«Bald werden wir in der Schweiz alt aussehen»
Massenschäden · Vorenthaltung von Retrozessionen, Gesundheitsprobleme wegen Produktefehlern oder Geothermieunfälle – Beispiele für Streuschäden gibt es viele. An einer Tagung waren sich die Experten einig: Der kollektive Rechtsschutz muss ausgebaut werden.
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Plädoyer 04/2014
30.06.2014
Sibilla Bondolfi
Walter A. Stoffel, Professor an der Universität Freiburg, nahm an der Fachtagung des Europa-Instituts der Universität Zürich vom 17. Juni kein Blatt vor den Mund. Er beklagte, das Problem des lückenhaften kollektiven Rechtsschutzes bestehe bereits seit Jahrzehnten. Nun müsse man endlich handeln: «Bald werden wir in der Schweiz alt aussehen», sagte er mit Blick auf die gesetzgeberische Entwicklung in Europa.
Das sahen die anderen Experten aus...
Walter A. Stoffel, Professor an der Universität Freiburg, nahm an der Fachtagung des Europa-Instituts der Universität Zürich vom 17. Juni kein Blatt vor den Mund. Er beklagte, das Problem des lückenhaften kollektiven Rechtsschutzes bestehe bereits seit Jahrzehnten. Nun müsse man endlich handeln: «Bald werden wir in der Schweiz alt aussehen», sagte er mit Blick auf die gesetzgeberische Entwicklung in Europa.
Das sahen die anderen Experten aus Wissenschaft, Advokatur und Verwaltung an der Tagung ähnlich. Als Problempunkte des geltenden schweizerischen Rechts wurden genannt:
- Mit der heutigen Verbandsklage kann kein Schadenersatz eingefordert werden. Zudem ist sie auf «Verletzungen der Persönlichkeit» beschränkt.
- Das Wettbewerbsrecht lässt keine Konsumentenklagen zu.
- Die hohen Verfahrenskosten bilden ein Klagehemmnis. Das Prozessrisiko lohnt sich für den Kleinkunden nicht.
- Die bestehenden Instrumente der Streitgenossenschaft, der Verbandsklage und der Musterprozesse lohnen sich kaum: Es ist teuer, viele Parteien zu koordinieren.
Die Finanzmarktaufsicht führt Untersuchungen durch, doch die Resultate bleiben unter Verschluss. Die an der Tagung geäusserten Lösungsvorschläge waren teils spektakulär. Philipp Weber vom Bundesamt für Justiz schlug vor, bei Massenschäden auf die Kostenvorschusspflicht zu verzichten. Auch Professor Stoffel plädierte für eine Senkung des Kostenrisikos: «Runter mit den Gerichtskosten und weg mit der Entschädigungspflicht der unterliegenden Partei!» Die Rechtsprechung sei eine Staatsaufgabe und müsse nicht kostendeckend sein.
Unzutreffende Legenden über Sammelklagen
Philipp Weber forderte weiter, dass bei der Verbandsklage die Forderung von Schadenersatz und Gewinnherausgabe zuzulassen sei. Zudem sollte mit der Verbandsklage die Verletzung aller Rechte eingeklagt werden können, nicht nur der Persönlichkeitsrechte. Monika Roth, Advokatin und Professorin an der Hochschule Luzern, schlug einen Ausbau der Aufgaben von Finma und Banken-ombudsman beim Anlegerschutz vor. Die Berichte der Finma sollten publiziert werden.
Eine Lanze für Sammelklagen nach Vorbild der USA brach Stoffel. Es sei auch für den Schädiger von Vorteil, wenn sich die Rechtskraft eines Urteils auf alle von einem Schaden Betroffenen erstrecke: Er könne dann einen Vergleich schliessen und sei die Sache ein für allemal los. Bei allen anderen Lösungen müsse das Unternehmen mit einer Fülle von Klagen rechnen.
US-Gerichte verurteilen Unternehmen nebst dem Schadenersatz zur Zahlung von abschreckend hohen Entschädigungen mit Strafcharakter. Das führt in der Schweiz zu Legendenbildungen über Millionenentschädigungen wegen Bagatellen. Stoffel räumte damit auf: Die Amerikaner würden lediglich den Gesamtschaden in die Entschädigung miteinbeziehen. Ein Drittel der Entschädigung betreffe meist den eigentlichen finanziellen Schaden der Betroffenen, ein weiterer Drittel sei als Zins geschuldet und der letzte Drittel solle die Verfahrenskosten decken. Stoffel kann daran nichts Unrichtiges finden.