Come on in!», ruft mir eine Pendlerin lachend zu. Ich drücke mich in die zum Platzen volle U-Bahn, im Gedränge wird mir wohlig warm. An der Station «Monroe» angekommen, steige ich über vereiste Treppen ans Tageslicht und finde mich frühmorgens in Downtown Chicago wieder. Das Thermometer zeigt minus 18 Grad Celsius an, ein ­eisiger Wind bläst. Ich ziehe meine Mütze tiefer ins Gesicht und gehe los. Passanten eilen an mir vorbei, ­Busse fahren los, Taxis hupen, ein Obdachloser bittet mich um Münz. Nach zehn Minuten bin ich froh, wenn ich die Rushhour hinter mir lassen und am Kent College of Law ­meinen Sitzplatz in der warmen Bibliothek ­beziehen kann.

Das Kent College ist eine typische Law School inmitten der Hochhäuser von Chicago. Es unterhält mit der Universität Zürich ein Fachabkommen, in ­dessen Rahmen ich als Austauschstudent am LL.M.-Studiengang teilnehme.

Meine Kurse werden in der ­sokratischen Methode gelehrt. Das heisst: Man muss immer auf eine ­spontane Frage gefasst sein. Es gibt viel zu tun: Hausaufgaben sind einzureichen und Vorträge zu ­halten, was für mich sehr ungewohnt ist. Zudem übersteigen die Reading ­Assignments den Lesestoff in ­Zürich – 100 bis 150 Seiten pro Fach und Woche sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel!

Überrascht hat mich, wie stark nicht nur das Recht, sondern auch das Denken der US-Juristen auf Fällen basiert. Ich bin es gewohnt, zuerst eine abstrakte Regel zu ­lernen und sie dann auf Fälle ­anzuwenden. In den USA funktioniert der Lernprozess umgekehrt. Mir wurde auch bewusst, wie stark Juristen aus Civil-Law-Ländern in Kategorien, Ober- und Unter­begriffen sowie Systemen denken. Das Common Law hingegen ­funktioniert weniger systematisch. Auch die Lehrbücher sind nicht so strukturiert geschrieben wie in der Schweiz. Teilweise bestehen sie vor allem aus Auszügen aus Law-Review-Artikeln anderer Autoren, Kommentaren und Anmerkungen.  

Ein Austauschsemester in ­Chicago kann ich wärmstens ­empfehlen. Wer einen Blick über den juristischen Tellerrand hinaus wagt, gewinnt eine neue Perspek­tive auf das Recht. Zudem erweitert eine Auslanderfahrung den persönlichen Horizont. Das ist von unschätz­barem Wert.

Florian Brunner, 24, schliesst nach seinem Austauschsemester am Chicago-Kent College of Law den Masterstudiengang an der Uni­versität Zürich ab und will anschliessend das Anwaltspatent erwerben.