / Schütze, Art. 5 N 90; BSK-Hofmann / Kunz, Art. 5 N 205.
18 EuGH, 25.2.2010, C-381/08, Car Trim GmbH, Nr. 42.
19 Rauscher-Leible, Art. 5 N 47; Kropholler / von Hein, Art. 5 N 41 und Art. 15 N 17; a.A. etwa BSK-Hofmann / Kunz, Art. 5 N 205 m.H.
20 EuGH, 3.5.2007, C-386/05, Color Drack GmbH, Nr. 24; EuGH, 23.4.2009, C-533/07, Falco Privatstiftung, Nr. 26; EuGH, 9.7.2009, C-204/08, Peter Rehder, Nr. 33; EuGH, 25.2.2010, C-381/08, Car Trim GmbH, Nr. 49; BGer, 26.6.2009, 4A_131/2009, E. 4.3 [obiter]; OGH, 17.2.2005, 6 Ob 148/04i, IPRax 2007, 608, 610.
21 EuGH, 9.7.2009, C-204/08, Peter Rehder, Nr. 39.
22 Ebd., Nr. 39.
23 EuGH, 25.2.2010, C-381/08, Car Trim GmbH, Nr. 51.
24 EuGH, 11.3.2010, C-19/09, Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH, Nr. 40 a.E.
25 EuGH, 25.2.2010, C-381/08, Car Trim GmbH, Nr. 45 f.; EuGH, 11.3.2010, C 19/09, Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH, Nr. 38; BGH, 23.6.2010, VIII ZR 135/08, Rz 14 ff.; OGH, 17.2.2005, 6 Ob 148/04i, IPRax 2007, 608, 610.
26 EuGH, 25.2.2010, C-381/08, Car Trim GmbH, Nr. 55.
27 EuGH, 9.6.2011, C-87/10, Electrosteel Europe SA, Nr. 23 und Nr. 26.
28 EuGH, 11.3.2010, C-19/09, Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH, Nr. 40.
29 EuGH, 25.2.2010, C-381/08, Car Trim GmbH, Nr. 58 ff.
30 Ebd., Nr. 62.
31 Schlussanträge der Generalanwältin Kokkot, 3.3.2011, C-87/10, Electrosteel, Rz 47 ff.
32 EuGH, 11.3.2010, C 19/09,Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH, Nr. 33.
33 Ebd., Nr. 38.
34 Ebd., Nr. 40 a.E.
35 Ebd., Nr. 41.
36 Ebd., Nr. 42.
37 EuGH, 3.5.2007, C-386/ 05, Color Drack GmbH, Nr. 42; EuGH, 9.7.2009, C-204/08, Peter Rehder, Nr. 36 f.
38 EuGH, 3.5.2007, C-386/05, Color Drack GmbH, Nr. 39; EuGH, 9.7.2009, C-204/08, Peter Rehder, Nr. 37 f.; vgl. allerdings für den Spezialfall der im Raum erbrachten Leistung: EuGH, 9.7.2009, C-204/08, Peter Rehder, Nr. 40 ff.
39 EuGH, 3.5.2007, C-386/ 05, Color Drack GmbH, Nr. 42.
40 EuGH, 9.7.2009, C-204/08, Peter Rehder, Nr. 36 f.