Bücher: Untersuchungshaft - Kritik nimmt zu
Inhalt
Plädoyer 06/2017
20.11.2017
Ingrid Indermaur
Spätestens seit dem Gutachten des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte vom Mai 2015 und dem Tätigkeitsbericht 2015 der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter wird die Kritik an der Untersuchungshaft vermehrt auch in der juristischen Fachwelt der Schweiz rezipiert. Die beiden hier besprochenen Werke setzen sich denn auch intensiv mit den Anordnungsvoraussetzungen und den Auswirkungen des Vollzugs auseinander.
Die Fachgruppe Reform im ...
Spätestens seit dem Gutachten des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte vom Mai 2015 und dem Tätigkeitsbericht 2015 der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter wird die Kritik an der Untersuchungshaft vermehrt auch in der juristischen Fachwelt der Schweiz rezipiert. Die beiden hier besprochenen Werke setzen sich denn auch intensiv mit den Anordnungsvoraussetzungen und den Auswirkungen des Vollzugs auseinander.
Die Fachgruppe Reform im Strafwesen vereinigt in ihrem schmalen Band die Referate der Tagung von 2016. Neun Beiträge – teilweise auf Französisch – diskutieren interdisziplinäre Aspekte aus der Sicht der Verteidigung, der Seelsorge, der Psychiatrie, aber auch aus behördlicher und universitärer Perspektive. Die einzelnen Beiträge geben einen wertvollen Einblick in den Gefängnisalltag und die Problematiken des heutigen U-Haft-Vollzugs. Gefordert wird ein Paradigmawechsel: Der Vollzug darf sich nicht an Minimalstandards wie dem Folterverbot orientieren. Massstab muss das möglichst normale Leben sein.
Auch die drei Strafverteidiger Diego R. Gfeller, Adrian Bigler und Duri Bonin üben Kritik. Das Buch ist mehr als ein Leitfaden. Es hat die Tiefe eines Kommentars. Die einzelnen Haftgründe werden systematisch und wissenschaftlich fundiert erläutert. Einzelne Passagen können dem Praktiker gar als Bausteine für seine eigenen Eingaben dienen. Es werden auch Denkprozesse und mögliche Denkfehler aus der Sicht der Haftrichter diskutiert. Hilfreich sind die Checklisten im Anhang. Dennoch wird der eine oder andere Praktiker verteidigungsstrategische Ausführungen vermissen. Auch einzelne verwandte Themen wie der Wechsel der amtlichen Verteidigung während der U-Haft fehlen. Den Leser erwarten jedoch nebst der guten Lesbarkeit und dem ansprechenden Aufbau einige Leckerbissen: unter anderem ein rasantes Vorwort von Marcel A. Niggli und eine Flaschenpost im übertragenen Sinn, punktuell versehen mit literarischen Zitaten und Aphorismen – etwa aus Albert Camus’ «Die Pest» (1947), einem bedeutenden Roman der französischen Nachkriegszeit, einer Reflexion über den Widerstand.
Diego R. Gfeller, Adrian Bigler und Duri Bonin
Untersuchungshaft.
Ein Leitfaden für die Praxis
Schulthess, Zürich 2017, 350 Seiten, Fr. 128.–
Martino Mona und
Franz Riklin (Hrsg.)
Rechtswidrige Zustände? Untersuchungshaft in der Kritik
Stämpfli, Bern 2017, 92 Seiten, Fr. 46.–