Seit Anfang 2020 arbeite ich in Bogotá für die Organisation «UN Women». Ich verbringe die Tage in virtuellen Meetings mit nationalen Institutionen, die zum kolumbianischen «Transitional ­Justice System» gehören und mit dem Friedensabkommen von 2016 ins Leben gerufen wurden. Entsprechend dem Mandat betreuen wir Projekte, die der Umsetzung des vertraglichen niedergeschriebenen Genderfokus dienen. Wir pflegen einen engen Austausch mit nationalen NGOs und feministischen Aktivistinnen.

Das Thema der Vergangenheits­bewältigung nach einem Regimewechsel habe ich mir im Rahmen meiner Masterarbeit ausgesucht. Meine peruanischen Wurzeln helfen mir, mich in der hiesigen Kultur gut zurechtzufinden. Bei der Arbeit ist ein grosses Mass an Freundlichkeit und Geduld gefragt. Ich musste lernen, dass die Erledigung der Dinge manchmal keine Selbstverständ­lichkeit ist und ein sanftes, aber regelmässiges Nachhaken wertvoll sein kann. Entgegen meinem Vorurteil sind die Bogotanos sehr pünktlich und nutzen die Morgenstunden, um sich weiterzubilden, Sport zu treiben oder – zumindest in ­normalen Zeiten – mit dem Fahrrad ins Büro zu fahren. Die Juristinnen der Verwaltungsinstitutionen, mit denen ich zusammenarbeite, sind sehr gut ausgebildet. Oft sind es aber im System verankerte Strukturen und eine komplexe institutionelle Architektur, die Prozesse erlahmen lassen oder gar behindern.

Die Stimmung im ganzen Land ist momentan sehr aufgeheizt. Die Menschen sind der Worte der ­Regierung überdrüssig. Die Kriminalität hat spürbar zugenommen, wöchentlich gibt es Attentate auf Verteidigerinnen und Verteidiger der Menschenrechte. Die Gleich­gültigkeit gegenüber der sozialen Ungleichheit treibt die junge, gut vernetzte Generation auf die Strassen.

Bald kehre ich in die Schweiz zurück, um nach dieser aufregenden Zeit eine neue Herausforderung anzunehmen. Mein Einsatz hat mich beruflich reifen lassen. Mit Blick auf  den Friedensprozess in Kolumbien, der unter der gegenwärtigen Regierung trotz tiefer gesellschaftlicher Spaltung und humanitärer Not ­keine Priorität mehr darstellt und chronisch unterfinanziert ist, weiss ich mehr denn je das schweizerische ­Regierungssystem zu schätzen. 

Laurence Steinemann, 29, hat an der Universität Zürich Recht ­studiert. Dank eines Förderprogramms der Schweiz ist sie seit Februar 2020 bei der UNO-Agency «UN Women» in Kolumbien tätig.